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In der darauffolgenden halben Stunde checkten die beiden Detectives den Rest der Metrotown Mall, obwohl Striker im Grunde seines Herzens klar war, dass sie sich die Mühe sparen konnten. Larisa hatte Bernard Hamilton von Wagen 87 gesehen und war schleunigst geflohen.
Damit hatten die Ermittler wieder eine große Chance verpatzt.
Während Felicia einen weiteren Rundgang durch die Mall unternahm, unterhielt Striker sich mit den beiden Security-mitarbeitern. Er zeigte ihnen Larisas Foto, sie war jedoch auf keinem der Überwachungsvideos.
Er hatte auch nicht wirklich damit gerechnet.
Als er fertig war und das kleine Büro verließ, erwartete Felicia ihn draußen. Sie hatte zwei Becher Tim Horton’s Coffee in der Hand und einen wild entschlossenen Ausdruck auf dem Gesicht.
»Danke.« Er nahm ihr einen Pappbecher ab. »Erfolgreich?«
»Sie ist weg«, muffelte Felicia knapp.
»So ein gottverdammter Mist«, ärgerte er sich laut auf dem Weg zum Wagen. »Dieses bescheuerte Arschloch Hamilton hat die ganze Sache versemmelt.«
Felicia nickte. »Ich frag mich, wer sein Informant ist.«
Striker nippte an seinem Kaffee. Igitt … süß. Felicia hatte gewohnheitsmäßig Zucker reingekippt. »Er hat keinen Informanten. Der blufft bloß.«
»Wie konnte er dann …«
»Hamilton hat unser Gespräch über Funk aufgeschnappt. Er blieb dran. Als wir eine Zivilstreife anforderten, konnte er sich sicher denken, dass wir Larisa suchen würden.«
»Meinst du wirklich? Ganz schön hinterhältig.«
»Ich weiß es, ich kenne Bernard.« Hamilton war ihm schon häufiger negativ aufgefallen. »Lass dir mal seinen Einsatzstatus durchgeben«, schob er nach. »Ich wette hundert Mäuse, dass der näher dran war als wir. Sonst hätte der nie so schnell am Zielort sein können.«
Felicia schnappte sich den Computer und rief Remote Log auf. Kurz darauf nickte sie. »Stimmt, er war etwa um die Zeit hier, als wir die Anfrage machten. Er kam aus Richtung Boundary und Adanac Street.«
Striker spähte zu ihr. »Kommt dir die Gegend nicht bekannt vor?«
»Doch, da ist das Mapleview.«
»Korrekt. Vermutlich wollte er dort nach Larisa suchen. Oder sich Infos besorgen.«
»Aber weshalb? Wieso ist er so engagiert?«
Um Strikers Mundwinkel herum zuckte es belustigt. »Du kapierst es immer noch nicht, was? Bernard ist kein bisschen engagiert. Wann hast du ihn das letzte Mal bei der Arbeit mit einem psychisch Kranken gesehen?«
»Eigentlich nie.«
»Exakt. Bernard will bloß unbedingt derjenige sein, der Larisa rettet. Überleg mal selbst. Sie war Mitarbeiterin des Vancouver Police Department. Eine Kollegin von der Opferhilfe, die selbst Schlimmes durchgemacht hat. Da kommt Bernard Hamilton, ein engagierter städtischer Cop und totaler Gutmensch, und heilt sie von ihrem Trauma. Überleg mal, wie der das ausschlachten würde.«
Felicia nickte. »Und wieder käme er seinem Ziel, Cop des Jahres zu werden, ein Stück näher.«
»Stimmt. Das Schlimme ist bloß, er weiß, dass er sie damit noch größerer Gefahr aussetzt – und unsere Bemühungen hintertreibt, sie in Sicherheit zu bringen. Aber das interessiert ihn nicht die Bohne. Dieser arrogante Saftsack will letztlich bloß punkten, indem er Larisa Logan in eine geschlossene Anstalt verfrachtet.« Striker redete sich in Rage. »Er wird diesen Preis nie kriegen. Niemals. Weil alle wissen, wie er tickt. Er interessiert sich weder für Larisa noch für irgendwen sonst.«
»Er interessiert sich für Publicity«, sagte Felicia.
»Er will Publicity, und ich sorg dafür, dass er seine Publicity kriegt«, schnaubte Striker. »Wir fangen mit der Abteilung an.«
Als Felicia ihn verdutzt anblinzelte, grinste er kryptisch.
»Später«, winkte er ab. »Wenn es so weit ist.«
Eine halbe Stunde später, um exakt acht Uhr, fuhren sie über die Stadtgrenze in die Innenstadt von Vancouver.
»Wir verfolgen vermutlich den falschen Ansatz«, gab Striker zu bedenken. »Es geht nicht vorrangig darum, wohin Larisa geflüchtet ist, sondern warum sie geflüchtet ist.«
»Das Warum wissen wir bereits«, räumte Felicia ein.
»Und? Lass hören.«
»Verfügung 21 – der Einlieferungsbeschluss.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, da muss noch was anderes mit im Spiel sein. Die Frau mailt mir, dass sie glaubt, Mandy wurde ermordet. Bei ihr zu Hause finden wir Sarahs Namen auf ein Papier gekritzelt. Damals dachten wir noch, es hinge alles mit ihrer Krankheit zusammen. Mittlerweile sehe ich das anders.«
»Ich auch. Es war fast so, als hätte sie Beweise.«
Striker dachte spontan an die geöffneten DVD-Hüllen, die in Larisas chaotischer Wohnung herumgelegen hatten.
