Aufmerksam sah mir Dr. Katz über ihr Klemmbrett hinweg zu, wie ich ein weiteres Tuch aus der Kleenexbox rupfte, mir damit über die Augen wischte und dann hineintrompetete, bevor ich es in den Papierkorb warf, der jetzt immer schon neben meinem blauen Sessel stand, wenn ich zu ihr kam. Unmengen Kleenex verbrauchte ich inzwischen bei ihr; nachdem ich früher nie geweint hatte, schien ich jetzt nicht mehr damit aufhören zu können.
»Wie war es für dich, Shanes Eltern davon zu erzählen?«
Mrs Diggs, die nach wie vor darauf bestand, dass ich sie Tasha nannte, hatte mich mehrmals im Krankenhaus besucht; voller Trauer, aber gefasst hatte sie dabei jedes Mal gewirkt, und sie schien sich mehr um mich zu sorgen, als mir vorzuwerfen, dass ihr Sohn nicht mehr lebte. Weil ich es war, die Shane von der Straße zurückzureißen versucht hatte und die er schließlich mit seinem muskulösen Körper vor den schlimmsten Verletzungen bewahrt hatte. Ein tragischer Unfall, so sah sie es, genau wie die Polizei es in ihrem Bericht festgehalten hatte, eine schicksalhafte Kombination aus Wetterlage und einer Verkettung unglücklicher Umstände.
Seine Beerdigung hatte ich verpasst, weil ich da noch auf der Intensivstation gelegen hatte. Was ich einerseits bedauerte, andererseits war ich auch froh drum; ich wusste nicht, wie ich das hätte überstehen sollen. Es war schon schlimm genug, jetzt, mit einigem zeitlichen Abstand, in der Schule angegafft zu werden; ich, das Mädchen, dem Shane-der-Held das Leben gerettet und sein eigenes dafür geopfert hatte. Aber nachdem ich es inzwischen geschafft hatte, zweimal auf den Friedhof zu gehen und Blumen auf sein Grab zu legen, und ich mich körperlich (und nach Ansicht von Dr. Katz auch seelisch) dazu in der Lage fühlte, hatte ich gestern Shanes Familie besucht.
»Schlimm war es«, erwiderte ich und zupfte ein neues Kleenex aus der Box. »Ich fühle mich nach wie vor schuldig, dass ich mich nicht von der Stelle rühren konnte dort auf der Straße. Dass Shane ums Leben kam, weil er mir helfen wollte. Es war absolut schrecklich, bei ihnen zu Hause zu sein, ihnen ins Gesicht zu sehen und ihnen dann auch noch Grüße von ihrem toten Sohn auszurichten.« Ich prustete in das Kleenex und griff schon nach dem nächsten. »Und wie lieb sie zu mir waren, war mindestens genauso schlimm – und gleichzeitig hat es mir so gutgetan.«
Auf dem Sofa mit den riesigen Mohnblumen im Wohnzimmer der Diggs hatte ich stockend und unter Tränen davon erzählt, wie ich während meines Herzstillstands auf der anderen Seite gewesen war und mich von Shane verabschiedet hatte. Tasha war die Erste gewesen, die sich zu mir auf das Sofa gesetzt und meine Hand genommen hatte. Kinder sind eine Leihgabe Gottes, hatte sie leise gesagt. Irgendwann muss man sie ziehen lassen. Die einen später, die anderen früher – und manchmal werden sie einem leider auch viel zu früh schon entrissen. Sie wechselte einen kurzen Blick mit ihrem Mann Nelson, den ich kaum anschauen konnte, weil er Shane so ähnlich sah; dieselbe kräftige Statur und dieselben starkknochigen Gesichtszüge, und auch seine grau melierten Haare trug er so kurz geschoren wie sein Sohn. Ich bin froh, dass du ihm noch einmal begegnet bist und uns jetzt sagen konntest, dass es ihm gut geht und dass er glücklich ist. Mit einem kleinen Lächeln sah sie ihren Mann und die beiden Mädchen an, dann wieder mich. Wir wissen ja, dass wir ihn eines Tages wiedersehen werden.
Kayla hatte mit großen Augen zugehört; dann hatte sie sich zwischen ihre Mutter und mich auf das Sofa gequetscht und eng an mich gekuschelt, beide Ärmchen fest um mich geschlungen. Mit einem tiefen Ausatmen war Nelson aufgestanden, hatte sich neben mir wieder niedergelassen und mir vorsichtig die Hand auf die Schulter gelegt. Und Tamika hatte mich aus ihrem hübschen, völlig verweinten Gesicht angesehen und so etwas wie ein Lächeln zustande gebracht. Ich hatte mich noch nie so elend und gleichzeitig so getröstet gefühlt.
