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»Hattest du nicht was von Whistler gesagt?«, bohrte sie weiter.
Striker nickte. »Larisas Text wurde von dort gesendet.«
Er fuhr die Hastings hinunter, zum Stanley Park Causeway und von dort zur Lion’s Gate Bridge. Von North Van führte der Trans-Canada Highway direkt ins Whistler Blackcomb Skiresort.
»Whistler oder Blackcomb?« erkundigte sich Felicia.
»Keine Ahnung, jedenfalls einer von den beiden Orten.«
Felicia sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren. »Weißt du, wie viele Leute sich da jetzt tummeln, Jacob? Himmel, da sind Tausende von Wintersportlern unterwegs.«
»Ich weiß, Feleesh, ich weiß. Aber sie ist dort. Daran besteht überhaupt kein Zweifel. Wir müssen verhindern, dass ihr irgendetwas zustößt. An diesem Punkt haben wir keine Option.«
»Doch. Die Feds. Die haben in dieser Gegend überall Einheiten postiert.«
Striker schoss ihr einen gereizten Blick zu. »Um Himmels willen, bloß nicht. Wenn Felicia sich das nächste Mal von einem Cop verfolgt fühlt, ist alles vorbei. Das darf nicht passieren. Wir machen das im Alleingang.«
Felicia schwieg und schüttelte den Kopf. »Es ist nicht deine Entscheidung, Jacob. Das musst du vorher mit Wagen 10 abklären.«
»Du weißt genau, was Laroche dann sagen wird.«
»Wir müssen ihn einschalten. Er ist der Boss.«
Striker umkrampfte das Lenkrad, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. »Dieses eine Mal nicht, Feleesh.«
»Meinst du nicht, dass …«
Er lenkte an den Straßenrand und rammte die Automatik auf »Parken«. Sein Adrenalinspiegel jagte bedrohlich in die Höhe. »Ich werde nichts machen, was meine Chancen gefährdet, Larisa endlich zu finden. Du hast Recht. Eigentlich müssten wir Wagen 10 informieren, aber weißt du was? Ich mach’s nicht. Weil mir sonnenklar ist, wie Laroche reagieren wird. Er wird alle möglichen Vorschriften und Eventualitäten herunterbeten, und dann passiert das Gleiche wie im Metrotown: Larisa setzt sich ab und bleibt unauffindbar. Vergiss es. Ich hab noch was gutzumachen bei ihr. Verdammt, dafür bin ich bereit, meine Karriere aufs Spiel zu setzen. Wenn du jetzt aussteigst, hast du mein volles Verständnis. Aber ich fahre, kapiert?«
Er griff an ihr vorbei und öffnete ihr die Beifahrertür.
Felicia erwiderte seinen Blick mit einer Mischung aus Verblüffung und Verärgerung. Einen kurzen Moment lang glaubte er, sie würde tatsächlich aussteigen. Dann jedoch griff sie nach der Tür und knallte sie zu. »Fahr los.«
Striker blieb stumm. Er lenkte den Wagen wieder auf den Highway.
Ziel: Das Whistler Blackcomb Skiresort.
Nachdem die Diskussion um Larisa Logan beendet war, kam Felicia endlich dazu, sich in die Akte Gabriel Ostermann einzulesen. Sie öffnete den schmalen Ordner. Striker, der zu ihr spähte, erkannte einen Polizeibericht und ein Addendum vom Jugendamt.
»Ziemlich dürftig, oder?«, bemerkte er.
»Mmh, in diesem Fall ist weniger mehr«, klärte sie ihn auf. »Soll ich loslegen?«
Striker nickte.
Sie zitierte aus dem Bericht.
»Der Vorfall ist zehn Jahre her, kurz nachdem Lexa und Ostermann heirateten.«
»Dann war Gabriel damals erst acht«, überlegte Striker laut.
Felicia nickte. »Deshalb wurde das Jugendamt eingeschaltet und die Datei privatisiert.« Sie blätterte durch die Seiten. »Hier steht, dass ein Notruf bei der Polizei einging, kurz darauf wurden Notarzt und Krankenwagen angefordert. Und dass die Ostermanns am Lost Lake Urlaub machten. Gabriel und sein jüngerer Bruder William spielten im Schnee.«
»William?«, wiederholte Striker.