»Wir müssen herausfinden, was für Beweise das sind.«
Felicia klappte schwungvoll ihren Laptop auf. »Lass uns noch mal alles durchgehen.«
Striker fuhr an den Straßenrand. Er öffnete sein Notizbuch und die Aktenmappe mit den Indizien, die er in Larisas Haus gesammelt hatte. Zeitungsausschnitte, Geschichten, Artikel.
Einer fiel ihm spontan ins Auge. Es war der Artikel aus der Vancouver Province, von dem Mann, der sich im Regency Hotel aus dem Fenster gestürzt hatte. Jemand hatte mit einem dicken Filzer quer über den Ausschnitt ALLES LÜGE! geschrieben.
Striker las den Artikel durch. Das Opfer hieß Derrick Smallboy und war laut Aussage der Zeitung Alkoholiker, depressiv und suchtgefährdet gewesen.
Ein mörderisches Trio.
Der Artikel machte Striker stutzig. »Starte mal eine Abfrage mit dem Namen Derrick Smallboy, achtundzwanzig Jahre alt«, wies er seine Kollegin an.
Kurz darauf kam ihr Feedback. »Er ist verstorben.«
»Ich weiß, das ist der Typ aus diesem Zeitungsartikel hier. Lies mal alles durch, was du über ihn findest.«
Nach einer kurzen Weile blickte sie schockiert von ihrem Laptop auf. »Heilige Scheiße, Jacob, schau dir das an. Hier steht, dass Smallboy an Depressionen, FAS, Alkoholismus und Schizophrenie litt. Der Typ muss völlig am Ende gewesen sein. Er hat sich aus der obersten Etage des Regency Hotel gestürzt.«
»Ich weiß.«
»Warte mal kurz.« Sie las weiter. »Hier steht, dass er am EvenHealth-Programm teilnahm und dort an den SILC-Sitzungen.«
Das machte Striker hellhörig.
Er neigte sich zu ihr und überflog den Bericht. Beim Lesen fiel ihm noch etwas auf.
Eine Verlustmeldung von Smallboy. Er hatte seinen Führerschein, seinen Personalausweis und seine Geburtsurkunde als verloren gemeldet. Er glaubte, die Dokumente seien ihm gestohlen worden, der Autor des Berichts meinte jedoch zwischen den Zeilen, Smallboy habe Paranoia.
»Geh noch mal auf die Seite von Larisa«, bat Striker.
Dort zeigte er auf die Berichte von Larisa, letztes Jahr im August. Wieder eine Verlustmeldung. Auch ihr war der Personalausweis gestohlen worden. Es gab keine Hinweise. Keinen Verdächtigen. Letztlich war die Sache zu den Akten gelegt worden.
»Hast du noch deinen Kontakt bei Equifax?«, wollte er wissen.
»Logo, auch zu TransUnion.«
»Ruf da mal an. Klär mal, ob Smallboy und Larisa Probleme mit ihren Kreditkartenabrechnungen hatten.«
Felicia rief umgehend ihren Kontakt in dem Kreditkartenunternehmen an, der Zugang zu den Datenbanken von TransUnion und Equifax hatte. Nach zwanzig Minuten legte sie kopfschüttelnd auf.
»Und, schlechte Kreditauskunft?«, drängte der Detective.
»Du sagst es. Katastrophe. Zahlungsverzug, Nichtzahlung und so weiter. Und es kommt noch härter. Smallboy und Logan waren beide Opfer von Identitätsbetrug. Das Kreditkartenunternehmen hat alles dokumentiert. Irgendwer benutzte gefälschte Kreditkarten mit ihrem Namen und räumte ihre Konten komplett leer.«
Striker blies die Backen auf. »Das ist doch schon mal was.«
»Das ist erst der Anfang«, fuhr Felicia fort. »Bei Mandy Gill und Sarah Rose war es genau das Gleiche. Auch ihnen wurden sämtliche persönlichen Dokumente gestohlen, und sie wurden Opfer von Identitätsbetrug.«
»Hat Larisa den Verlust gemeldet oder dass jemand ihr Konto plünderte?«, hakte er nach.
»Beides.«
Sie klickte auf das Datum, an dem Larisa Logan den Identitätsbetrug gemeldet hatte.
»Larisa hat es am dritten August letzten Jahres gemeldet«, bemerkte er.
Felicia nickte. »Und drei Tage später wurde sie eingeliefert.«
»Wo?«
»Im Riverglen.«
»Auf wessen Anweisung?«
»Dr. Riley M. Richter.«
Striker lehnte sich in seinem Sitz zurück, ihm schwirrte der Kopf. Vier Opfer von Identitätsbetrug. Alle vier hatten eine Verbindung zu den Ärzten des EvenHealth-Programms. Und jetzt waren drei davon tot, eine Person war flüchtig.
Das konnte astronomisch viel bedeuten.
»Es geht immer wieder um die Ärzte«, stellte er fest. »Um Ostermann und Richter.«
Kaum hatte er ausgesprochen, klingelte sein Handy. Er nahm an, presste es an sein Ohr: »Detective Striker, Mordkommission.«
Die Stimme, die ihm antwortete, war sanft und weich. Feminin.
»Hier ist Dr. Richter. Sie wollten mich sprechen?«