»Ich denke, für dich war es ganz wichtig, zu ihnen zu gehen und darüber zu sprechen«, sagte Dr. Katz leise. »Und auch die Erfahrung, dass Shanes Familie dir keine Vorwürfe macht. Auch wenn du schwer an deinem Schuldgefühl trägst: Das ist etwas, das du von nun an mit dir selbst ausmachen musst. Mit meiner Hilfe natürlich.«
Wackelig erwiderte ich ihr Lächeln und nickte. Sobald ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, hatte ich den ersten Termin bei Dr. Katz gemacht. Auf meiner Krücke und mit Gipsarm war ich dreimal die Woche mühselig aus dem Taxi gekrabbelt und dann in ihre Praxis gehumpelt; so nervig ich es früher oft fand, zu ihr zu gehen, so lebenswichtig waren mir die Stunden bei ihr nun geworden.
Ich wollte nichts mehr verschweigen und vor nichts mehr im Leben davonlaufen, das war etwas, was ich aus dem Unfall gelernt hatte, und daraus, dass ich für einige Minuten tot gewesen war. Dafür war das Leben einfach zu kurz, und so sprudelte ich in jeder Stunde bei Dr. Katz unsortiert alles heraus, was ich auf dem Herzen hatte und was mir durch den Kopf ging. Geweint hatte ich in diesen Stunden, geschrien und getobt und mir buchstäblich alles von der Seele geredet. Meine Wut auf Mam, weil sie krank geworden und gestorben war. Weil sie einfach bestimmt hatte, dass ich hier leben sollte, und wie mies ich es selbst von mir fand, ihr deshalb böse zu sein. Und wie ungeheuer ich sie vermisste – etwas, das nach Meinung von Dr. Katz wohl nie ganz vorbei sein, mit dem ich aber zu leben lernen würde. Meine Wut auf Dad, weil er so viele Jahre einfach nie dagewesen war, und wie es sich anfühlte, ihn trotzdem gern zu haben und gut mit ihm klarzukommen. Ein paarmal hatte ich mich an der Uni als Gasthörerin in seine Vorlesungen gehockt; es war spannend, was er über die Bräuche und den Glauben verschiedener Völker erzählte, während er über einen Beamer dazu passende Bilder von seinem Laptop an die Leinwand warf. Und wenn ich mich verstohlen umschaute und sah, wie gebannt ihm die Studenten zuhörten, eifrig mitschrieben und über seine Scherze lachten, war ich ziemlich stolz auf meinen Dad.
Auch von Nathaniel hatte ich Dr. Katz endlich erzählt und sie hatte mich weder für verrückt gehalten noch in die Klapse eingewiesen. Sondern mir einfach zugehört und immer wieder verdammt kluge Fragen oder Bemerkungen dazu eingeworfen.
»Wissen Sie«, fing ich nach einer kleinen Pause wieder an, »was mir momentan zu schaffen macht?« Auffordernd hob Dr. Katz die Brauen. »Dass ich das Gefühl habe, das ist alles gar nicht wirklich passiert. Der Unfall schon, und auch dass Shane nicht mehr da ist. Aber alles andere, die Sache mit den Geistern und das mit Nathaniel. Als ob ich das nur geträumt hätte. Als ob es gar nicht real gewesen wäre.«
Dr. Katz ließ den Kugelschreiber sinken und sah mich erstaunt an. »Muss es denn real gewesen sein?«
Verständnislos glotzte ich sie an. »Wie meinen Sie das?«
Sie hob die Schultern in ihrer tollen pinkfarbenen Seidenbluse. »Nun, wenn du es für dich als real erlebt hast, dann ist es auch wirklich passiert. Vollkommen unabhängig davon, ob es tatsächlich so war. Meinst du nicht? Wir sehen uns übermorgen wieder.«
So schnell ich es mit meiner Krücke konnte, marschierte ich durch den Frühjahrsnebel die Powell Street hinauf, an dem dichten Verkehr und den bimmelnden und ratternden Cable Cars voller Touristen vorbei. Nächste Woche würde ich auch dieses mintgrüne Mistding endlich los sein, mit dem ich mein linkes Bein noch ein bisschen schonen sollte. Die Chirurgen im General Hospital und das Physio-Team im Saint Francis, wohin ich danach verlegt worden war, hatten wirklich ganze Arbeit geleistet, selbst meinem linken Arm merkte ich nur noch manchmal an, wie kompliziert er gebrochen gewesen war. Ich schmunzelte in mich hinein, als ich daran dachte, wie sich Gabi jedes Mal am Telefon genau beschreiben ließ, was Cindy, Hannah und Landon in der ambulanten Reha mit mir machten und mit welchen Fortschritten mein Körper darauf reagierte; sie schien es sehr zu bedauern, dass sie mich nicht selbst unter ihre Fittiche nehmen konnte, nachdem fast ihr ganzer Jahresurlaub schon dafür draufgegangen war, so schnell wie möglich hierherzufliegen und bei mir zu sein, als ich noch im Krankenhaus lag.
