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Aufkeuchend ließ ich mich nach vorne fallen, hinein in die Blutlache, die vor meinen Augen verschwand wie eine Fata Morgana und von der nur eine schwache, über die Zeit verblasste Umrisslinie zurückblieb. Als könnte ich Nathaniel damit wieder zurückholen, krallte ich meine Finger so fest in den Holzboden, dass ein paar meiner Nägel splitterten und brachen. So wie etwas in mir zerbrach, als ich mich daran erinnerte, wie ich hier auf dem Boden gesessen und die Umrisse eines alten Flecks mit dem Finger nachgezeichnet hatte, ohne auch nur zu ahnen, dass Nathaniel hier, genau an dieser Stelle, mehr als hundertdreißig Jahre zuvor gestorben war.
Ein lang gezogener Laut der Klage und des Schmerzes kam aus meiner Kehle, bevor ich zu weinen begann, laut und unbeherrscht. Um Nathaniel weinte ich. Um Mam. Um all das, was mir der Tod innerhalb eines Jahres genommen hatte. Ein Damm war es, der in mir gebrochen war, und all die Tränen, die sich in der ganzen Zeit aufgestaut hatten, stürzten aus meinen Augen, tropften auf meine Hände und sammelten sich auf dem Holzboden.
»Es ist vorbei«, hörte ich Holly neben mir flüstern. »Es ist vorbei.«
Weinend ließ ich mich von ihr in die Arme schließen und lehnte mich gegen sie. Abby strich mir über den Arm, und ich wusste, dass Shane und Matt hinter mir standen. Sie ließen mich weinen, bis meine Augen brannten, meine Kehle wund war und mein Mund ausgedörrt und ich nur noch trocken vor mich hin schluchzte.
»Komm, Amber«, sagte Shane irgendwann und half mir auf die Beine.
Benommen sah ich zu, wie Holly und Abby unter dem Fenster meine Bücher aufsammelten, die Decke zusammenfalteten und alles in einer Plastiktüte verstauten, die Holly aus ihrer Handtasche gezogen hatte. Als wüssten sie genau, dass ich es nicht ertragen könnte, nach diesem Abend jemals wieder hierher zurückzukommen. Ich konnte nicht länger hinsehen und wandte mich ab.
Ein seltsames Licht drang von draußen herein, bläulich und kalt, noch seltsamer durch den künstlichen Schein von Matts iPhone, mit dem er Holly und Abby Licht gab. Aber das war es nicht, was mir diesen Raum plötzlich so fremd erscheinen ließ. Dass Nathaniel nicht mehr hier war, hatte alles verändert. Dieser Zauber, den das Haus und vor allem die Halle vom ersten Augenblick an auf mich ausgeübt hatten, war mit ihm verschwunden. Jetzt war es nur noch ein altes, abgewohntes und leer stehendes Haus; modrig roch es, nach feuchtem Stein und Holz, nach Alter und Verfall. Und ich atmete erleichtert auf, als Shane meinen Rucksack schulterte, mich dann mit beiden Armen um die Taille fasste und nach draußen führte.
Eisig war es draußen und auf dem Rasen glitzerte es hell im Licht der Straßenlaternen. Magischer Glitzerstaub segelte vom Himmel herab und traf kalt auf mein Gesicht. Verwirrt blinzelte ich, während mein Atem vor meinem Mund Wölkchen bildete.
»Ooooohhh«, machte Holly.
»Es schneit«, stellte Abby voller Staunen fest.
»Ich glaube, ich war vier oder so, als es das letzte Mal in SanFran geschneit hat«, kam es von Matt.
»Kann gar nicht sein«, widersprach Abby ihm unerwartet sanft. »Mein Dad sagt immer, das erste und einzige Mal, dass er Schnee gesehen hat, war als kleiner Junge hier in San Francisco. Und das war definitiv vor deiner Zeit!«
»Hm«, machte Matt leise.
Was auch immer sie von dem, was gerade geschehen war, mitbekommen hatten, hatte auch bei ihnen Spuren hinterlassen, das konnte ich an ihren Stimmen hören.
»Geht es?«, erkundigte sich Shane leise, als wir durch das Tor hindurch waren. Ich zuckte zusammen, als es hinter mir quietschend und scheppernd ins Schloss fiel, und ich nickte. Behutsam löste Shane seine Hände von mir und taumelnd machte ich ein paar Schritte vorwärts.
»Wenn du magst, kannst du bei mir schlafen«, hörte ich Holly weich hinter mir sagen. »Gib mir einfach dein Handy, dann simse ich Ted oder ruf ihn kurz an.«
Ich nickte wieder und ging weiter. Seltsam fühlte sich mein Körper an, ungewohnt massiv. Solide. Als ob nach einer wochenlangen Ebbe plötzlich die Flut heranbrandete, strömte die verloren gegangene Kraft in ihn zurück und machte mich schwerfällig. Tief in mir wusste ich, dass das Tor zur Vergangenheit mit Nathaniels Erlösung zugefallen war und für mich in Zukunft fest verschlossen bleiben würde. Der Fluch war gebannt, aber ich konnte mich nicht darüber freuen. Jetzt erst verstand ich, warum man Verlust sagte und verloren. Ich hatte Mam verloren und Nathaniel, ein unersetzlicher, unwiederbringlicher Verlust, den nichts je wiedergutmachen konnte. Und der Schmerz, den ich so lange von mir ferngehalten hatte, nahm mir die Luft zum Atmen.
Keuchend stolperte ich den Bürgersteig herunter und blieb nach ein paar unsicheren Schritten einfach stehen. Mit geschlossenen Augen legte ich den Kopf zurück und spürte, wie die Schneeflocken auf mein Gesicht fielen und auf meiner glühenden Haut schmolzen.
»Amber!« – »Amber!« – »Amber, komm von der Straße runter!« – »AMBER!«
Dann erst hörte ich das Heulen eines Motors. Ich öffnete die Augen und wandte den Kopf. Ich starrte in die Scheinwerfer des Autos, das die California Street hinabdonnerte, direkt auf mich zu, aber ich konnte mich nicht bewegen; mein Körper war viel zu schwer, viel zu unbeweglich. Wie gelähmt stand ich einfach nur da und starrte in die beiden grellen Lichter, die auf mich zurasten und größer wurden.
Hinter mir hörte ich schnelle Laufschritte, spürte einen Luftzug, dann starke Arme, die sich um mich schlossen und mit sich fortrissen. Eine Hupe dröhnte, Bremsen kreischten; jemand schrie. Ein kräftiger, warmer Körper presste mich fest an sich, ein Körper, der nach nasser Erde roch. Mit einem dumpfen Schlag bekam ich einen Stoß versetzt und flog durch die Luft, krachte dann hart irgendwo dagegen. Es polterte; Metall schepperte und Glas splitterte. Einen Augenblick lang war es still. Totenstill.
Mein Kopf. Mein Kopf tat so weh. Amber! Amber! Jemand rief meinen Namen, jemand anders weinte, dann summten Stimmen um mich herum. An meinem Bein lief es warm herunter, während ich sonst am ganzen Körper zu frieren begann. Mir war kalt, so unglaublich kalt.
Es war in dieser Sekunde, dass die Erinnerung an das vergangene Jahr durch mich hindurchschoss. An die zwölf Monate, die alles auf den Kopf gestellt hatten, was ich über das Leben und den Tod und die Dinge dazwischen zu wissen glaubte. Das Jahr, das kurz nach meinem sechzehnten Geburtstag im Dezember begonnen hatte.
Diese eine Sekunde, bevor mein Herz noch einmal kurz aufzuckte und dann aufhörte zu schlagen.