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Die Lampe auf meinem Nachttisch schnitt einen unscharfen Lichtkreis aus der Dunkelheit. Daneben glühten die Ziffern des Radioweckers. 10:07 PM. Kurz nach zehn Uhr abends. In Deutschland war es jetzt kurz nach sieben Uhr morgens. Julia und Sandra waren auf dem Weg zur Schule, Gabi machte sich fertig für die Arbeit. Dieser blöde Zeitunterschied machte es verdammt schwer, in Kontakt zu bleiben. Bevor ich morgens zur Schule ging, waren die anderen noch dort; wenn ich aus der Schule zurückkam, schliefen sie in Deutschland längst, und bis sie wieder aufstanden, musste ich schon fast ins Bett. Abgesehen davon, dass morgens vor der Schule für sie auch nicht der ideale Zeitpunkt war, um in Ruhe zu reden. Ich war froh, wenn wir es schafften, am Wochenende irgendwann mal zwischendurch zu skypen oder zu telefonieren, zwischen den Einkaufstouren, Kinobesuchen, Partys, Ausflügen und Familienbesuchen der anderen, oder wenn ich auf Facebook zeitverzögert sah, was bei ihnen so los war.

Ich starrte das Mobilteil des Telefons an, das neben meinem angewinkelten Knie auf dem Bett lag. Als Ted mich heute Nachmittag von der Schule abgeholt hatte, war der Karton auf dem Beifahrersitz gelegen, und er hatte sich dafür entschuldigt, nicht gleich daran gedacht zu haben, mir eines zu besorgen. Jetzt hatte ich sogar einen eigenen Anschluss mit einer eigenen Nummer, aber niemanden, den ich außerhalb eines winzigen Zeitfensters damit anrufen konnte.

Ich griff zu meinem Handy und öffnete das Adressbuch, suchte die einzige Nummer heraus, die mir sonst noch einfiel, und tippte sie nach der 0049 für Deutschland in das Mobilteil ein. Es knisterte und klackte mehrmals im Hörer, dann kam der Freiton, leiser und irgendwie anders, als ich ihn von zu Hause kannte.

»Seemann?« Sie klang wirklich Tausende von Kilometern weit entfernt.

Ich sah sie vor mir, mit ihrem gepflegten Kurzhaarschnitt, den sie alle vier Wochen beim Dorffriseur goldbraun nachfärben ließ, mit strenger Hemdbluse und den Perlohrsteckern von Tchibo, und ich atmete tief durch. »Hallo, Oma. Ich bin’s. Amber.«

Einen Augenblick war es still.

»Amber! Mäuschen!« Es war Jahre her, dass sie mich zuletzt so genannt hatte. »Endlich rufst du an! Wir haben uns schon Sorgen gemacht! Frau Weiland hat uns zwar Bescheid gesagt, dass du gut angekommen bist, aber sonst haben wir ja gar nichts von dir gehört!« Typisch Oma. Auch nach all der Zeit brachte sie es nicht über sich, Gabi beim Vornamen zu nennen. Und typisch Opa, der zwar einen Uralt-PC besaß und auch eine E-Mail-Adresse hatte, aber seine Mails nie abrief. Auch dann nicht, wenn er seine Enkelin in den USA wusste. Und es war ja auch nicht so, dass sie Teds Nummer nicht gehabt hätten. »Wie geht’s dir? Geht’s dir gut?«

Ich zögerte. »Geht so«, antwortete ich dann leise.

»Hans! Hans! Amber ist dran! Aus Amerika! – Wart mal, ich geb dir den Opa.« Ich hörte im Hintergrund Gemurmel und Geraschel, dann ein Hüsteln und die Stimme meines Großvaters, kratzig vom jahrzehntelangen Pfeifenrauchen. »Amber?«

Ich stellte ihn mir vor mit seinen grau melierten Haaren und dem grauen Bart, wie er vom Frühstückstisch im Esszimmer herübergekommen war und jetzt unten im engen Hausflur am Telefon stand, in Bundfaltenjeans und einem seiner gestreiften Hemden, das er trotz Ruhestand bis zum Hals zugeknöpft trug, vielleicht noch einen Pullover oder eine Strickweste darüber. »Hallo, Opa.«

»Du, Amber, hör mal zu!«, rief er aufgeregt und lauter als nötig durch die Leitung. »Wir haben uns beim Rechtsanwalt beraten lassen, und er sieht zumindest eine kleine Chance, dass wir dich zurückholen können. Aufgrund der besonderen Umstände, hat er gesagt.« Ich schöpfte Hoffnung. Wenn ich schon nicht bei Gabi leben konnte, war das Reihenhäuschen von Oma und Opa auf dem Dorf das Nächstbeste. »Wir gehen vors Familiengericht und fechten diese unsinnige Erklärung an. Das kann nicht rechtens sein, dass dieser … dieser Hippie«, seine Stimme überschlug sich fast, »dich jetzt bekommt, nachdem er deiner Mutter so viel kaputt gemacht hat.«