Felicia nickte bekräftigend. »Offenbar brachte Lexa zwei Kinder mit in die Ehe: Dalia und William. Wie auch immer, Gabriel warf seinem Bruder eine Frisbeescheibe zu, und William schaffte es nicht, sie aufzufangen. Das Wurfspielzeug sauste über seinen Kopf und landete auf dem See.«
»Der im Winter zugefroren war?«
»Ja, korrekt. Folglich landet das Frisbee auf dem Eis. Die Kinder waren von ihren Eltern gewarnt, nicht am See zu spielen, weil der Winter fast vorbei und das Eis zu dünn war. Leider setzten sich die beiden Jungen über das Verbot hinweg. Gabriel, der Ältere und Schwerere, blieb am Ufer stehen. William, jünger und leichter, lief auf das Eis.«
»Und die Eisdecke brach ein«, folgerte Striker.
»Ja. Der Junge ging unter. Das Schlimme ist, er hätte gerettet werden können. Hier steht, dass der Junge sich noch eine ganze Weile am Rand der Eisschicht festhalten konnte. Er rief um Hilfe, rief nach seinem Bruder. Aber Gabriel stand wie erstarrt.«
»Ach du Scheiße.«
»Krampfzustände der Muskulatur«, erklärte sie. »Die Überwachungskamera der Nachbarn hat alles mitgefilmt. Gabriel konnte nicht hinschauen. Demnach wandte er sich von seinem Stiefbruder ab und ließ sich in den Schnee fallen. Presste sich die Fäuste auf die Ohren.«
Striker schüttelte betroffen den Kopf.
»Jede Hilfe kam zu spät. Als Notarzt und Krankenwagen eintrafen, war William bereits tot. Er lag irgendwo ertrunken unter dem Eis. Und Gabriel hatte einen katatonischen Schock. Später schaltete sich das Jugendamt ein.« Felicia überflog den Bericht. »Der zuständige Beamte kritisierte seinerzeit, dass Erich Ostermann sich als Vater zu wenig kümmerte und wie Lexa den Jungen behandelte. Dass sie ihm die Schuld an Williams Tod gab.«
»In Brüssel war Lexa schwanger«, sagte Striker. »Gut möglich, dass William ihr einziger leiblicher Sohn war. Dalia stammt aus ihrer Ehe mit Gerald Jarvis. Dann heiratete sie Erich Ostermann.«
»Eine ganz reizende Familie«, ätzte Felicia. »Patchwork vom Allerfeinsten.«
»Das kannst du laut sagen. Wenn ich mir Lexa als Mutter vorstelle, wird mir ganz anders. Wie kann man so grausam sein und einem Achtjährigen die Schuld am Tod seines jüngeren Bruders geben? Sie muss Gabriel Ostermann das Leben zur Hölle gemacht haben. Da kommt mir ein Gedanke. Wahrscheinlich ist Gabriel gar nicht so paranoid, wie es das psychologische Gutachten ausweist. Er wurde systematisch so programmiert, wie er heute ist.«
»Das war ganz ohne Zweifel Lexa«, konstatierte Felicia. »Die große Preisfrage ist, wusste Gabriels Vater davon?«
»Dr. Ostermann?« Strikers Stirn legte sich nachdenklich in Falten. »Er muss es gewusst haben. Du hast gesehen, wie er den Jungen behandelte – wie irgendein Subjekt, aber nicht wie seinen Sohn. Der Mann hat bewusst die Augen davor verschlossen. Kein Wunder bei seiner Veranlagung. Er war Lexa hörig. Und dann flog die Geschichte auf.«
Er warf einen Blick auf die Akte.
»Wo ist denn das fragliche Video?«, erkundigte er sich.
»Das ist ja das Merkwürdige«, antwortete Felicia. »Der Nachbar schwor Stein und Bein, dass er eins hätte, aber als die Polizei es als Beweisstück anforderte, war es spurlos verschwunden. Als hätte es sich in Luft aufgelöst.«
»Wer’s glaubt, wird selig«, grummelte er. »So was verschwindet nicht ohne Grund. Irgendjemand hat sich das Video bestimmt unter den Nagel gerissen.«