Vor dem Eingang zu Starbucks schaute ich schnaufend auf meine Armbanduhr und stieß einen erstaunten Pfiff aus. Heute war ich wirklich schnell gewesen, viel schneller als ich einkalkuliert hatte; erst in einer halben Stunde war ich mit den anderen hier verabredet.
Schwungvoll riss ich die Tür auf und stellte mich in die Schlange vor dem Tresen.
»Hi, Sweetie!«, begrüßte mich Tammy mit dem blonden Pferdeschwanz, als ich an der Reihe war. »Geht’s dir gut? Du siehst heute fabelhaft aus! Caffè Latte Grande, wie immer?«
Mit meinem Becher in der Hand steuerte ich durch den ziemlich vollen Starbucks das Fenster zur Sutter Street hin an, unter dem die hohen Barhocker standen; auf denen saß ich einfach lieber, weil ich da mein lädiertes Bein besser ausstrecken konnte. Ich lehnte die Krücke ans Fensterbrett, zog mir die Mütze vom Kopf und die Jacke aus und setzte mich auf dem Hocker zurecht, bevor ich den Deckel vom Becher pulte; inzwischen hatte ich kapiert, dass der kochend heiße Kaffee so schneller abkühlte. Mein Blick fiel auf mein Spiegelbild vor der Fassade des Marriott und auf ein paar Haarsträhnen, die sich aufgestellt hatten und die ich mir wieder zurechtzupfte.
Damit ich mit Gipsarm und kaputtem Bein im Alltag besser zurechtkam, hatte Holly mir meine langen Haare abgeschnitten, und obwohl ich eingesehen hatte, dass es sinnvoll war, hatte ich geweint, als eine der langen Strähnen nach der anderen zu Boden fiel. Auch deshalb, weil Nathaniel meine Haare geliebt hatte und so gern mit seinen Händen hindurchgefahren war. Alte Zöpfe abschneiden, hatte Dr. Katz meine neue Frisur augenzwinkernd kommentiert. Mittlerweile mochte ich mich mit dem frechen Pixie-Cut; ich fand, ich sah damit erwachsener aus, und alle um mich herum sagten, dass er mehr von meinem hübschen Gesicht sehen ließ. Na ja.
Ohne Holly wäre ich echt aufgeschmissen gewesen in den letzten Monaten. Ich hatte keine Ahnung, wie sie das mit ihrem Laden hingekriegt hatte, aber sie war morgens schon bei uns auf der Matte gestanden, um mir beim Waschen und Anziehen zu helfen, mir ein bisschen die Zeit zu vertreiben und abends dann wieder, um mich bettfertig zu machen. Oft hatte Dad sie eingeladen, mit uns zu Abend zu essen; da ich durch mein Handicap als Küchenhilfe ausfiel, hatte sie an meiner Stelle nach seinen Anweisungen Gemüse geschnippelt und die Soße umgerührt und dabei ohne Pause erzählt. Und manchmal, wenn ich mich längst in mein Bett verzogen hatte, konnte ich sie und Dad noch lange reden hören. Gesprächsfetzen waren in mein Zimmer herübergedrungen, wenn sie sich über Dads Reisen und über Bücher unterhielten, über Beziehungen und Männer- und Frauenrollen; über patriarchalische und matriarchalische Gesellschaftsstrukturen, Göttinnen der Weltreligionen und Archetypen und darüber, dass Holly vielleicht ihren College-Abschluss nachholen und studieren wollte. Ein sanftes, beruhigendes Hintergrundgeräusch hatte sich an diesen Abenden aus ihren beiden Stimmen gewoben, das mich in den Schlaf wiegte.
