25

Die Nachricht schockierte Striker, und er tippte Larisas Handynummer ein. Niemand meldete sich. Er versuchte es mehrmals und ließ endlos lange klingeln, aber ohne Erfolg. Schließlich bat er über Polizeifunk um die Festnetznummer von Larisa Logan, die er ebenfalls wählte. Auch ohne Erfolg.

»So ein Mist«, knurrte er.

Felicia nickte. »Komm, lass uns hinfahren.«

»Ganz meine Meinung.« Er trat aufs Gas.

Larisa Logan lebte in Burnaby, etwas außerhalb der Innenstadt von Vancouver. Von Strikers und Felicias Standort auf der Granville Street aus dauerte die Fahrt für gewöhnlich zwanzig Minuten.

Striker schaffte es in zehn.

Der kleine Bungalow auf der Nordseite der Parker Street mutete in der winterlichen Dunkelheit einsam und verlassen an. Ein kahler Kirschbaum stand im Vorgarten, seine langen, dünnen Äste ragten wie arthritische Finger in den nächtlichen Himmel. Das Haus war hell erleuchtet, aber niemand war zu sehen.

Striker parkte und schwang sich aus dem Wagen. Felicia folgte seinem Beispiel.

»Da drin bewegt sich null«, bemerkte sie.

»Ich seh auch nichts.«

Während er sprach, umschloss Striker unwillkürlich den Griff seiner Dienstwaffe und zog kurz daran, um sicherzugehen, dass sie locker im Holster steckte. Dann schlich er zum Haus.

Die Eingangstreppe war spiegelglatt, und er hielt sich sicherheitshalber mit einer Hand am Geländer fest, die andere lag auf dem Pistolengriff. Die Eingangstür war nur angelehnt. Zwar nur einen Spalt breit, aber sie war definitiv offen.

Er machte Felicia darauf aufmerksam.

»Halt dich bereit.«

Sie zog ihre Pistole und ging auf der rechten Seite des Türrahmens in Deckung, abseits der direkten Schusslinie; Striker nahm die linke Seite. Nachdem sie sich so in Stellung gebracht hatten, nickte er ihr kurz zu und klopfte hart auf die Tür.

»Larisa!«, rief er. »Larisa, ich bin’s, Jacob Striker. Vom Vancouver Police Department!«

Keine Reaktion.

»Larisa, ich hab Ihre Message bekommen!«, rief er wieder.

Erneutes Schweigen.

Er drückte mit der Schulter gegen die Tür, und sie schwang geräuschlos auf, dahinter waren Flur, Wohnzimmer und Küche.

»Larisa!«, rief er. »Hier ist Jacob Striker! Felicia Santos ist bei mir. Wir kommen jetzt ins Haus!«

Das Ermittlerduo glitt in die Halle. Striker zog die Tür hinter ihnen zu – sie brauchten keine neugierigen Gaffer im Haus. Dann bedeutete er Felicia, auf der rechten Zimmerseite Deckung zu nehmen. Als sie nickte, nahm er die linke. Gemeinsam checkten sie das gesamte Haus, Zimmer für Zimmer: Küche, Arbeitszimmer, Schlafzimmer.

Nichts.

»Sie ist nicht hier«, sagte Felicia schließlich. »Scheiße. Von wo aus hat sie dich angerufen?«

»Über Handy.«

»War sie da zu Hause?«

»Das hat sie nicht gesagt. Sie hat eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen.«

Während er sprach, konzentrierte er sich auf die Umgebung. Irgendetwas störte ihn an dem Haus. Irgendetwas störte ihn ganz gewaltig. Wenn er bloß wüsste, was.

Er zog seine Waffe und schlich langsam aus dem Schlafzimmer, durch die lange, mit einem Läufer ausgelegte Diele in das Wohnzimmer mit der Essbar. Er stellte sich in den Durchgang zur Küche und blickte zwischen den beiden Zimmern hin und her.

Felicia trat hinter ihn.

»Was ist los?«, wollte sie wissen. »Ist irgendwas?«

Er schwieg und schaute sich um. Auf Küchenablage und -tisch standen Türme von schmutzigen Tellern, überall klebten Essensreste. Ein Berg Spaghetti lag am Boden vor dem Herd, und niemand hatte sich die Mühe gemacht, die Bescherung wegzuwischen. In einer Ecke des Zimmers stapelten sich alte Zeitungen und Tüten mit leeren Flaschen.

