39
Striker stand mitten im Raum, wie paralysiert von der Videosequenz. Der Mann auf dem Monitor war komplett durchgeknallt. Und gefährlich. Der Detective konnte es fast fühlen. Er war so vertieft in das Patienteninterview, dass es ein paar Sekunden brauchte, bis er Felicias leise geflüsterte Warnung aufschnappte.
»Hey, Jacob, Dr. Ostermann kommt … Achtung, er kommt!«
Striker kapierte. Er drückte die Stopp-Taste des DVD-Players, schaltete den Fernseher aus und durchquerte das Zimmer. Kaum war er neben Felicia getreten, schwang die Tür auf, und Dr. Ostermann betrat das Büro.
Er musterte die beiden zunächst skeptisch, dann nickte er. »Detectives. Freut mich, Sie wiederzusehen, auch wenn Ihr Besuch ziemlich unerwartet kommt, das muss ich schon sagen.«
»War uns ein Vergnügen, Doktor«, antwortete Felicia.
Statt sich lange mit albernen Höflichkeitsfloskeln aufzuhalten, kam Striker direkt auf den Punkt. »Es war vereinbart, dass wir in Kontakt bleiben, Herr Dr. Ostermann. Also war mit unserem Besuch zu rechnen, oder? Soweit ich mich entsinne, wollten Sie uns anrufen.«
Dr. Ostermann nickte abwesend. »Ach ja. Ja, stimmt, so war es vereinbart. Dazu bin ich leider noch nicht gekommen, denn es war den ganzen Vormittag hindurch total hektisch.«
Er glitt in sein Büro und schloss die Tür hinter sich. Er trug einen dunkelgrünen Aktenordner unter dem Arm, dessen Rücken mit schwarzem Marker beschriftet war.
Striker konnte das Geschriebene leider nicht entziffern.
Der Mediziner trat an seinen Schreibtisch, öffnete ein Schubfach und warf die Akte hinein. Während er das Fach schloss, drehte er sich zu ihnen um. Dabei fiel sein Blick auf die geöffneten Schranktüren. Er stockte mitten in der Bewegung, starrte wie gebannt auf den Fernseher. Dann durchquerte er wortlos den Raum und ging die DVDs durch. Er nahm die Hülle, auf der »Billy Mercury« stand und öffnete sie. Als er sah, dass die DVD fehlte, nahmen seine Kinnbacken einen ungesunden Rotton an.
»Haben Sie sich das … angesehen?«
Felicia gab keine Antwort.
Striker drängte einen Schritt vor. »Hören Sie endlich auf, meine Fragen mit Gegenfragen zu beantworten, Doktor.«
Dr. Ostermann errötete bis zu seinem schütteren Haaransatz. Seine Augen glitzerten mit einem Mal eisig grün. »Wie bitte, Detective Striker?«
»Sie haben genau gehört, was ich gesagt habe.«
Dr. Ostermann ließ die DVD-Hülle zuschnappen und stellte sie weg. »Ich kann mich nicht entsinnen, dass Sie mir irgendeine Frage gestellt hätten.«
»Ich meinte es im übertragenen Sinne.« Striker trat an den Schreibtisch, der die beiden Männer kaum mehr als eine Armeslänge voneinander trennte. »Ich bin nicht den weiten Weg von Vancouver nach Coquitlam gefahren, um Ihnen einen Höflichkeitsbesuch abzustatten, Doktor. Und ich denke, das ist Ihnen klar. Sie sollten uns heute Morgen anrufen, und das haben Sie nicht getan.«
»Ich hab Ihnen doch schon erklärt, dass es hier heute Vormittag sehr hektisch war. Ich hatte alles Mögliche im Kopf. Musste mich um etliche Patienten kümmern. Und die gehen nun einmal vor.«
»Ich wünschte, ich könnte dasselbe für Mandy Gill sagen«, versetzte Striker, seine Stimme stahlhart.