Dieses Bett-Dings zwischen Holly und Matt war kurz nach der Unfallnacht im Sand verlaufen, warum und wann genau, das wussten die beiden wohl selbst nicht so richtig. Matt musste irgendwann doch begriffen haben, wie gut er Abby eigentlich fand. Wenn man die beiden zusammen erlebte, hatte man zwar öfter mal den Eindruck, sie könnten sich nicht ausstehen, weil sie sich eigentlich ständig in den Haaren lagen. Aber bei ihnen stimmte es definitiv, dass sich neckt, was sich liebt; die Blicke, die sie sich in ihren Wortgefechten zuwarfen, sprachen ebenso Bände wie ihre zärtlichen Küsse vor den Schließfächern.
Über Geister sprachen wir kaum noch. Ab und zu sah einer von uns zwar noch einen Geist in der Stadt und manchmal liefen wir an der Jefferson High dem Jungen mit den stoppelkurzen Haaren und den veilchenblauen Augen über den Weg. Aber irgendwie hatte es nicht mehr dieselbe Bedeutung für uns; vielleicht weil wir seitdem alle dem Tod zu nahe gekommen waren und jetzt den Blick weitaus mehr auf das Leben richteten. Vergessen hatten wir es trotzdem nicht, dass es die Welt der verlorenen Seelen gab. In den letzten Wochen war auf Abbys zierlichem Rücken in Carsons Studio ein wunderschönes Tattoo entstanden: ein filigranes, ineinander verschlungenes Drachenpärchen in klassischem Schwarz, das in den Klauen und in den eingeringelten Schwänzen mächtige Symbole wie das ägyptische Auge des Osiris und das Sanskrit-Zeichen des Om umklammerte. Von Holly zur Abwehr von Geistern entworfen, hatte Carson, der einen Abschluss der Academy of Art University hatte, damit ein wirkliches Kunstwerk geschaffen.
Ein paarmal war ich zum Tätowieren mitgegangen, und während Carson Stück um Stück das Tattoo in Abbys Haut stach und mir zwischendurch immer wieder zuzwinkerte, hatte mir Abby unter dem surrenden Geräusch des Tätowiergeräts im Flüsterton ihr Herz ausgeschüttet. Etwa, dass sie sich manchmal Gedanken machte, ob Matt nicht doch zu sehr Holly nachtrauerte und wie lange sie mit dem ersten Mal noch warten sollte. Oder wie oft sie sich gerade mit ihren überfürsorglichen und traditionsbewussten Eltern zoffte, die zwar glücklich darüber waren, dass Abby gute eineinhalb Jahre nach ihrem Selbstmordversuch so aufblühte und ihren Gothic-Look komplett abgelegt hatte. Aber nun machte ihnen zu schaffen, dass ihr erster fester Freund ausgerechnet ein Chinese sein musste. Mit Haaren in Napalm Orange. Was ihr blühte, wenn ihre Eltern je herausfanden, dass sich Abby mit einem gefälschten Perso und ihrem ganzen Ersparten das Tattoo hatte machen lassen, wollten wir gar nicht wissen. Und jedes Mal wenn wir gemeinsam das Tattoostudio wieder verließen, um noch einen Kaffee hier bei Starbucks zu trinken, schwor Abby hoch und heilig, dass Carson total auf mich stand.
Ich mochte Carson mit seinem braunen Wuschelkopf und den warmen braunen Augen, seiner lässigen Art und seinem Witz. Ein bisschen kleiner als ich und ziemlich durchtrainiert, war er mit seinen Tattoos auf den Unterarmen, den Tunneln in den Ohren und dem Silberring in der Unterlippe ein absoluter Hingucker, und ich konnte gut mit ihm über alles Mögliche reden. Aber mehr als das konnte ich mir einfach nicht vorstellen. So weit war ich noch nicht. Noch lange nicht.
Nach allen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit würde ich mich irgendwann wieder verlieben, das sagte mir mein Verstand. Aber ich vermisste Shane an jedem einzelnen Tag, und nie wieder würde ich jemanden so lieben wie Nathaniel, das wusste ich aus tiefstem Herzen. Manchmal, wenn ich es gar nicht mehr aushielt, zog ich die blaugrüne Decke aus der Plastiktüte unten in meinem Kleiderschrank und vergrub mein Gesicht darin. Sie roch muffig und kein bisschen nach Nathaniel, genauso wenig wie die türkisfarbene Strickjacke noch nach Mam roch, und obwohl es mir jedes Mal wehtat, fühlte ich mich trotzdem ein klein wenig getröstet.
