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»Alles klar, komm rein«, rief Striker seiner Kollegin zu. Felicia betrat den Raum. Sobald sie die Leiche sah, nahm ihr hübsches Gesicht einen bitteren Zug an.

»Sarah Rose?«, fragte sie.

Striker nickte und zeigte ihr die Fotokopie.

Sie warf einen kurzen Blick darauf und fasste sich ungläubig an den Kopf. Dann trat sie zu der Leiche und fragte: »Wie lange?«

Striker zuckte mit den Achseln. »Dem Geruch nach zu urteilen mehr als zwei Tage. Und noch keine drei Tage, wenn ich nach der Totenstarre gehe.«

»Also vor Mandy«, tippte Felicia.

»Wahrscheinlich. Schwer zu sagen. Mal hören, was die Gerichtsmedizin dazu meint. Die Frage ist: Warum? Warum Sarah und Mandy? Wussten die beiden irgendwas? War Eifersucht das Motiv? Eine Dreiecksbeziehung, oder hatte es irgendwas mit den Sitzungen in der Klinik zu tun?«

»Oder wurde Mandy als Nächste umgebracht, weil sie Sarah kannte?«, gab Felicia zu bedenken. »Weil sie wusste, was mit Sarah passiert war?«

Striker durchquerte mit langen Schritten den Raum und überlegte. Plötzlich blieb er stehen und lauschte mit schief gelegtem Kopf. Irgendwo hinter ihnen aus der Diele drang ein leise surrendes Geräusch. Es klang verdächtig nach einem Holzbohrer.

Felicia hörte es auch.

»Was ist das?«, fragte er.

»Klingt, als wären da irgendwo Bauarbeiter zugange«, meinte sie. »Vermutlich Sanierungsarbeiten.«

Er nickte. »Wir werden die Arbeiter nachher befragen, ob sie zufällig was gesehen oder gehört haben.«

Das Geräusch erstarb, und Striker konzentrierte sich wieder auf die Ermittlungen.

Er nahm ein Paar Latexhandschuhe aus seiner Jacke und streifte sie über. Währenddessen informierte Felicia die Zentrale über den Leichenfund und die betreffende Adresse.

Striker blickte zu ihr. »Sag ihnen, sie sollen eine Fahndungsmeldung für Billy Mercury rausgeben – von wegen unverzüglicher Festnahme. Der Typ ist bewaffnet und gefährlich. Der knallt wahrscheinlich kaltblütig jeden Cop ab, der sich ihm in den Weg stellt.«

Felicia nickte und gab es durch.

Striker nahm seine Taschenlampe heraus. Während er die Leiche von Sarah Rose genauer untersuchte, fiel ihm etwas auf: In Verlängerung der Tischkante, in einer Ecke des Zimmers, lagen Tablettenröhrchen – weiße Etiketten, blaue Fläschchen.

Er durchquerte das Zimmer und hob sie auf. Las die Beschriftung. Alle enthielten das gleiche Medikament.

Lexapro.

Striker fiel ein, dass auf dem Küchenblock weitere lagen. Er ging zu der Miniküche und nahm jedes noch so kleine Detail in sich auf.

Sämtliche Röhrchen waren leer.

Er las die Aufschrift: hauptsächlich Lexapro. Und Effexor.

Genau wie bei Mandy Gill.

Er schlug sein Notizbuch auf und notierte sich akribisch die Packungsgrößen. Dann schaute er auf die Dosierung und stutzte. Es war exakt wie bei Mandys Medikation – und wieder die gleiche Verschreibungsnummer, die mit MVC endete.

Mapleview-Klinik.

Der Detective klappte sein Notizbuch zu und checkte die Umgebung. Im Gegensatz zu Mandy Gills verkommenem Apartment war Sarah Roses Wohnung angenehm sauber und aufgeräumt. Ein paar angekrustete Teller in der Spüle, ein bisschen herumliegende Schmutzwäsche, ein Staubsauger, der mitten im Zimmer stand. Aber das war normal. Mandys Apartment war dagegen ein einziges Dreckloch gewesen: vergammelte Essensreste, Berge von Zeitungen und unbezahlten Rechnungen.

Mental zog Striker den Vergleich. Dabei fiel ihm auf, dass in Sarahs Wohnung zwar alles Mögliche herumlag, aber keine Post. Nichts, null.

Er schaute sich genauer um, öffnete Schubfächer und Schranktüren. Auf dem obersten Regal über dem Kühlschrank fand er schließlich einen schmalen Organizer. Er nahm ihn herunter und blätterte durch die Seiten.

In dem Ringbuch waren Rechnungen abgeheftet, alle mit rotem Stift als bezahlt abgezeichnet. Strom- und Telefonrechnungen sowie Abrechnungen von Visa und MasterCard. Im Rückendeckel gab es ein Fach für Kontoauszüge, eins für Versicherungspolicen und eins für andere Belege.

Striker registrierte spontan, dass die Rechnungen mindestens sechs Monate alt waren, die älteste sogar zwei Jahre. Die neueste war von der Telefongesellschaft und im Juli letzten Jahres bezahlt worden. Das war alles an Post.

