78

Am Freitag wurde Striker am frühen Morgen wach. Seine verbrannte Hand schmerzte höllisch. Das Zimmer war dunkel und kalt. Vom Schlaf benommen streckte er im grauen Dämmerlicht die Hand aus, tastete nach Felicia, doch sie war nicht da. Dann fiel ihm ein, dass sie auf der Couch übernachtete.

Schlagartig war er hellwach.

Er setzte sich im Bett auf und versuchte sich zu sortieren. Gestern hatte eine Enthüllung die nächste gejagt, und die Entdeckung von Gabriel Ostermanns Kellerzimmer und die Tatsache, dass er die Natter war, hatten ihren Ermittlungen eine neue Richtung gegeben.

Einiges war zwar geklärt, aber es lag noch eine Menge Arbeit vor ihnen. Er hatte bereits die komplette Familie – Gabriel, Lexa und Dalia – bei PRIME und CPIC eingestellt und Zollbehörde und Interpol informiert. Dieses Mal ging er kein Risiko ein.

Die Natter durfte nicht wieder entkommen. Er war ein Serienmörder. Und Serienmörder hörten nicht auf zu morden, bis sie entweder geschnappt oder selbst getötet wurden.

Striker trat die Bettdecke beiseite und stand auf. Er nahm sein iPhone von der Ladestation und las das Display. Keine neuen Anrufe, das war deprimierend. Er hatte auf eine Rückmeldung – egal was – von Larisa Logan gehofft.

Es war nichts eingegangen.

Er wählte die Zentrale an und war überrascht, Sue Rhaemers Stimme zu hören.

»Was, immer noch im Dienst?«, fragte er.

»Eigentlich hätte ich längst frei«, seufzte sie. »Wir haben aber zu wenig Personal, deshalb mach ich länger. Es grassiert mal wieder irgendein Grippevirus.«

»Gibt’s irgendwas Neues?«

»Hab ich bei dir angerufen?«

»Nein.«

»Da hast du deine Antwort.«

Er ignorierte ihre Spitze und nickte, als könnte sie ihn sehen. »Halt mich auf dem Laufenden, Sue.«

Nach dem Telefonat verließ er das Schlafzimmer und trat seine übliche Runde an. Courtney schlief noch tief und fest. In der Küche machte er Kaffee und nahm Tylenol gegen die Schmerzen. Dann weckte er Felicia. Um sechs Uhr, draußen war es noch dunkel, waren sie beide geduscht und angezogen.

»Bist du fertig?«, wollte er wissen.

Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Wetten, wir finden ihn heute? Das hab ich im Gefühl.«

Er hoffte inständig, dass sie mit ihrem Gefühl richtiglag.

Eine halbe Stunde und eine ordentliche Kaffeedröhnung später standen sie wieder vor Ostermanns Villa. Die Luft war schneidend kalt, der Morgenhimmel in ein dunkles Violett getaucht. Es erschien Striker so, als hätten sie den Tatort gar nicht verlassen. Mit dem Unterschied, dass vor und hinter dem Haus Polizisten postiert waren. Er zeigte einem seine Dienstmarke – ein junger Typ, den er nicht kannte –, und sie betraten das Haus.

Sie gingen direkt in Dr. Ostermanns Büro. Die Leute von der Spurensicherung hatten den Raum bereits fotografiert und diverse Aktenordner und Papiere zusammengepackt, die als Indizien interessant sein könnten.

Striker zeigte auf einen Stapel Pappkartons. Auf den Seitenwänden war mit dickem schwarzem Marker die Fallnummer notiert.

»Du nimmst diesen Stapel«, meinte er zu Felicia. »Ich nehm den hier.«

Felicia nippte an ihrem Kaffee und nickte.

Er öffnete den obersten Karton und arbeitete sich durch die Papierberge, angefangen mit bezahlten Rechnungen über Fallstudien bis hin zu Kopien der Patientenakten. Irgendwann wünschte er sich, sie hätten sich eine Thermoskanne Kaffee mitgebracht.