»Hier sieht es aus wie in einem Schweinestall«, meinte er.

»Vielleicht ist deine Gesprächstherapeutin ein Messie.«

»Larisa – ein Messie? Nein, das passt nicht zu ihr. Der ganze Dreck und so? Dazu die Tür offen stehen lassen und drinnen volles Rohr heizen, nein, so was würde sie nie machen.«

»Woher willst du das wissen? Warst du schon mal hier?«

»Nein. Aber ich war schon mal in ihrem Büro. Und bin in ihrem Wagen mitgefahren. Alles war sauber und ordentlich. Picobello. Das hier – das ist nicht Larisa Logan, wie ich sie kenne.« Er ging nach draußen und verglich die Adresse. Sie war korrekt. Sie waren im richtigen Haus. »Vielleicht ist sie inzwischen umgezogen«, gab er zu bedenken. »Und jemand anders wohnt jetzt hier.«

»Ich hol den Laptop«, sagte Felicia. »Und check mal, was ich über sie finde.«

Er nickte, und sie lief zum Wagen.

Striker kehrte in der Zwischenzeit in ihr Schlafzimmer zurück. Auf dem Nachtschrank stand eine gerahmte Fotografie – Larisa mit zwei anderen Frauen –, folglich war es definitiv ihr Haus.

Merkwürdig.

Er betrachtete das Foto genauer. Angesichts der Ähnlichkeit schätzte er, dass es Larisa mit Mutter und Schwester war. Sie strahlten um die Wette, als lachten sie über irgendeinen guten Witz.

Striker sah sich weiter um. Neben dem Foto lag ein Stapel Zeitungsausschnitte. An den Wänden hingen ebenfalls welche. Reportagen. Artikel. Ausgeschnitten und an die Wände geheftet. Einige waren aus Zeitschriften und Magazinen, andere aus anspruchsvolleren Quellen.

Er überflog die Texte. Über die erste Story – der Bericht handelte von einem Typen, der sich im sechsten Stock des Regency Hotel aus dem Fenster gestürzt hatte – hatte jemand mit einem dicken Filzer geschrieben: Alles Lüge!

Das Sammelsurium von Artikeln weckte schlimme Ahnungen in Striker, und er hoffte inständig, dass er falschlag. Als er Felicia unten die Tür aufdrücken hörte, ging er ihr entgegen.

Vom Wohnzimmer aus sah er, dass sie am Küchentisch stand, vor dem aufgeklappten Laptop. Sie scrollte durch eine Liste von Einträgen in der PRIME-Datenbank.

»Hast du schon was?«, fragte er.

Sie schoss ihm einen forschenden Blick zu. »Wie gut kennst du diese Frau?«

»Gut genug.«

»Echt? Wann habt ihr das letzte Mal miteinander zu tun gehabt?«

»Keine Ahnung. Ist schon ’ne Weile her«, räumte er ein. »Vor einem Jahr oder so, warum? Hast du irgendwas Aufschlussreiches gefunden, Feleesh?«

»Das hier.« Sie drehte den Laptop so, dass er den Bildschirm sah. Das Erste, was er aufschnappte, waren drei Buchstaben in großen roten Lettern.

MHA.

»Mental Health Act?«, fragte er. »Was ist damit?«

Felicia neigte den Kopf seitlich. »Sieht aus, als hätte deine Larisa eine Menge Probleme, seitdem sie die Opferhilfe verlassen hat.«

»Probleme?« Striker nahm den Blick vom Laptop. »Wie meinst du das?«

Felicia klickte sich durch die Computerberichte. »In PRIME ist Larisa Logan mehrfach als geistig verwirrte Person gelistet.«

Striker hob eine Braue. Geistig verwirrte Person war der politisch korrekte Begriff für psychisch durchgeknallt.

»Das muss ein Irrtum sein.«

Felicia las weiter in den Berichten. »Leider nein. Sieht aus, als hätte Larisa ihren Job bei der Opferhilfe vor zwölf Monaten geschmissen und sich eine Auszeit genommen. Vielleicht hatte sie zu viel Stress, keine Ahnung. Das steht hier nicht.«

Striker schloss die Augen und dachte scharf nach. »Vor etwa zwölf Monaten … Kann sein, dass ich da meine letzte Sitzung bei ihr hatte. Vielleicht ist es auch dreizehn Monate her – es war jedenfalls kurz vor Weihnachten. Und dann hat sie Urlaub genommen?«

Felicia grinste breit. »Ja. Lag wohl an deinem umwerfend jungenhaften Charme.«

Statt einer Antwort begann er, sich in die Berichte einzulesen.

