28
Ich tauchte ein in das bewegliche Gespinst aus blassblauen und hellvioletten Lichtfäden, das das Buntglasfenster in der Halle wob. Das Quietschen meiner Gummisohlen auf dem Holzboden klang mir überlaut in den Ohren; selbst meine Jeans, mein T-Shirt und die Sweatjacke darüber schienen bei jedem Schritt, bei jeder Bewegung übermäßig zu rascheln. Meinen Rucksack hatte ich in der Wohnung gelassen und mir nur Hausschlüssel und Handy in die Hosentaschen gesteckt. Ich wollte mich heute leicht fühlen, leicht und locker, aber es gelang mir nicht.
Viel zu still war es heute im Haus. Als ob etwas, das sonst immer da gewesen war, nun fehlte, und mein Herz krampfte sich zusammen bei dem Gedanken, dass ich zu spät gekommen sein könnte. Dass Nathaniel fort war, für immer, und ich ihn nie wiedersehen würde.
»Nathaniel?«, hauchte ich in die staubige Luft hinein und ließ meine Augen suchend umherwandern. Über die Treppe, die umliegenden Türen und das gegenüberliegende Fenster, unter dem meine Decke ausgebreitet lag; daneben waren meine Bücher aufgestapelt, das Notizbuch obenauf, und wie in einem Stillleben waren dazu die volle und die angebrochene Flasche Cola light und die drei Rollen Oreos arrangiert, die ich letzte Woche hiergelassen hatte. »Nathaniel?«
Ich horchte in das Haus hinein, das weiterhin still blieb. Still und leer.
Meine Kehle war plötzlich eng und ich ließ den Kopf hängen.
»Ich bin hier.«
Mein Kopf schnellte hoch, und mein Herz setzte aus, als ich ihn im Türrahmen zu dem Zimmer lehnen sah, das früher wohl einmal der Salon gewesen war. Ein Bein vor das andere gekreuzt und die Haare verwuschelt, stand er dort und ein scheues Lächeln erschien auf seinem harten, kantigen Gesicht. Ich unterdrückte ein seliges Seufzen.
»Ich hab dich vermisst«, sagte er nur, und in mir schmolz etwas dahin.
Ich nickte und scharrte mit einem meiner Sneakers über den Boden, während meine Augen ziellos durch die Halle huschten. »Ich … ich hab etwas Abstand gebraucht. Und Zeit zum Nachdenken.« Ich schielte zu ihm hin. Offenbar konnte er damit nichts anfangen. Ich steckte die Hände in die Hosentaschen und holte tief Luft.
»Weißt du, es ist nämlich so, dass …« Ich geriet ins Stocken.
Ich hatte keine Ahnung, wie ich das hinkriegen sollte. Aus dem Alter, in dem man Jungs Zettelchen mit der Frage Willst du mit mir gehen? und darunter drei Kästchen mit den Antwortmöglichkeiten Ja – Nein – Vielleicht zuschob, war ich schon eine ganze Weile raus. Mit Tobi damals war es ganz einfach gewesen, aber das war auch mehr eine Kinderei geblieben, die nie über Händchenhalten und ein paar unbeholfene Schmatzer auf den Mund hinausging. Bei Lukas hatte ich einfach abgewartet, bis er auf mich zugekommen war, erst mit ruppiger Lässigkeit, dann mit seinem schiefen Grinsen, und irgendwie war danach alles ganz selbstverständlich gewesen. Einander bei der Hand zu nehmen und den Arm um den anderen zu legen. Der erste richtige Kuss und Lukas’ Hand, die sich unter den Saum meines Pullis schob. Warum war das jetzt hier so unglaublich schwierig?
»Also, es ist so, dass …« Meine Hände drückten sich tiefer in die Taschen und ich zog die Schultern hoch. »Ich … ich mag dich unheimlich gern.« Unsicher blinzelte ich zu ihm hinüber.
