15

Sie fuhren die zwei Blocks zu der Fabrik, wo Felicia bereits John Gibson, den Inhaber, befragt hatte. GPT Industries – Gibson Plastics & Tubing – war in einem quaderförmigen Betonbau untergebracht, in dem Karree Vernon Drive und Franklin Street.

Striker kannte die Gegend wie seine Westentasche. Jahrelang war er hier nachts Streife gefahren. Das Gewerbegebiet war bekannt dafür, dass man hier alles bekam: harte Drogen und Sex in seinen sämtlichen Spielarten.

Das alte, heruntergekommene Gebäude stand etwas abseits der Straße. Striker stellte den Wagen auf dem umzäunten Parkplatz ab. Gemeinsam mit Felicia lief er unter einer gelb zuckenden Neonreklame – lesbar war nur noch GPT Indust – die Betontreppe hinauf.

Drinnen war es so eisig wie draußen, und es stank nach Diesel und irgendeinem Plastikkleber. Die Mischung hing gasig toxisch in der lang gestreckten, menschenleeren Werkshalle.

Sie betraten das Büro der Geschäftsführung.

John Gibson saß hinter einem Monstrum von Stahlschreibtisch. Er war etwa Mitte sechzig, klein und drahtig, mit schütterem grauem Haar. Und schwieligen, zupackenden Händen.

Vor ihm auf dem Schreibtisch lag seine unterschriebene Aussage. Seine Schrift war krakelig, das Geschriebene voller Fehler. Typisch für diese Gegend, dachte Striker, behielt es aber für sich. Schlechte Grammatik hin, Fehler her, er war froh, dass sie überhaupt eine Aussage bekamen. Wenigstens etwas außer der Videoaufzeichnung von der Tanke.

Gibson musterte die beiden misstrauisch. »Das ging aber schnell, hm?«

Felicia schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Ja, wir sind mit unseren anderen Zeugen fertig. Das ist Detective Striker.«

»Angenehm«, sagte Striker.

John Gibson grummelte irgendwas und nickte knapp. Striker schnappte sich dessen Aussage und überflog das Blatt. Die Aussage war kurz, nicht mal eine halbe Seite. Und das Meiste ziemliches Wischwaschi, so dass sie bei vielen Punkten noch mal würden nachhaken müssen. Er kam zu der Passage mit dem Fahrer und dem Nummernschild.

Er musste grinsen.

Zum Fahrer des Wagens konnte Gibson zwar keine Angaben machen, aber er wollte genau erkannt haben, dass der Typ allein im Fahrzeug saß. Zudem waren die beiden letzten Ziffern auf dem Nummernschild aufgeführt.

Sieben und neun.

Striker blickte zu dem ergrauten Fabrikbesitzer. »Sieben und neun? Sind Sie sich da sicher, Mr. Gibson?«

»Verdammt sicher, Detective. So was behält man. 79 bin ich nämlich Vater geworden.«

»Und in dem Wagen saß nur eine Person?«

»Ja, bloß einer – irgend so ein verrückter Schwanzlutscher.«

»Mann oder Frau?«, bohrte Striker.

»Konnte ich nicht sehen.« Der Mann ballte die Fäuste. »Das verdammte Arschloch fuhr wie der Henker. Hätte mir fast die Ladung vom Gabelstapler gefegt.« Er zeigte mit dem Finger auf die Straße. »Der fährt immer zu schnell, das ist ein Irrer. Eins schwör ich Ihnen: Wenn ich den jemals zu fassen kriege, prügel ich diesen Raserarsch über die ganze Franklin Street. Wenn der so weitermacht, nietet dieser verdammte Wichser irgendwann jemanden um!«

Felicia trat einen Schritt vor. »Sie sagten immer? Haben Sie seinen Wagen schon mal gesehen?«

»Klar. Zigmal. Er kommt dauernd hier vorbei. Und fährt immer wie eine gesengte Sau.«

»Wann?«, hakte Striker nach. »An bestimmten Tagen?«

Gibson überlegte einen langen Moment, dann schüttelte er den Kopf. »Da möcht ich mich echt nicht festlegen. Er fällt mir halt öfters auf, weil er immer zu schnell fährt.«

Striker und Felicia tauschten Blicke miteinander aus. Das war doch was, Geschwindigkeitsübertretung und eine regelmäßige Fahrstrecke. Es war einerseits positiv, weil es ihnen helfen würde, die Person schneller zu schnappen. Andererseits war es eher unwahrscheinlich, dass der fragliche Fahrer etwas mit Mandy Gills Selbstmord zu tun hatte, oder? Vermutlich war der Fahrer irgendein Freier, der hier den schnellen Sex suchte und der dann mit Bleifuß wieder abzischte.

Striker notierte sich die beiden letzten Ziffern, jetzt hatten sie drei von sechs Nummernschildangaben. J als ersten von drei Buchstaben und 79 als letzte der dreistelligen Ziffernkombination. Striker feixte zuversichtlich.