Felicia sah sich währenddessen im Zimmer um. Ein paar Minuten später hielt sie ihm einen großen Bogen Papier hin. Mit einer Liste, auf der konfuses und unsinniges Gekritzel stand. Und ein paar Namen.

Zwei Namen fielen Striker spontan auf.

Mandy.

Billy.

Er zeigte darauf. »Das könnte Mandilla Gill sein. Und Billy … Das könnte dieser Patient von Ostermann sein.«

Felicia blickte zweifelnd. »Auf der Liste stehen über dreißig Namen, Jacob. Und jede Menge unleserliches Zeugs. Allerdings könntest du Recht haben, die Namen stimmen.«

Striker überflog das Gekritzel, bis er auf einen weiteren Namen traf, der mehrfach unterstrichen war. Der Name sagte ihm nichts:

Sarah.

Er schrieb den Namen in sein Notizbuch.

Felicia hielt einen Packen Zeitungsausschnitte aus irgendwelchen Boulevardblättern hoch – Klatschgeschichten über alles Mögliche, von Medikamentenpfusch über den Handel mit gefälschten Pässen bis hin zu der Existenz von Aliens und Dämonen. »Grundgütiger, Jacob, schau dir den Mist an! Aliens? Dämonen? Die Frau muss total durch den Wind sein.«

Striker, vertieft in das Computerdokument, erwiderte nichts. Er scrollte durch die gemeldeten Vorfälle. Und das waren einige: Auffälligkeiten im Zusammenhang mit geistiger Verwirrung. Fälle von Belästigung. Und mehrere Anzeigen wegen versuchter Körperverletzung, in denen Larisa als Verdächtige genannt war. Sie konnte von Glück sagen, dass sie nicht im Knast gelandet war.

Das alarmierte ihn.

Eine dieser Anzeigen, es ging um einen Polizeipsychologen, mit dem Larisa bei der Opferhilfe zusammengearbeitet hatte, war zurückgenommen worden. Ein kurzer Hinweis besagte lediglich, dass »mentale Probleme« im Spiel gewesen seien.

Es war deprimierend, nahezu unbegreiflich. Striker schüttelte leicht fassungslos den Kopf.

Er schloss seufzend den Laptop. Larisa Logan. Seine Gesprächstherapeutin, ja, fast so etwas wie eine Freundin. Immerhin hatte sie ihm geholfen, Amandas Tod zu verarbeiten, über das Schlimmste hinwegzukommen. Es konnte nicht stimmen, oder?

Oder doch?

Als er sich schließlich wieder gefasst hatte, sagte er mit harter, kehliger Stimme: »Die Frau hat mir durch die dunkelsten Stunden meines Lebens geholfen. Jetzt muss ich ihr helfen.«

Felicia strich begütigend über seinen Arm. »Sie ist irgendwo da draußen, Jacob. Wir finden sie, ganz bestimmt.«

Striker erwiderte ihr Lächeln nicht. »Das müssen wir. Und zwar so schnell wie möglich.«

»Warum?«

»Denk mal genau nach, Feleesh.« Er senkte seinen Blick in ihren. »Ihre Verbindung zu dem Opfer. Ihre Möglichkeit, an Medikamente ranzukommen. Ihre eigenen psychischen Probleme. Hinzu kommt ihre Gewaltbereitschaft … Ich hasse diesen Gedanken, aber wir müssen auf alles gefasst sein. Damit steht Larisa Logan auf der Liste unserer Hauptverdächtigen.«

»Glaubst du das?«

»Nein, aber es geht nicht darum, was ich glaube. Wir müssen sie finden, sie gehört in professionelle Behandlung. Und wir müssen vor allem dafür sorgen, dass der Verdacht gegen sie entkräftet wird.«

Er lief zur Eingangstür. Draußen war die Nacht kalt und still und dunkel.

Dunkel wie seine schlimmsten Ahnungen.

Zornesblind
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