Seine Miene hellte sich auf und seine Augen leuchteten. »Ich mag dich auch sehr gern.«
Mein Herz hüpfte auf und ab wie ein Gummiball; ich wandte rasch den Kopf ab, damit er nicht sah, wie ein Strahlen auf meinem Gesicht explodierte, und musste ihn dann trotzdem wieder anschauen.
»Kannst … kannst du mich vielleicht in den Arm nehmen?«, flüsterte ich, und erst in diesem Moment merkte ich, wie sehr ich mir das die ganze Zeit gewünscht hatte. Dass Nathaniel die Arme um mich legte, mich an seine Brust zog und einfach nur festhielt.
Ein Schatten legte sich auf Nathaniels Gesicht. »Ich kann nicht.«
Mein Herz blieb mitten im Hüpfen irgendwo hängen, an einer komplett falschen Stelle, wo es eigentlich nicht hingehörte.
Meine Lider flatterten. »Du hast doch gerade gesagt, dass du … dass du mich magst.«
»Das tu ich auch«, sagte er rau. »Aber dich umarmen – das kann ich nicht.«
Ich schluckte meinen ganzen Stolz hinunter und mir wurde schlecht dabei. »Kannst du wirklich nicht oder willst du einfach nicht?«
»Ich kann nicht«, wiederholte er. Seine Augen wirkten starr, fast gläsern.
Ich versuchte, tapfer zu sein. Erwachsen. Wie ich es die ganzen Monate zuvor gelernt und geübt hatte. Ich zerrte meine Hände aus den Hosentaschen und ging langsam auf ihn zu. Es gab mir einen Stich, als ich sah, wie er sich vom Türrahmen löste und einen Schritt zurück machte.
»Ich weiß so gut wie nichts über dich«, sagte ich leise und hoffte, ich klang nicht allzu sehr wie eine Jasmintee trinkende Sozialpädagogin. »Aber ich vermute mal, du hast Schlimmes durchgemacht. Und ich versteh auch, wenn dir das schwerfällt, hier, mit mir, und …«
»Bleib, wo du bist!«, stieß er hervor, ein heiseres, fast drohendes Grollen in der Stimme.
Als hätte er mir eine Tür vor den Kopf geknallt, so fühlte es sich an; ich kam mir unglaublich dämlich vor. Erst mal konnte ich ihn nur stumm anstarren, dann schoss mir das Blut ins Gesicht.
»Das machst du schon die ganze Zeit!« Meine Stimme zitterte. »Du lässt mich ganz nah an dich heran und im letzten Moment kneifst du dann. Hast du eine Ahnung, wie sich das für mich anfühlt?!«
Er konnte mir nicht mal in die Augen sehen.
Ich wollte mich abwenden, ihn einfach stehen lassen und nie wiederkommen. Dann musste ich an Lukas denken, der nicht mal genug Mumm in den Knochen hatte, um mir am Telefon, in einer Mail oder auch nur per SMS mitzuteilen, dass es aus war zwischen uns.
»Du bist doch echt das Letzte!«
Ich wirbelte herum und stürzte auf Nathaniel zu. Ich wollte ihn boxen, ihn schubsen, ihn stoßen, damit ich wenigstens ein einziges Mal erlebte, wie er sich anfühlte. Seine Schulter zuckte zurück, er wollte mir ausweichen, aber er war zu langsam, ich zu schnell.
Meine Fäuste trafen nicht auf Muskeln und Knochen. Sie versanken in etwas, das sich anfühlte wie dicker, zäher Nebel. Wie Spinnweben, in denen Morgentau hing. Halb noch im Sprung geriet ich ins Wanken und starrte auf meine Hände, über die sich eine blasse, durchscheinende Version von Nathaniel zog wie die Projektion eines Beamers.
»Es tut mir leid«, hörte ich ihn flüstern. »Es tut mir so leid.«