Ich war damit zufrieden, mich für Matt und Abby zu freuen und insgeheim darauf zu hoffen, dass sich zwei andere Menschen, die mir nahe standen, vielleicht auch noch fanden. Denn als gestern Abend Holly tropfnass vor der Tür gestanden hatte, weil sie auf dem Weg zu uns in einen Regenschauer gekommen war, schien sie nichts dagegen gehabt zu haben, nach einer heißen Dusche in einer aufgekrempelten Jeans und dicken Socken von mir und in einem von Dads Hoodies mit uns auf dem Sofa zu hocken, einen Film zu gucken und Pizza zu essen. Irgendwann hatte ich das Gefühl gehabt, die beiden wären lieber unter sich, so wie sie sich über meinen Kopf hinweg verstohlene Blicke zuwarfen, und schmunzelnd hatte ich mich extra früh ins Bett verkrümelt. Das Rattern der Kaffeemaschine hatte mich heute früh noch vor dem Weckerpiepsen aufwachen lassen, und als ich schlaftrunken in Richtung Badezimmer tappte, weil ich aufs Klo musste, hatte ich Dad dabei erwischt, wie er sich in T-Shirt und Boxershorts mit zwei dampfenden Bechern durch das Wohnzimmer in sein Schlafzimmer schleichen wollte. Wie angewurzelt war er stehen geblieben und rot angelaufen, bevor er mir ein verlegenes Guten Morgen zugemurmelt hatte und hinter der Tür zu seinem Zimmer verschwunden war, in dem ich auf meinem Rückweg Holly leise lachen hörte.
Ich wünschte mir wirklich, dass das mit den beiden funktionierte; denn Holly als Quasi-Stiefmom zu haben, das würde ich echt super finden. Obwohl es ja schon ziemlich schräg wäre, wenn ich daran dachte, dass sie vorher eine Bettgeschichte mit meinem besten Freund gehabt hatte.
Aber hey, das Leben war nun einmal nicht perfekt, das hatte ich inzwischen gelernt. Nichts auf dieser Welt war perfekt. Ich würde für den Rest meines Lebens eine fiese Narbe am Oberschenkel haben und eine fast genauso fiese an meinem linken Ellenbogen, die mich immer daran erinnern würden, dass ich in ein und derselben Nacht meine große Liebe und einen sehr guten Freund verloren hatte. Nach dem Unfall hatte ich in der Schule eine Menge versäumt und saß jetzt trotz Nachhilfestunden bei Matt in Mathe und anderen Hassfächern mit Abby in der Klassenstufe, während ich in meinen AP-Kursen ums Mithalten kämpfte; wenn ich einen guten Schulabschluss hinbekommen wollte, musste ich mich ranhalten. Ich würde auch nie eine echte Amerikanerin werden; die Nationalhymne des Star-spangled Banner rührte mich nicht zu Tränen und vermutlich würde ich weder die Regeln von Baseball noch die von Football jemals wirklich kapieren. Die sichtbare Armut und die vielen Obdachlosen auf den Straßen von San Francisco machten mir immer noch zu schaffen, und manchmal war mir die Stadt mit ihren vielen Autos und dem permanenten Sirenengeheul der Einsatzfahrzeuge immer noch zu laut. Aber es war die Stadt, in der ich jetzt lebte, mit ihren bunten, verspielten Straßenzügen und der orangerot leuchtenden Golden Gate Bridge. The City by the Bay, in der sich Sommer wie Winter dicker Nebel und ein kalter Wind mit freundlichen Tagen abwechselten, an denen die Sonne den Himmel aufstrahlen ließ. Eine quirlige, lebendige Stadt war San Francisco und auf eine Art war sie mein Zuhause geworden. Das hatte ich auch Oma und Opa klar am Telefon gesagt und nach langen Diskussionen hatten sie es endlich geschluckt. Vielleicht würden sie mich einmal besuchen kommen, so wie Julia es für den kommenden Sommer vorhatte. Home is where the heart is, heißt es, und mein Herz hatte definitiv hier Wurzeln geschlagen, irgendwann in den letzten sechzehn Monaten. Durch Ted, meinen Vater. Durch Matt, Holly, Abby und Shane. Und durch Nathaniel.
»Entschuldigung«, sagte eine männliche Stimme neben mir, die tief war und ein bisschen heiser klang. »Ist der Platz neben dir noch frei?«
Ich sah auf, direkt in ein Paar Augen, die grün waren. Ein tiefes, warmes Grün, fast Oliv, und mit feinen braunen Sprenkeln darin. Wie Laub im Spätsommer, kurz bevor es sich zu färben beginnt. Zu einem flächigen Gesicht mit einer schweren, kantigen Kinnlinie und einer markanten Nase gehörten diese Augen, die zu den Schläfen hin etwas abfielen. Wilde dunkle Locken in einer Farbe irgendwo zwischen Braun und Schwarz fielen ihm in die Stirn und mein Blick blieb an seinem großen, vollen Mund hängen. Nathaniel.