Eisige Kälte breitete sich in meinem Bauch aus. Der große Zankapfel zwischen Mam und meinen Großeltern, so lange ich zurückdenken konnte. Der zuverlässig jedes Mal ins Spiel gebracht wurde, wenn wir hinfuhren oder sie uns besuchten. In einer schnippischen Bemerkung meiner Oma. Einer hochgezogenen Braue meines Opas. Und manchmal auch in Form einer hitzigen Diskussion, nach der Mam ihrer Wut in einer großen Putzaktion Luft machte oder am See laufen ging. Sie hatten es Mam nie verziehen, sich mit Ted eingelassen zu haben. Dass sie mich so früh bekommen und mir dann auch noch einen so schrägen Vornamen gegeben hatte (statt Lisa oder Laura, wie Oma es wollte). Und noch viel weniger hatten sie es ihr verziehen, dass Mam kurz nach der Trennung ihr Jurastudium hingeschmissen und den Job bei Foto-Wolters angenommen hatte. Erst als Aushilfe, später, nach vielen Lehrstunden bei Herrn Wolters und nach den Workshops, zu denen er sie schickte, als Fotografin. Dabei konnte jeder sehen, wie glücklich Mam in diesem Job gewesen war. Man hatte es ihr bei der Arbeit angesehen und man hatte es den Fotos angesehen. Meine Augen wanderten zu dem Bilderrahmen auf meinem Nachttisch.

»Hörst du, Amber?«

»Ja«, piepste ich.

»Wir lassen das nicht zu, dass dieser Vagabund uns unser einziges Enkelkind wegnimmt!«

Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass es ihm gar nicht wirklich um mich ging. Um das, was ich wollte und was gut für mich war. Ich schluckte.

»Ich … ich muss Schluss machen, Opa. Das wird sonst zu teuer«, schwindelte ich. Ted hatte gesagt, es würde nichts ausmachen, wenn meine Telefonrechnung hoch ausfiel, er würde ja jetzt ganz gut an der Uni verdienen und könne schon verstehen, dass mir diese Verbindung nach Deutschland wichtig war.

»Wir melden uns, ja? Tschüss, Amber!« Im Hintergrund hörte ich meine Oma rufen: »Tschüss, Mäuschen! Bis bald!«

Ich legte auf und starrte in die Dunkelheit. Erst jetzt hatte ich wohl so richtig kapiert, wie sehr ich zwischen allen Stühlen saß. Dass ich nirgendwo mehr richtig hingehörte.

Im Nebenzimmer klackerte Teds Tastatur. Ich schob mich vom Bett herunter und tapste auf Socken über den Flur.

Die Tür zu seinem Arbeitszimmer stand offen; der Schein der Aluminiumlampe fiel über den Schreibtisch und beleuchtete Teds konzentrierte Miene. Die Hände in den Taschen meiner Jeans, lehnte ich mich gegen den Türrahmen. Wenn es in der Sacramento Street still wurde, so wie jetzt, konnte ich aus der Ferne das unaufhörliche metallene Rattern der Cable Cars aus der parallel verlaufenden California Street hören, und ab und zu das Gebimmel ihrer Glocken. Erst mitten in der Nacht, irgendwann nach eins, verstummten diese Geräusche, aber wenn ich morgens gegen sechs schlaftrunken ins Bad taumelte, hatten sie schon wieder eingesetzt.

»Hey.«

Teds Kopf ruckte hoch und sofort erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht. »Hey.« Er warf noch einen schnellen Blick auf den Bildschirm und griff dann zu seinem Kaffeebecher, der zwischen den Papierstapeln eingeklemmt stand. »Vorhin kam die Mail, dass deine Sachen da sind. Ich ruf gleich morgen früh wegen eines Transporters an und dann holen wir sie so schnell wie möglich.«

Ich nickte und ließ meine Augen durch den Raum wandern. Der Ballen Plastikfolie hinter der Tür war verschwunden und hatte einen massigen und sichtbar alten Ledersessel enthüllt. Auch einige der Kisten fehlten; ihr Inhalt hatte die Regale und Vitrinen bezogen, darunter mehrere grotesk aussehende Statuen und Figuren, die im Zwielicht schauerlich wirkten. Kein Wunder, dass ich nachts schlecht schlief.