Dr. Ostermann erstarrte, und eine längere Pause entstand. Ich kann warten, dachte Striker. Er warf Felicia einen eindringlichen Blick zu, um sicherzugehen, dass sie seine Taktik mittrug.
Sollte Ostermann ruhig im eigenen Saft schmoren.
»Der Grund, weshalb ich nicht zurückgerufen habe«, führte der Mediziner schließlich aus, »ist, dass ich meinen Patienten nicht erreichen konnte. Und vorher gebe ich dessen persönliche und vertrauliche Daten natürlich nicht heraus. So einfach ist das.«
Striker nickte. »Das mag ja sein, Doktor. Doch das ficht mich nicht an: Entweder Sie geben mir den Namen dieses Typen, oder ich komme das nächste Mal mit einem Durchsuchungsbeschluss und nehme Ihr Büro komplett auseinander.«
Dr. Ostermann wurde blass. »Auf so was würde sich kein Richter einlassen.«
»Oh, ich denke schon. Und die Medien würden sich wie hungrige Hyänen darauf stürzen: ›Dr. Ostermann, der Psychiater der Armen, weigert sich, das Vancouver Police Department zu unterstützen bei den Ermittlungen in dem möglichen Mordfall an einer armen, psychisch kranken Frau – im Übrigen Patientin im Rahmen des EvenHealth-Programms.‹ Mannomann, ich seh schon die Schlagzeilen vor mir.« Er zwinkerte Felicia heimlich zu. »Wir können natürlich auch die Akten einsehen und fertig.«
Dr. Ostermann wich einen Schritt zurück. »Meine Akten? Mit welcher Begründung?«
»Zwingende Umstände«, sagte Felicia.
Striker nickte. »Korrekt. Sie hatten eine Patientin, die möglicherweise ermordet wurde und nicht Selbstmord beging, wie anfänglich angenommen, und es gibt eine Verbindung zu einem Ihrer anderen Patienten. Ein Mann, der ein extremes Risiko für andere sein kann. Das ist zwingend genug für mich. Verdammt, als Cops ist es unsere vorrangige Aufgabe, Leben zu schützen.«
»Damit kommen Sie bei Gericht niemals durch.«
Striker quittierte dies mit einem müden Achselzucken. »Mag sein. Trotzdem bin ich wild entschlossen, das durchzufighten – nachdem ich mir Ihre Akten und die von EvenHealth vorgeknöpft habe.«
Felicia machte einen Schritt nach vorn. »Kooperieren Sie mit uns, Doktor.«
Dr. Ostermanns Gesicht war inzwischen wachsweiß, er lehnte sich über seinen Schreibtisch. »Ich frage mich, was Ihr Deputy Chief dazu sagen würde? Er und ich, wir kennen uns, wissen Sie. Ich spende seit vielen Jahren große Summen für die PMBA, und das ist kein Geheimnis.«
Striker grinste. »Der Chief würde ausrasten, wenn zu den Medien durchsickern würde, dass wir Ihre Patientenakten filzen.«
Dr. Ostermanns Augen weiteten sich vor Entsetzen, als stellte er sich dieses Horrorszenario bildhaft vor.
Striker, der Felicia einen kurzen Blick zuschoss, registrierte ihre besorgte Miene und ahnte, dass es nachher wieder Zoff mit ihr geben würde. Er fuhr fort: »Also, was machen wir, Doktor? Unterstützen Sie uns oder nicht? Letztendlich sind wir doch alle im selben Team, oder?«
Ostermann ließ die Schultern hängen und schnappte nach Luft. »Im selben Team. Ja. Ja, natürlich.« Er sank in seinen Schreibtischsessel. Öffnete das Schubfach. Zog den grünen Aktenordner von vorhin wieder heraus. Er blätterte fahrig durch die Seiten, dann warf er die Akte auf den Schreibtisch.