Mit einem erstickten Aufschrei machte ich einen Satz auf meinem Barhocker und stieß dabei den Kaffee auf dem Fensterbrett um.
Wortlos stellte der Junge, der aussah wie Nathaniel, seinen eigenen Becher ab und drehte sich um, ging zu der Service-Insel mit Zuckertütchen, Süßstoff und Rührstäbchen und kehrte mit einem Stapel Papierservietten zurück. Sein starkknochiges Gesicht mit den geraden Brauen konzentriert zusammengezogen, wischte er den verschütteten Kaffee auf und stellte den umgefallenen Pappbecher wieder hin.
»Hast du dich verbrüht?« Er musterte die Kaffeespritzer auf meiner Bluse mit blau-weißem Karomuster und meiner Jeans. Wie betäubt schüttelte ich den Kopf. »Warte, ich hol dir einen neuen. Caffè Latte Grande. Ohne alles, richtig?«, fragte er mit Blick auf den mit seinem Inhalt beschrifteten Becher. Ich nickte.
Aus dem Augenwinkel sah ich ihn weggehen und mit rasendem Herzschlag starrte ich einige Sekunden vor mich hin. Es konnte nicht sein, es konnte einfach nicht sein. Tote kehrten nicht zurück. Oder doch? Vorsichtig warf ich einen Blick über meine Schulter. Er hatte gerade dasselbe getan und wandte jetzt hastig den Kopf wieder nach vorne. Seine Schultern unter der grellgrünen Sweatjacke ruckten, als wäre ihm mein Blick unangenehm. Oder als wäre er unsicher. Ich beobachtete ihn, wie er in der Schlange vorrückte und dann seine Bestellung aufgab. Er war genauso groß wie Nathaniel und auch ungefähr in demselben Alter, neunzehn oder zwanzig. Vielleicht ein bisschen schmaler gebaut, das konnte ich nicht genau erkennen; nicht unter der weiten Jacke und den locker sitzenden Jeans, in deren Gesäßtasche ein zerlesenes Paperback steckte und zu denen er abgestoßene Turnschuhe trug. Als er weiterging und ich dabei einen Seitenblick von ihm auffing, sah ich schnell wieder geradeaus, und mein Blick fiel auf seinen Becher. JOE war mit schwarzem Filzstift daraufgeschrieben. Er hieß Joe. Einfach nur Joe. Nicht Nathaniel. Ich sank auf meinem Hocker in mich zusammen.
Womöglich hatten sich die Ärzte geirrt und mein Hirn hatte durch den Aufprall meines Schädels auf den Asphalt oder durch den Herzstillstand doch einen Schaden abbekommen, obwohl auch die letzten CTs und Tests ohne Befund gewesen waren. Vielleicht war ich seitdem auch völlig durchgeknallt – oder es vorher schon gewesen, sodass ich mir meine Zeit mit Nathaniel tatsächlich nur eingebildet hatte. Oder …
»Hier.« Er stellte den frischen Kaffeebecher vor mir ab. »Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken.«
»Danke«, flüsterte ich, und aus einem Bauchgefühl heraus setzte ich schnell hinzu: »Der Platz ist übrigens tatsächlich noch frei. Also – falls du jetzt noch neben mir sitzen magst.«
Er zögerte, dann zuckte ein winziges Lächeln um seine Mundwinkel. »Klar. Warum nicht.«
Aus dem Augenwinkel beobachtete ich ihn, wie er schweigend neben mir saß und an seinem Kaffee nippte. Die Ähnlichkeit zu Nathaniel war wirklich verblüffend, sogar die kleine halbmondförmige Narbe zwischen Schläfe und Jochbein konnte ich entdecken. Nur bewegte sich Joe anders, nicht halb so geschmeidig wie Nathaniel früher, eher ein bisschen unbeholfen. Als ob ihm sein Körper noch fremd war, weil … Stopp, Amber. Hör auf, so zu denken. Er kann nicht Nathaniel sein, das ist unmöglich.
»Was ist mit deinem Bein passiert?« Mit dem Kinn ruckte er in Richtung der Krücke.
»Ich hatte vor ein paar Monaten einen Unfall. Ein Taxi hat mich erwischt.« Ich bekam einen Kloß im Hals und konzentrierte mich auf den Kaffeebecher vor mir. »Ein sehr guter Freund von mir ist dabei gestorben.«
Ich spürte seine Augen auf mir. »Das tut mir sehr leid.«
»Danke«, würgte ich hervor, nahm meinen Becher und trank einen Schluck Kaffee, an dem ich mir prompt die Zunge verbrannte.