Während er den Inhalt der Kartons inspizierte, achtete er darauf, nichts durcheinanderzubringen. Nichts war frustrierender für einen Ermittler als das Wissen, ein wichtiges Beweisstück zwar irgendwann gesehen, es dann aber auf Nimmerwiedersehen verlegt zu haben. Das passierte einem einmal und dann nie wieder.

Es war ein langweiliger, zeitaufwendiger Job. Bei der vierten Kiste erwog Striker, kurz loszuziehen und irgendwo Kaffee zu organisieren. Er hatte den Vorschlag auf der Zunge, als Felicia aufgeregt mit dem Finger schnippte.

»Und, was Interessantes entdeckt?«

»Schau dir das an«, sagte sie.

Sie hielt einen schmalen, weißen Plastikordner hoch. Darauf stand in Druckbuchstaben: Jonathon McNabb. Als sie den Ordner öffnete, waren darin keine Patientenberichte, sondern eine Aufstellung von Kreditkarten und Bankkonten. In der Rückenklappe steckte ein Umschlag. Felicia öffnete ihn und nahm mehrere persönliche Dokumente heraus: einen Führerschein, ausgestellt in British Columbia, einen Sozialversicherungsausweis und eine Geburtsurkunde.

Auf dem Führerscheinfoto war Gabriel Ostermann abgebildet.

»Lass mich das mal sehen«, drängte Striker.

Er nahm Felicia den Führerschein aus der Hand und inspizierte ihn genauer. Alles war perfekt bis ins Detail ausgeführt, selbst das Hologramm auf der Frontseite.

»Gefälscht?«, erkundigte sich Felicia.

Striker hob eine Braue. »Und zwar verdammt gut. Die gehen glatt als Originale durch.«

»Demnach heißt Gabriel Ostermann richtig Jonathon McNabb, oder benutzt er noch eine andere Identität?«

»Ruf mal deinen Kontakt bei dem Kreditkartenunternehmen an. Ob der schon da ist?«

Felicia nickte. »Ja, dank der Zeitverschiebung.«

Kaum zwei Minuten später war ihr Telefonat beendet, und sie nickte vielsagend zu Striker. »Ja, Opfer von Identitätsbetrug«, bekräftigte sie. Sie knöpfte sich eine weitere Akte aus derselben Kiste vor. Auf dieser Akte stand der Name Eleanor Kingsley. Der Inhalt der Akte war identisch mit dem der anderen: Kreditkartenanträge, Nummern – Bankkonten, Tankkarten und dergleichen. In der Rückenklappe klemmte der obligatorische Umschlag. Darin lagen weitere Ausweisdokumente, dieses Mal allerdings ausgestellt auf Lexa Ostermann.

»Gib deinem Kontakt mal den Namen durch«, meinte Striker.

Zwei Minuten später wurde ihre Anfrage bestätigt. Eleanor Kingsley hatte über achtundsiebzigtausend Dollar Schulden – Abrechnungen von Kreditkarten, die sie nie beantragt und folglich auch nie bekommen hatte.

Striker erkannte das Muster.

»Sie klauen fremde Identitäten«, sagte er. »Und dann zapfen sie die Konten ihrer Opfer an, bis der Kreditrahmen ausgeschöpft ist und die Leute pleite sind.« Er nickte zu dem Karton, den Felicia gerade schleppte und in dem mindestens fünfzig solcher Akten lagen.

»Schau mal, ob du Mandy Gill und Sarah Rose findest«, wies er sie an.

Innerhalb einer halben Minute hatte Felicia beide entdeckt, und dieses Mal war Lexa Ostermann Sarah Rose und Dalia Mandy Gill.

»Ich fass es nicht, die ganze Familie ist ein Haufen Verbrecher«, ächzte Felicia.

Striker taxierte die Kartons, die sich hinter seiner Kollegin stapelten. Allein Eleanor Kingsley war um über siebzigtausend Riesen erleichtert worden. Und in diesen Kisten lagerten die Akten von mehreren hundert Opfern.

Die Ostermanns mussten mit ihrer kriminellen Masche irrsinnig viel Geld abgezockt haben.

Zornesblind
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