»Halt die Augen offen, womöglich gibt es einen separaten Postordner«, sagte er. Felicia nickte und sah sich in den anderen Zimmern um.

Nach längerer, erfolgloser Suche in der Küche legte Striker das Ringbuch wieder auf den Schrank. »Hast du irgendwas Aufschlussreiches entdeckt?«, erkundigte er sich bei seiner Kollegin, die inzwischen eine Liste der Medikamente erstellte.

»Nein.« Sie blickte auf. »Vielleicht hat sie ihre Post weggeworfen.«

»Nein, die hat nichts weggeworfen. Das siehst du an den Rechnungen. Alles pingelig geordnet.«

»Also, der Bekannte, mit dem ich vorhin sprach, meinte, dass sie erst vor zwei Monaten hier eingezogen ist. Vielleicht hatte sie sich noch nicht umgemeldet. Deswegen sollten wir uns bestimmt keine grauen Haare wachsen lassen.«

»Doch«, versetzte er. »Es geht um mehr als die fehlende Post – das ist ein Bruch mit ihren Tagesroutinen. Wenn man bedenkt, dass sie vorher alles akribisch aufhob, ist das schon auffällig.«

Felicia nickte schweigend. Ihr Kollege zog frische Latexhandschuhe über und kehrte zu der Toten zurück.

Sie mutete selbst im Tod traurig und deprimiert an, ihr langes Haar fächerte sich strohig blond um das wächsern-blasse Gesicht. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, Falten waren in ihre Stirn gegraben. Striker richtete den Strahl der Taschenlampe auf ihre Augen. Ihre milchig blaue Iris blickte leer, die starren Pupillen schienen durch ihn hindurchzusehen, verloren, vorwurfsvoll, weil er zu spät gekommen war und sie nicht mehr retten konnte.

Er sah weg. Brauchte einen Moment, um seine Gedanken zu sortieren. Er versuchte, Sarah Rose nicht als Person zu sehen, sondern als eine weitere Tote. Eine weitere Tote in diesem Scheißspiel.

Es funktionierte nicht. Seit Mandys Tod ging ihm der Fall mächtig an die Nieren. Das waren nicht bloß Todesfälle, das waren arme, verlorene Existenzen. Diese Tatsache konnte er nicht einfach verdrängen.

Um sich von seinen deprimierenden Gedanken abzulenken, stürzte er sich erneut in die Ermittlungen. Auf der Suche nach brauchbaren Indizien leuchtete er mit der Taschenlampe über ihren Körper. Ihre weiße Bluse spannte über Brüsten und Bauch, die Knöpfe drohten förmlich abzuplatzen. Der Körper war unnatürlich aufgedunsen. Genau wie das Gesicht und die Finger, an denen die Ringe drei Nummern zu klein schienen. Der an ihrem Ringfinger saß so eng, dass das Gold ins Fleisch schnitt.

Nachdem Striker den Goldreif bemerkt hatte, meinte er zu Felicia: »Hast du unterwegs alles über sie abgerufen?«

»Logo«, versetzte Felicia leicht beleidigt. Recherche war immer der undankbare Job des Beifahrers.

»War sie verheiratet?«

Felicia nickte. »Ja, laut PRIME war sie verheiratet. Vor zig Jahren. Mit einem Jerry Soundso. Die Details weiß ich nicht mehr, aber er starb an einer Überdosis. Wenn wir wieder im Wagen sind, informier ich mich genauer.«

Striker warf noch einen Blick auf den Ringfinger der Toten. »Schätze, sie hing sehr an ihrem Mann.«

Er streifte mit einem behandschuhten Finger den Blusenkragen beiseite, enthüllte Nacken und oberes Sternum. Mithilfe der Taschenlampe inspizierte er ihre Haut. Auf der rechten Seite war nichts Auffälliges, nur blasse, aufgedunsene Haut. Auf der linken Seite entdeckte er jedoch eine winzige rote Stelle.

Eine Einstichstelle?

Angesichts des Verwesungsgrades war das schwer zu sagen, aber die Stelle war fast identisch mit der bei Mandy Gill – lateral zur Nackenbasis, über dem ersten Rippenbogen.

Striker klappte sein Notizbuch auf und machte eine kleine Skizze mit der möglichen Einstichstelle. Dann zeichnete er ein Rastermodell des Raums mit den kritisch wichtigen Punkten – der Lage der Toten.

Mandy Gill hatte in ihrem Sessel gesessen und zum Fenster geschaut.

Bei Sarah Rose war es genauso.

Als Striker das Fenster untersuchte, stellte er fest, dass die Scheiben blind vor Schmutz waren. Als wären sie seit dem Bau des Hauses nicht mehr geputzt worden, die Staubschicht so dick, dass man kaum rausgucken konnte.

Bis auf eine Stelle.

An der unteren rechten Ecke. Dort war das Glas spiegelblank, wie frisch gewienert. Striker lehnte sich aufmerksam näher. Und griff automatisch nach seiner Waffe. Auf der anderen Seite des Fensters stand eine Kamera.

Sie wurden gefilmt.

Zornesblind
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