»Er heißt Billy Stephen Mercury«, räumte er ein. »Ich bin mir jedoch sicher, dass Sie das inzwischen selbst herausbekommen haben. Er ist seit seiner Rückkehr aus Afghanistan mein Patient.« Seine Augen flogen von dem DVD-Player zu Striker. »Das bleibt doch alles unter uns, oder?«
»Selbstverständlich.«
Er nickte. »Billy war Soldat in Afghanistan und hat an den Folgen der Militäreinsätze schwer zu leiden. Posttraumatisches Stresssyndrom, wie auf der DVD erläutert. Schlafstörungen. Und Medikamentenmissbrauch, um mit den Schmerzen klarzukommen. Wahnvorstellungen. Tendenz zum Psychopathen. Als er hier war, war er zeitweise ein sehr schwieriger Patient.«
»Als er hier war?«, hakte Felicia nach.
»Ja, Sie haben richtig gehört, er wurde nach einer Weile wieder entlassen. Die Medikamente halfen ihm sehr. Billy wurde erfolgreich therapiert und nahm an einem ambulanten Therapieprogramm teil. Eine Weile klappte das sehr gut. Wir hatten ihn natürlich weiter unter Beobachtung. Er musste regelmäßig Termine mit einem unserer Psychologen wahrnehmen. Aber das war hauptsächlich, um die Wirksamkeit der Medikation zu überprüfen und ob er die verschriebenen Medikamente auch wirklich regelmäßig einnahm. Billys Heilungserfolge verdanken sich nicht zuletzt den EvenHealth-Programmen.«
»Welchem im Besonderen?«
»Wir nennen es SILC – Social Independence and Life Coping skills. Das Programm wurde entwickelt, um unseren stabileren Patienten dabei zu helfen, wieder ein weitgehend unabhängiges, selbstbestimmtes Leben führen zu können, und fußt auf drei Säulen: regelmäßige Untersuchungen, Gruppentherapie und Hausbesuche. Bei vielen – den meisten – unserer Patienten schlägt SILC sehr gut an. Aber bei Billy … tja … gab es Rückschläge.«
»Welcher Art?«, wollte Striker wissen.
»In der Hauptsache medikamentenbedingt. Das klingt banal, aber die Medikation war das Einzige, was seine Paranoia kontrollieren konnte. Die Gruppentherapiesitzungen … zielten auf die Depression.«
»Und wo ist Billy jetzt?«
Dr. Ostermann legte die Fingerspitzen aneinander. »Das ist das Problem. Ich kann ihn nicht erreichen. Er sollte sich täglich hier im Büro melden, aber ich muss bedauerlicherweise einräumen, dass er das seit knapp einer Woche nicht mehr getan hat.« Der Psychiater schüttelte betreten den Kopf. »Diese … Unzuverlässigkeit war einer der Gründe, weshalb er aus der Gruppe ausgeschlossen wurde.«
»Aus der Gruppe, aber nicht aus dem Programm?«, forschte Striker.
»Nein, natürlich nicht. Es ist ein Rehabilitationsprogramm und keine Bestrafung.«
»Sie sagten einer der Gründe?«, bemerkte Felicia.
Dr. Ostermann nickte bedachtsam. »Mhm, ja, es gab auch noch andere Gründe.«
»Und die wären?«, drängte Striker.
»Billy hatte gewisse … Obsessionen.«
»Bei was?«
»Fragen Sie besser bei wem«, entgegnete Dr. Ostermann. Er senkte kurz den Blick und schürzte die Lippen. »Billy war besessen von Mandy Gill.«
»Himmel nochmal, und das erzählen Sie uns erst jetzt?«, entrüstete sich Striker.
