60
Verblüfft starrte ich auf meine Finger, mit denen ich mir gerade über die Augen gefahren war, weil ich Nathaniel nur noch verschwommen sah. Sie waren nass. Dann erst spürte ich, wie Tränen aus meinen Augen rannen.
Davor hatte ich immer am meisten Angst gehabt, seit jenem Abend, an dem ich Mams nächtliches Telefongespräch mit Ted belauscht und sie mir von ihrem Tumor erzählt hatte: dass ich mich nicht mehr im Griff haben könnte. Dass ich einfach zu weinen anfing und womöglich nie wieder damit aufhören würde.
»Bitte«, schluchzte ich Nathaniel entgegen. »Bitte bleib hier. Lass mich nicht allein. Bitte.«
Der Ausdruck auf seinem Gesicht wurde weich. »Du bist nicht allein«, gab er dagegen rau zurück. »Du hast doch jetzt Freunde.«
Ich schüttelte so heftig den Kopf, dass meine Haare flogen. »Das ist nicht dasselbe!«
Ein trauriges Lächeln umspielte seinen Mund. »Und du hast Shane.«
Dass er nur schon seinen Namen aussprach, dass ich jetzt, in diesem Moment an Shane denken musste, ließ die Erinnerung an seine Küsse, seine Hände auf meiner Haut und seinen starken, muskulösen Körper an meinem wie ein Lavastrom durch meine Adern fließen, und mir war elend dabei. Shane und Nathaniel waren wie die zwei Hälften eines Magneten und ich ein winzig kleiner, federleichter Eisenspan dazwischen.
Ein bitteres, verzweifeltes Lachen sprudelte aus mir heraus. »Das ist auch nicht dasselbe! Ich … ich weiß nicht, was das mit Shane und mir ist. Ich weiß momentan überhaupt nichts mehr. Außer dass ich komplett durcheinander bin und mich völlig … völlig zerrissen fühle.« Ich schluchzte auf. »Ich bestehe nur noch aus Bruchstücken. Aber du – du gibst mir das Gefühl, ganz zu sein.« Mein Kinn zitterte, als mir die Worte auf der Zunge brannten, die ich niemals einem Jungen hatte sagen wollen, und wie von selbst kamen sie dann heraus. »Ich brauch dich, Nathaniel.«
Bang sah ich zu, wie er den Kopf senkte und ihn dann schüttelte, mich schließlich wieder ansah und die Schultern hob; hilflos wirkte er. »Du brauchst mehr. Du brauchst jemanden mit einer Seele und einem Körper. Weil du beides hast und bist. Genau wie Shane. Nicht so wie ich.«
Die Erkenntnis, wie sehr er damit recht hatte, traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich umklammerte meine schlackernden Knie und starrte vor mich hin. »Wenn ich nur … wenn ich nur eine Nacht mit dir haben könnte …« Ich führte den Gedanken nicht zu Ende, weil alles Weitere jenseits meiner Vorstellungskraft lag.
Als von Nathaniel nichts mehr kam, blinzelte ich durch meine Tränen hindurch zu ihm hinauf. Seine Stirn war in Falten gelegt und um seinen Mund zuckte es. »Es … es gibt eine Nacht im Jahr …«, begann er spröde und ohne mich anzusehen. »Eine Nacht, in der … vieles für mich anders ist. Bei Einbruch der Dunkelheit fühle ich mich schwerer als sonst. Als ob sich alles an mir«, er rieb sich über die Brust, »verdichtet. Ich komme nur noch mit viel Mühe und Anstrengung durch Wände hindurch, manchmal auch gar nicht mehr. Ich sehe und höre wieder schlechter, und ab und zu habe ich das Gefühl, ich könnte wieder etwas riechen. Bis sich bei Morgengrauen all das auflöst und alles an mir wieder ist wie zuvor.«
»Und welche Nacht ist das?«, schniefte ich.
»Die Nacht vor Allerheiligen.«
Die Nacht vor Allerheiligen … Ich dachte an den rotorangenen Schein von beleuchteten Kürbisfratzen, an schwarze Hexenschlapphüte und Vampirkostüme, an Fledermäuse aus Nickistoff, an Plastikskelette und faseriges Garn, das Spinnweben nachahmen sollte. An wilde Partys und an verkleidete Kinder, die von Tür zu Tür zogen und »Süßes oder Saures« riefen, um Süßigkeiten einzuheimsen, und daran, dass ich im Gegensatz zu Julia immer mitfeiern durfte, weil Mam gefunden hatte, das sei Teil meiner kulturellen Identität als Halbamerikanerin.
»An Halloween?«, brachte ich nur krächzend heraus, und als Nathaniel nickte, setzte ich hinzu: »Und da werde ich dich spüren können? So richtig? Als ob du noch am Leben wärst?«
Er hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Ich weiß es nicht.«
Ich sah ihn an, wie er vor mir stand, in seinem grauen Hemd und die Hände in den Taschen seiner altmodischen Hose. Wie er den Kopf leicht gesenkt hielt und unter den Locken, die ihm in die Stirn fielen, zu mir hinspähte. Abwartend war der Ausdruck auf seinem Gesicht, beinahe scheu, und in seinen Augen konnte ich lesen, wie sehr ich ihn verletzt hatte, aber auch so etwas wie Hoffnung.
Schließlich rieb ich mir mit den Handrücken über das nasse Gesicht, obwohl ständig neue Tränen nachströmten, wischte sie an meiner Pyjamahose notdürftig trocken und streckte die Hände nach Nathaniel aus. Er zögerte, dann kam er langsam auf mich zu, und als seine Fingerspitzen meine berührten, dieser Funkenschauder durch meine Hände flirrte, huschte ein kleines, wackliges Lächeln über mein Gesicht.
Nathaniel kniete sich neben mich hin und legte die Arme um mich; ich schloss die Augen und versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, mein Gesicht an seine Brust zu drücken, die fest war, vielleicht ein bisschen hart. Die sich bei jedem Atemzug hob und senkte und in der ein Herz gleichmäßig schlug. Für mich schlug.
Vielleicht würde es an Halloween wahr werden, in dieser unruhigen, unheimlichen und ganz besonderen Nacht des Jahres. Eine kleine, schwache Hoffnung, an die ich mich umso fester klammerte. Wir mussten es wagen, es war das Einzige, was uns blieb, bevor uns das, was wir zusammen hatten, durch die Finger stob wie ein Herbststurm.
Weil ich ein schwaches Menschenkind war mit hungrigen Sinnen und Sehnsucht im Leib und er ein Wesen aus Dunst und Nebel.