Damit ließ sich bestimmt was machen.

Er schob Felicia seine Notizen hin. Seine Kollegin stellte dem Zeugen vertiefende Fragen, während Striker sich zum Telefonieren in die Werkshalle verdrückte.

Er nahm sein Handy und rief Brian Greene an, einen Kontakt bei einer Versicherungsgesellschaft in British Columbia. Striker kannte den Mann seit einem Verkehrsunfall, bei dem dessen sechzehnjähriger Sohn schwer verletzt worden war. Striker hatte Brian mit Blaulicht ins Burnaby General Hospital gefahren, damit er seinen Sohn vor der Notoperation noch einmal sah. Sirene und Blaulicht mit Privatpersonen im Dienstwagen war ein absolutes No-go in seinem Dezernat – es hätte Striker den Kopf kosten können. Das hatte Brian Greene ihm nie vergessen. Seitdem war der Mann ein verlässlicher, nützlicher Kontakt.

Er ging beim dritten Klingeln ran.

»Brian Greene«, sagte er.

»Brian, hier ist Jacob Striker.«

»Detective! Länger nichts mehr von Ihnen gehört.«

»Überrascht mich, dass Sie um diese späte Stunde noch arbeiten.«

»Na ja, ich war bis vorhin in einer Sitzung, zog sich hin wie Kaugummi. Die zehnte Krisensitzung in diesem Monat, schätze ich. Ich wollte gerade gehen.«

»Dann ist es ja gut, dass ich Sie noch erwische.«

»Kommt drauf an, was Sie von mir wollen. Wie läuft es denn noch so beim Vancouver Police Department?«

»Ein Lottogewinn und ich schmeiß die Brocken hin.« Als Brian Greene lachte, schob Striker nach: »Wie geht es Jonathan?«

»Er kann wieder laufen. Es geht ihm so weit gut. Er baut gerade seinen Doktor in brotloser Kunst. Philosophie. Folglich tippe ich, er wird noch ewig zu Hause herumhocken und mir auf der Tasche liegen.«

»Immerhin haben Sie so einen Doktor im Haus.«

Brian wieherte los. »Tja, so kann man es auch sehen.«

Striker fiel eine Last vom Herzen, dass es mit dem Jungen gesundheitlich wieder aufwärtsging. Am Unfallort hätte er es niemals für möglich gehalten, dass Jonathan Greene es packen würde. Er presste unwillkürlich die Lider zusammen, wie um die grausigen Bilder von damals auszublenden.

Er wechselte das Thema. »Ich rufe an, weil ich Ihre Hilfe brauche, Brian. Können Sie einen Pkw-Halter für mich ermitteln – sozusagen auf dem kleinen Dienstweg?«

»Jederzeit. Sie brauchen mir lediglich die Angaben auf dem Nummernschild durchzugeben.«

Die Worte waren Musik in Strikers Ohren. Für gewöhnlich rückte die Versicherungsgesellschaft nicht mit Informationen über ihre Kunden heraus, es sei denn, man kam ihr mit einem richterlichen Beschluss.

Ansonsten wurden keine Ausnahmen gemacht.

Ein Kontakt wie Brian Greene war Gold wert.

»J wie Julius als erster Buchstabe«, begann Striker. »Die beiden nächsten Buchstaben sind nicht bekannt. Die erste Ziffer ist ebenfalls unbekannt. Die letzten beiden sind sieben und neun.«

»In dieser Reihenfolge.«

»Ich denke schon.«

Striker hörte das Klackern der Tastatur und nach einer kurzen Pause einen leisen Pfiff.

»Klingt gar nicht gut«, meinte Striker.

»An die zehntausend Treffer, Detective. Haben Sie noch weitere Angaben, um die Suche einzugrenzen.«

»Äh … ja. Es handelt sich um einen BMW. Einen X5.«

Weiteres Klackern.

»Okay«, kam es von Brian. »Jetzt sind es noch 113 Treffer.«

Striker überlegte. »Versuchen Sie es mal mit Zulassungen, die nicht älter als drei Jahre sind.«

Noch ein paar Klicks, dann: »Schon besser. Jetzt sind wir bei zwanzig.«

»Farbe schwarz.«

Brian tippte die Angabe ein, dann lachte er. »Okay, bleiben noch fünf.«

»Geben Sie als Wohnort des Fahrzeughalters mal Vancouver ein.«

»Bleiben noch drei übrig.«

Striker grinste. »Kann ich die Adressen haben?«

Brian nannte sie ihm.

Striker schrieb alles in sein Notizbuch, Name des Halters, Anschrift und so weiter. Als Greene ihm Angaben zum dritten und letzten Nummernschild machte, fiel Striker ein Detail besonders auf.

»Das ist ja höchst interessant«, murmelte er. Ein Grinsen schob sich in seine Mundwinkel.

Zornesblind
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