Ted trank einen Schluck Kaffee und musterte mich dann über den Becher hinweg. »Hast du was auf dem Herzen?«

Ich schüttelte den Kopf und lehnte die Schläfe gegen das Holz des Rahmens.

»Ich aber.« Ich sah ihn fragend an und er verzog das Gesicht. »Ich werde in den nächsten Wochen länger arbeiten müssen. Lässt sich leider nicht ändern, obwohl ich«, er nickte zum Computerbildschirm hin, »bis zuletzt alles versucht hab, das umzuorganisieren. Deshalb wollte ich dich bitten, nach der Schule im Beacon zu bleiben, bis ich dich abhole.«

Beacon, Leuchtturm, hieß das Programm der Jefferson High, das den Schülern ab dem Nachmittag bis zum Abend Betreuung anbot. Gruppen für Yoga, Tai-Chi und Kickboxen gab es dort, Kunst-AGs, die Möglichkeit, am gleichnamigen Magazin mitzuarbeiten, und verschiedene Clubs für Afroamerikaner, Asiaten, Schwule und Lesben. Regelmäßige Treffen von Literaturfans fanden dort statt und auch speziell eines für Mädchen. Man konnte in den Räumen des Beacon aber auch einfach nur unter Aufsicht Hausaufgaben machen oder in einem anderen Zimmer mit seinen Mitschülern auf Sitzecken abhängen.

»Ich kann doch selbst mit dem Bus hierherfahren.«

Ted trank noch einen Schluck Kaffee. »Mir wäre es aber lieber, wenn du deine Zeit mit Gleichaltrigen verbringen würdest als alleine hier zu Hause. Das tut dir auf Dauer nicht gut.« Als ich schwieg, fügte er hinzu: »Und es ist nicht so, dass ich dir nicht traue – aber San Francisco ist keine deutsche Kleinstadt. Der Gedanke, dass du eines Tages die Stadt auf eigene Faust erkunden willst, macht mir Angst. Hier«, sein Kaffeebecher beschrieb einen Bogen, »in Nob Hill ist das kein Problem, hier ist es ruhig. Aber sonst überquert man in der Stadt manchmal nur eine Straße und ist auf einmal in einer Gegend, wo man besser nicht allein unterwegs sein sollte. Oder überhaupt nicht hingehen sollte. Besonders bei Dunkelheit. Besonders als junges Mädchen.«

Da ich sowieso nicht vorhatte, allein durch die Stadt zu ziehen, zuckte ich mit den Schultern. »Okay.«

»Danke.« Er wirkte ehrlich erleichtert, dann zogen sich seine Brauen aber doch zusammen. »Du weißt, was du tust, wenn dir etwas passiert?«

Meine Augen zuckten an die Decke. »Jaaa. Notruf wählen. Neun-eins-eins.« Nine-Eleven. Gruselig.

»Gut.« Ted nickte, dann schielte er mich von der Seite her an. »Sicher, dass du nicht doch was hast, über das du mit mir reden wolltest? Ich hoffe, du weißt, dass du mit allem zu mir kommen kannst.«

Ich zuckte wieder mit den Schultern. Selbst wenn ich gewollt hätte – ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich das, was mich beschäftigte, auch nur halbwegs in Worte fassen sollte.

Ted ließ sich in seinem Stuhl zurückfallen und fuhr sich unter einem tiefen Ausatmen mit einer Hand durch die Haare. »Schau, Amber, mir ist klar, dass ich für dich ein lausiger Vater war. Und glaub mir, wenn es irgendwie gegangen wäre, hätte ich’s besser gemacht. Und jetzt will ich’s besser machen, aber ich hab noch nicht viel Übung. Deshalb sag’s mir bitte, wenn dir was zu viel ist oder wenn dir was fehlt.« Er lachte kurz auf. »Die einzige Erfahrung, die ich da hab, ist meine eigene Jugendzeit. Und die war nicht besonders toll.«

Ich kaute auf meiner Unterlippe herum. Irgendwann einmal hatte ich Mam gefragt, ob ich in Amerika auch Großeltern hätte und vielleicht Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen. Mam hatte mir über den Kopf gestrichen und gemeint, das sollte ich Ted besser selber fragen. Aber irgendwie kam es nie dazu; das Einzige, was ich wusste, war, dass Ted eine Schwester in New Jersey hatte. Aber er klang nicht so, als ob er darüber reden wollte. Also drängte ich nicht weiter.

Stattdessen rubbelte ich mit der Sohle meiner Socke über den Holzboden und fragte leise: »Gehst du am Wochenende auch wieder joggen?«