9

Striker startete den Jeep mit Felicia auf dem Beifahrersitz. Auf halber Höhe der Union Street ging er hart in die Bremse und starrte aus dem Wagenfenster auf das Gebäude neben dem unbebauten Grundstück.

Es war ein Altbau, zweistöckig, direkt westlich vom Lucky Lodge. Davor stand ein großes Plakat, mit der Ankündigung des städtischen Bauamtes, dass hier ein Neubau geplant sei. Eigentumswohnungen in verschiedenen Größen.

Typisch für die Gegend. Auf diese Weise konnte man eine Menge Kohle machen.

Die meisten Fenster waren mit Brettern zugenagelt, überall auf dem Boden lagen Glasscherben und Müll. Vor dem Grundstück hing der Galgen eines Immobilienmaklers, plakativ rot, mit Anschrift und Handynummer. Striker starrte einen langen Moment dorthin.

»Was hast du?«, wollte Felicia wissen. »Irgendwas Besonderes entdeckt?«

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte er und stieg aus.

Sofort riss der eisige Wind an seinen Haaren, und er knöpfte hastig seinen Trenchcoat zu. Er schlug die Fahrertür zu, umrundete den Wagen und stapfte zu der leeren Parzelle zwischen den beiden Häusern.

Felicia, die ebenfalls ausgestiegen war, folgte ihm.

Mitten auf dem Grundstück blieb Striker stehen. Er blickte zu Mandy Gills Fenster hoch und von dort zu dem unbewohnten Nachbarhaus. Oben war der Speicher, die Fenster von außen mit dicken Holzbrettern versehen. Drinnen schien alles dunkel und leer.

Er zeigte darauf.

»Der Speicher. Er befindet sich direkt gegenüber Mandys Apartment und ist ungefähr auf gleicher Höhe – das ist ideal, wenn man jemanden beobachten will.«

»Stimmt«, bekräftigte sie. »Wollen wir uns das mal näher ansehen?«

Striker nickte. Er umrundete Bauschutt und Löcher, um in den nächsten Hof zu gelangen. Er baute sich vor dem Haus auf. Ostseite, Parterre.

Er ließ den Strahl der Maglite über das Gebäude wandern. Von dem Mauerwerk aus Holzfachwerk bröckelte an etlichen Stellen der Verputz. Striker streifte ein Paar Lederhandschuhe über – sie waren dick genug, um ihn vor Verletzungen mit Glasscherben zu schützen – und riss an einer der Latten vor einem Fenster im Erdgeschoss. Das Holz ächzte und stöhnte, gab aber nicht nach.

»Das Holz hält verdammt gut«, bemerkte Felicia.

»Lange Nägel.«

Striker ließ das Brett los und folgte Felicia ums Haus. Als sie alles gesehen hatten, auch die mit einer schweren Eisenplatte verbarrikadierte Tür, nickte er zufrieden. Das Haus war verdammt gut gesichert. Da kam so leicht keiner rein.

Felicia bibberte vor Kälte. »Sind wir hier fertig?«

»Wenn dir kalt ist, kannst du im Wagen warten.«

»Wow, wie großzügig von dir.« Sie blickte zu den beiden oberen Etagen hoch. »Alle anderen Fenster sind zu hoch. Man bräuchte eine Leiter, um dort einzusteigen.«

Striker nickte abwesend. Die anderen Fenster standen definitiv nicht zur Debatte. Zudem stand das Haus erhöht, was die Sache zusätzlich erschwerte. Der nächste Stock war fast vier Meter über dem Bodenlevel, der Speicher noch zwei Etagen höher und damit entschieden zu hoch für einen Eindringling. Trotzdem machte ihn irgendwas an dem Speicher stutzig. Plötzlich dämmerte es ihm.

»Die Latten vor einem der Speicherfenster wurden entfernt, und das macht keinen Sinn. Kein Einbrecher macht sich die Mühe, zwei Stockwerke hoch zu klettern, wenn er eins von den Parterrefenstern aufhebeln kann. Dafür hab ich nur eine plausible Erklärung: Die Bretter wurden von innen entfernt, um einen besseren Ausblick zu haben.«

»Auf das Lucky Lodge«, folgerte Felicia.