Dr. Ostermann hob beschwichtigend die Hände. »Er war nie gewalttätig«, beteuerte er. »Ich versichere Ihnen, es waren völlig gewaltfreie Obsessionen. Billy war nie … gewalttätig.«
»Er war Soldat«, betonte Striker. »Gewalt ist ihm zumindest nicht fremd.«
Dr. Ostermann neigte den Kopf. »Billy war zwar beim Militär, aber er war Funker«, erklärte er.
»Funker hin oder her, er wurde wie alle Soldaten auf Gewaltanwendung gedrillt«, erwiderte Striker.
»Hatte er auch bei anderen Patientinnen oder beim Personal Obsessionen?«, erkundigte sich Felicia.
»Äh … ja. Da war noch jemand, ja.«
Striker spürte, wie sein Blutdruck in die Höhe schnellte. »Namen, Doktor. Ich will Namen wissen.«
»Sarah Rose, eine der Patientinnen.«
Der Nachname sagte Striker zwar nichts, aber der Vorname machte ihn stutzig. Sarah? War das nicht einer der Namen auf der langen Liste, die sie im Haus von Larisa gefunden hatten? Er spähte zu Felicia hinüber, und sie nickte; sie hatte ebenfalls die Verbindung erkannt.
»Sarah war die Einzige, die Billy nahestand und sich wirklich für ihn interessierte«, fuhr Dr. Ostermann fort. »Ich vermute, sie war Billys einzige, wirkliche Freundin. Sie kamen sich näher. Zu nah. Eine Liebesbeziehung – und das war strikt gegen die Therapieregeln. Ich war gehalten, die beiden aus der Gruppe zu nehmen. Deshalb hat Sarah die Beziehung beendet.«
Striker mochte seinen Ohren nicht trauen.
»Sie hat die Beziehung beendet?« Er fluchte laut. Das Ende einer Beziehung grenzte für jeden Menschen an ein Trauma, für einen psychisch Kranken musste es die Hölle sein. Er fasste sich wieder und konzentrierte sich auf das Wesentliche.
»Waren Sarah und Mandy Freundinnen?«, fragte er.
Der Mediziner schien von der Frage überrascht. »Ja, ich glaub schon. Was man so Freundin nennt. Sarah war ein ziemlich introvertierter Typ. Fast schon Einzelgängerin. Ich musste sie förmlich zu den Therapiesitzungen drängen. Einmal musste ich sogar meine Sekretärin losschicken, um Sarah zu …«
»Eine Sekunde«, unterbrach Striker. »Sarah Rose ist keine stationäre Patientin?«
»Grundgütiger, nein. Sarahs Depression ist sehr gut therapierbar.«
»Folglich ist sie nicht hier untergebracht? Sie wohnt woanders?«
»Ja, sicher.«
»Geben Sie mir ihre Telefonnummer.«
»Sarah hat kein Telefon, aber ich kann Ihnen ihre Adresse geben.«
»Dann geben Sie mir die und ein Foto der Frau, falls Sie eins haben.«
Dr. Ostermann zog umständlich eine weitere Akte aus seinem Schreibtisch und entnahm ihr die Kopie eines Frauenfotos. Auf einen gelben Post-it-Notizzettel schrieb er die Adresse. »Das ist die aktuelle Information, die wir über Sarah haben.«
Striker steckte Fotokopie und Haftnotiz ein. »Wir sprechen später wieder miteinander«, sagte er. »Wir müssen uns dringend um die Frau kümmern. Ich an Ihrer Stelle würde beten, dass sie okay ist, Doktor.«
Dr. Ostermann biss die Kiefer aufeinander und schwieg.
Striker bedeutete Felicia mit einem Nicken mitzukommen. Die beiden verließen das Büro und liefen durch die langen, tristen Gänge von Riverglen zum Wagen. Sie fuhren mit Vollgas zurück nach Vancouver. Ziel: das Oppenheimer Viertel. Genauer gesagt die brutalen Slums auf der Princess Avenue.
Es wurde höchste Zeit, Sarah Rose einen Besuch abzustatten.