Er nickte zu dem leeren Kaffeebecher hin, den ich vorhin umgestoßen hatte »Amber heißt du, ja?« Am-berrr. Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken und ich nickte. »Passt zu dir.«
Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen. »Nimm’s mir nicht übel – aber ich finde, du siehst gar nicht aus wie ein Joe.«
Rasch senkte er die Augen auf den Kaffeebecher in seinen Händen; sein ganzes Gesicht war in Bewegung und spannte sich dann an. Mit einem tiefen Einatmen richtete er sich wieder auf; der Ausschnitt seines übergroßen weißen T-Shirts unter der Sweatjacke geriet dabei ins Rutschen und ich erhaschte einen Blick auf sein Schlüsselbein. Die Stelle, die mich an Nathaniel immer ganz verrückt gemacht hatte. Und darüber konnte ich an seinem Hals eine Ader heftig pochen sehen. Ich hätte losheulen können.
»Ähm, also«, fing er verlegen an und fuhr sich mit einer Hand durch die Locken. »Ich hoffe, du hältst mich jetzt nicht für verrückt oder denkst, dass ich dich irgendwie blöd anmachen will …« Geräuschvoll stieß er den Atem aus. »Aber du scheinst ganz in Ordnung zu sein und … ganz ehrlich, ich … Also, ich weiß nicht, ob ich wirklich Joe heiße. Den Namen haben mir die anderen gegeben. Kurz für John Doe.« Leiser fügte er hinzu: »Ich weiß nicht, wie ich heiße. Wer ich überhaupt bin.«
Mein Herz hämmerte wie verrückt gegen meine Rippen. »Welche … welche anderen?«
»Die anderen Obdachlosen.« Seine Wangen färbten sich. »Die mich gefunden und sich ein bisschen um mich gekümmert haben.«
»Was ist passiert?«, flüsterte ich tonlos.
Er hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich bin im Dezember in einem Hinterhof zwischen den Müllcontainern zu mir gekommen, nachdem mich Terry und Ed geschüttelt haben. Wie bewusstlos muss ich dagelegen haben, wer weiß, wie lange. Sie haben mich in ihr Asyl in der Sutter Street mitgenommen und da wohne ich jetzt.« Sein Kopf ruckte in Richtung der Straßenecke gegenüber. »Ich arbeite ein paar Stunden die Woche bei Walgreens. Kartons auspacken und Ware auffüllen und so. Ist ganz okay.«
Meine Kehle war eng und ich musste schlucken. »Und du … du kannst dich an nichts erinnern.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Manchmal …« Sein Blick glitt ins Leere. »Manchmal denke ich, dass mir etwas irgendwie bekannt vorkommt. Aber wirklich vertraut ist es mir nie, alles ist irgendwie … fremd. Und was mich selbst angeht, ist alles schwarz. Wie ausgelöscht.«
Ich schaute ihn an und sah Nathaniel vor mir, in seinem grauen Hemd, der dunklen Hose und den klobigen Schuhen. »Was hast du angehabt?« Seine Brauen zogen sich verständnislos zusammen. »An dem Tag, als sie dich gefunden haben – was hattest du da an?«
Bis unter die Haarwurzeln lief er rot an. »Nichts.«
»Nichts wie in gar nichts?«, rutschte es mir heraus, und glutrot im Gesicht nickte er.
»Autsch.«
Er warf mir einen schnellen Blick zu, dann hob sich einer seiner Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen. »Eher arschkalt.«
Ich gluckste in mich hinein, und als wir uns in die Augen schauten, lachten wir beide.
»Du bist wirklich schwer in Ordnung«, sagte er dann leise.
Ich zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Ja, es war ganz und gar unmöglich, dass Nathaniel neben mir saß. Dass ihm eine zweite Chance gewährt worden war und er sich dieses Mal an rein gar nichts mehr erinnern konnte. Noch nicht einmal an mich. Aber was hatte ich bis vor einem Jahr nicht alles für unmöglich gehalten … Vielleicht … vielleicht.
Entschlossen setzte ich meinen Kaffeebecher auf dem Fensterbrett ab, schob mich vom Hocker herunter und stellte mich dicht vor Joe hin. Ich war so aufgeregt, dass meine Knie zitterten und ich ins Schwanken geriet.