Striker konzentrierte seine Aufmerksamkeit erneut auf die Fenster im Erdgeschoss. Bei genauerer Betrachtung fiel ihm auf, dass eins davon mit dickeren Brettern versehen war, die neuer und heller waren. Als er mit seiner Taschenlampe das Holz anstrahlte, registrierte er die silbrig schimmernden Nägelköpfe – aha, ebenfalls neu.

Er zeigte Felicia seine Entdeckung. »Die anderen Bretter sind alt, aber bei dem Fenster hier wurde erst kürzlich mit neuen Holzlatten rumgemacht. Schau dir mal die Nägel an, total stümperhaft eingeschlagen. Sieht aus, als wäre der Typ Linkshänder.«

Felicia nickte zustimmend. Dann bückte sie sich und leuchtete mit ihrer Taschenlampe ins Gras. »Das ist ja mal interessant. Hier liegen überall winzige Glassplitter. Sieht aus, als hätte er das Fenster eingeschlagen, die Scherben beseitigt und das Loch hinterher wieder zugenagelt.«

Striker wählte die Zentrale an, nannte der Telefonistin die betreffende Adresse und erkundigte sich, ob dort in letzter Zeit ein Einbruch gemeldet worden sei. »Leider Fehlanzeige«, erklärte er Felicia, nachdem er geendet hatte. »Schon mal gehört, dass ein Einbrecher ein Fenster repariert, bevor er türmt?«

»Noch nie.«

»Ich auch nicht.«

Er packte mit beiden Händen eines der Bretter und riss mit aller Kraft daran. Es brauchte mehrere Versuche, bis die Nägel nachgaben und die Bretter sich lösen ließen. Er warf das Holz zu dem anderen Bauschutt und schaute durch die gähnende Fensteröffnung.

Hinter ihm seufzte Felicia unbehaglich. »Du weißt, dass das nicht legal ist?«

Er schnellte zu ihr herum. »Was?«

»Rein theoretisch betrachtet brechen wir hier ein. Vielleicht sollten wir uns erst mal mit dem Eigentümer in Verbindung setzen.«

Striker lachte milde abfällig, woraufhin Felicia ihn mit einem mordlustigen Blick traktierte. »Ich warte hier doch nicht drei Stunden, bis sich irgendein Idiot bequemt, uns die Tür aufzuschließen – falls überhaupt jemand herkommt und damit einverstanden ist, dass wir uns mal genauer umsehen. Wir machen das, weil die Situation es erfordert. Punkt.«

Felicia hob fragend die Brauen. »Weil die Situation es erfordert?«

»Ich erklär’s dir später.«

Bevor sie weiter argumentieren konnte, entfernte Striker mit einer Holzlatte die letzten Glassplitter von dem Fensterrahmen. Dann leuchtete er mit der Taschenlampe ins Innere.

Es war das Wohnzimmer. Schwere Vorhänge vor den Fenstern hüllten den Raum in aschiges Dämmerlicht. Über den beiden Zweisitzern hingen Plastikhüllen, überall standen Umzugskisten.

»Wahrscheinlich haben sie auch hier den Strom abgestellt«, tippte er.

Felicia blieb stumm. Sie trat an das Fenster und blinzelte in das dämmrige Zimmer.

»Was hältst du davon, wenn wir Sable anfordern«, schlug sie vor.

»Damit uns irgendein blöder Köter sämtliche brauchbaren Hinweise kaputttrampelt? Vergiss es. Das regel ich auf meine Art.«

»Aber Jacob …«

»Ich kletter jetzt rein, Feleesh. Du gibst mir Deckung, okay?«

Striker zog seinen Mantel aus und legte ihn zum Schutz vor möglichen Glassplittern über den Fensterrahmen. Dann zog er seine SIG Sauer und schwang sich in geduckter Haltung über das Fensterbrett.

Das Erste, was ihm auffiel, war der feuchte Mief in dem Zimmer, den Tapete und Möbel verströmten. Der Geruch erinnerte ihn an die ungelüfteten Wohnungen alter Leute. Er leuchtete mit der Maglite in sämtliche Ecken, und als er sich sicher wähnte, pirschte er sich vorsichtig weiter zur Küche. Nichts.

Die Wohnung wurde bestimmt nicht mehr bewohnt.

»Warte«, rief Felicia leise. »Ich komm mit.«

Er grinste. Weil ihm sonnenklar war, dass sie letztlich mitkommen würde. Sie hatte zwar ihren Dickkopf, aber wenn es drauf ankam, war sie verlässlich wie ein Uhrwerk. Das mochte er besonders an ihr.

Er bedeutete ihr, auf ihre Deckung zu achten. Sie nickte. Striker ging voraus. Sie schoben sich langsam zur Frontseite, stiegen zwei Treppen hinauf. Auf ihrem Weg nach oben inspizierten sie jeden Raum. Sie passierten zwei Schlafräume, ein Bad, ein Arbeitszimmer, ein weiteres geräumiges Schlafzimmer und erreichten schließlich die zweite Etage.

Felicia schaute sich suchend um und schüttelte leise fluchend den Kopf. »Seltsam, hier ist keine Treppe, die zum Speicher führt.«

Striker deutete mit dem Finger nach oben. Von der Decke baumelte eine lange Nylonschnur. Er packte den Griff, dann fixierte er Felicia mit einem harten Blick.

»Gib mir Deckung«, sagte er leise.

»Okay«, erwiderte sie.

Er riss kräftig an der Nylonschnur. Worauf sich die Falltreppe knirschend von der Decke löste und in einer Wolke aus Staub und Sägemehl nach unten schwenkte. Nach einem kurzen Nicken zu Felicia kletterte Striker die Stufen hoch. Die Treppe war steil, das Holz alt und morsch, dennoch ließ er sich nicht abschrecken. Zehn Stufen und er stand halb in der Öffnung zum Speicher.

Dort oben war es dunkel, staubig und eisig kalt.

Er leuchtete mit der Maglite in sämtliche Ecken. Nichts Verdächtiges. Auf der Ostseite des Speichers befand sich das Fenster mit den aufgebrochenen Holzläden. Er wollte spontan hinlaufen, verwarf den Gedanken jedoch wieder. Und pfiff sich mental zurück. Der Strahl seiner Maglite huschte von den verwinkelten Wänden über den Boden. Der Detective stutzte. Auf dem staubigen Boden unter dem Fenster waren Abdrücke erkennbar. Schwach und undeutlich zwar, aber das war immerhin etwas.

Felicia kletterte zu ihm in die Speicherluke. Sie fixierte ebenfalls die Abdrücke. »Irgendeine Vorstellung, wovon die stammen könnten?«, erkundigte sie sich.

Striker setzte sich auf die oberste Treppenstufe und inspizierte von dort aus die Spuren. Zwei, drei Zentimeter lange Spuren, absolut parallel.

»Vielleicht stand da ein Koffer. Oder ein Regal. Oder ein Generator. Keine Ahnung.«

Der Ermittler stand auf und ging zum Fenster, akribisch darauf bedacht, die Spuren nicht zu zerstören. Er blickte nach unten. Auf das unbebaute Grundstück. Und das Lucky Lodge.

»Hast du zufällig dein Fernglas mit?«, wollte er wissen.

Felicia nickte. »Logo.« Sie fischte es aus der Manteltasche, ein Andenken an ihre Zeit bei der Personenüberwachung.

Striker hatte sich immer eins kaufen wollen. Er sah durch das Fernglas nach draußen. Richtete es auf Mandy Gills Pensionszimmer – und hatte den perfekten Durchblick. Er sah ihre Kochnische, die Tür zum Flur, die Tür zum Bad und Mandy, tot im Sessel.

Noodles war noch am Tatort und sicherte Beweismaterial.

Für eine Überwachung von Apartment 303 war der Speicher optimal.

Striker gab Felicia das Fernglas zurück. Er leuchtete mit der Maglite über den Rahmen, das zerbrochene Glas, den Holzladen auf der Suche nach weiteren möglichen Hinweisen. Dann griff er durch den Fensterrahmen und hob eine Glasscherbe auf. Daran hing ein schmaler schwarzer Streifen Leder.

»Das ist Leder, nicht?«, japste Felicia aufgeregt.

Striker nickte. Er steckte Lederfetzen und Glasscherbe in einen Plastikbeutel, den er beschriftete und einsteckte.

»Soll ich alles mit Absperrband versehen?«, wollte seine Kollegin wissen.

»Ja. Er war hier. Daran besteht überhaupt kein Zweifel.«

Zornesblind
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