»Hey, Vorsicht.« Mit einer Hand hielt er mich am Arm fest. Wie ein elektrischer Schlag jagte es durch mich hindurch, und dort, wo er mich berührte, drang seine Wärme durch meine Bluse bis auf meine Haut. Eine leichte Röte auf den Wangen, stellte er seinen eigenen Becher weg. »Alles okay bei dir?«
»Sag ich dir gleich«, murmelte ich, legte meine Arme um seinen Hals, holte tief Luft und drückte meinen Mund auf seinen. Mit einem überraschten Laut versteifte er sich; einen Augenblick lang dachte ich, er würde sich mir entziehen oder mich wegschubsen. Aber dann legte er seine Hand auf meinen Rücken, drückte mich an sich und erwiderte meinen Kuss, erst ein bisschen ungeschickt, dann zunehmend sicherer. Er schmeckte nach Kaffee und Milch, süß und ein bisschen salzig, und ich ertrank geradezu in diesem Kuss, der mich erschauern ließ und mein Herz in Jubel versetzte.
»Whu-huuuuu«, johlte es hinter mir; jemand pfiff anerkennend. Eine Jungsstimme rief prahlerisch: »Heyyyy! Das ist Amerika! Das ist San Francisco! Hier ist alles möglich!«
Ich musste kichern, und auch Joe lachte auf, bevor wir uns voneinander lösten. Ich konnte nicht anders, ich musste mein Gesicht in seine Halsbeuge pressen, die knochige Härte seines Schlüsselbeins spüren, seine weiche Haut dort an meiner und vor allem seinen Pulsschlag, einen kräftigen, gleichmäßigen Pulsschlag. Tief sog ich seinen Geruch ein, ein bisschen nach muffigen Klamotten, nach Waschpulver und einem billigen Duschgel; darunter roch er moosig und holzig. Nach Haut und Haar und ganz und gar lebendig roch er und ich zerfloss vor Seligkeit.
»Ähmm«, hörte ich ihn zögerlich sagen, »Bist du immer so direkt?« Lächelnd warf ich den Kopf zurück und sah ihn an. Ein kleines Grinsen auf dem Gesicht, setzte er hinzu: »Ich dachte ja, ich wäre nicht ganz richtig im Kopf, aber du bist …«
»Crazy? Gaga? Durchgeknallt?«, fiel ich ihm übermütig ins Wort. »Kann schon sein!«
Sein Grinsen wurde zu einem warmen Lächeln. »Nein, das hab ich nicht gedacht. Funny hab ich gedacht.« Er nickte vor sich hin. »Dass du ein Funny Girl bist, das hab ich gedacht.«
Sein Lächeln verlosch und ging in einen verwirrten, fast ungläubigen Ausdruck über. Forschend wanderten seine Augen über mein Gesicht, und während er mich weiter in seinem Arm hielt, strichen die Finger seiner anderen Hand behutsam über meine Wange und spielten dann mit einzelnen Strähnen meiner kurzen Haare. Sein Blick wurde weich, und zögerlich näherte er sein Gesicht wieder meinem, hielt einen Augenblick inne und küsste mich noch einmal. Fester dieses Mal, drängender, und wie in einer stummen Frage.
Ewig schien dieser Kuss zu dauern, in dem er mich festhielt und immer näher an sich zog. In dem ich mit jedem Herzschlag stärker das spürte, was Nathaniel und mich verbunden hatte und in dem doch etwas ganz und gar Neues, Aufregendes, Kribbelndes lag.
Ein mehrstimmiges, erschrockenes Ausatmen hinter uns ließ uns auseinanderfahren und ich wandte den Kopf. Holly, Abby und Matt waren hereingekommen und sahen aus, als … ja, als hätten sie einen Geist gesehen. Bis auf Hollys Gesicht ein so leuchtendes Strahlen erschien, dass es den ganzen Starbucks erhellte. Matt, Arm in Arm mit Abby, das Orange seiner Haarstacheln wie farblich auf ihren roten Kurzmantel und ihren Schal abgestimmt, starrte uns verwirrt an, bis sein Mund sich zu einem breiten Grinsen ausdehnte. Und Abby, die so hübsch aussah mit den indischen Chandeliers in den Ohrläppchen, lächelte versonnen, während ihr Tränen über die Wangen rannen und ihr die Wimperntusche verschmierten.
»Deine Freunde?«, raunte Joe mir ins Ohr. Ich nickte und zögerlich rückte er von mir ab. »Dann geh ich jetzt besser.«
»Nein.« Ich hielt ihn fest und sah ihm in die Augen; erst jetzt merkte ich, dass auch mir Tränen übers Gesicht liefen. »Nein«, wiederholte ich mit einem Laut, der sowohl ein Schluchzen als auch ein Lachen war. »Sie werden sich freuen, dich kennenzulernen. Das weiß ich.«