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»Bitte, Matt!« Ich lehnte mich mit der Schulter gegen die rot lackierten Schließfächer und setzte mein flehentlichstes Gesicht auf.
Matt verschränkte die Arme über dem schwarzen T-Shirt, das er über einem ausnahmsweise weißen Longsleeve trug. Auf dem Shirt prangte ein Totenkopf, der breit grinste, obwohl seine Kieferknochen gerade zerschmolzen und der herablaufende Schmodder den Schriftzug KORN mit spiegelverkehrtem R bildete. Matt hatte eindeutig nicht nur bei Kaffee einen bizarren Geschmack.
»Ich wüsste nicht, was ich da für dich tun könnte«, knurrte er. »Google kannst du sicher auch ohne meine Hilfe bedienen.«
»Das hab ich doch!«, verteidigte ich mich heftig. »Aber ich konnte nirgendwo was Brauchbares finden!«
»Tja, Pech.« Matt zuckte gleichgültig mit den Schultern.
»Aber wenn du dich vielleicht in irgendeine Datenbank …«, unwillkürlich senkte ich meine Stimme zu einem Flüstern, »… einhacken würdest …« Mit schräg gelegtem Kopf sah ich ihn eindringlich an. »Bitte!«
»Jaaah«, begann Matt gedehnt, »das ist der große Nachteil, wenn man sich mit einem Geist einlässt. Man hat keine Ahnung, mit wem man es zu tun hat, und der tolle Hecht kann einem dummerweise auch gar nicht viel über sich verraten, weil sein Gedächtnis ungefähr so löchrig ist wie ein Schweizer Käse.« Ein Bein vor das andere gekreuzt, wippte er angriffslustig mit der Ferse seines Sneakers.
»Als ob du eine Vorstellung von Schweizer Käse hättest!«, schoss ich mit heißen Wangen zurück.
Auf Matts Gesicht blitzte ein kleines Grinsen auf. »Hey, du bist in Amerika – hier gibt’s alles! Auch Schweizer Käse. Aus Ohio.«
Ich gluckste in mich hinein, fuhr dann aber ernst fort: »Bitte, Matt! Kannst du es denn nicht wenigstens mal versuchen?«
»Können könnt ich schon«, erwiderte Matt und kraulte sich genüsslich seinen Kinnbart. »Aber ich find’s schon ganz schön viel verlangt, dass ich dieses ziemlich kranke Beziehungs-Dings irgendwie unterstützen soll.«
Eine flammende Röte kroch mir bis unter die Haarwurzeln. »Krieg du erst mal dein Beziehungs-Dings mit Holly zum Laufen, bevor du dir ein Urteil über Nathaniel und mich erlaubst!« Matt funkelte mich nur aus seinen schmalen, dunklen Augen an und ich seufzte. »Ich kann ja verstehen, dass du skeptisch bist. Aber ich bin sicher, wenn du Nathaniel näher kennen würdest, dann …«
»Oh nee, Amber, komm mir nicht so!«, fuhr Matt mich an und kickte gegen seinen Rucksack, der auf dem Boden stand. »Solche Sprüche habt ihr Chicks immer genau dann drauf, wenn ihr scharf auf einen Typen seid, der garantiert Gift für euch ist! Weil er Drogen vertickt, an der Flasche hängt, wild durch die Gegend poppt, gern mal zuschlägt oder sonst irgendwelche abartigen Vorlieben hat. Das muss irgendeine Hormonsache sein, die zum totalen Crash in eurem Hirn führt.« Er zog einen Mundwinkel zur Andeutung eines Grinsens hinauf. »Da musst du schon mit einem wesentlich besseren Grund ankommen.«
Ich lehnte die Schläfe gegen das kühle Metall. »Vielleicht weil …« Ich schluckte und in meinem Bauch flatterte es ängstlich. »Weil wir so was wie … wie Freunde sind – du und ich?« Unsicher sah ich ihn an.
Matt hob eine Braue. »Ah, die emotionale Schiene, auch nicht schlecht.« Seufzend richtete er sich auf. »Da kann ich mit meinem weichen Herz natürlich nicht widerstehen.« Mit einem meckernden Lachen wich er meinem Boxhieb aus, zog sein iPhone aus der Hosentasche, drückte kurz darauf und hielt es mir unter die Nase. Als ich ihn fragend ansah, verdrehte er die Augen. »Schon mal was von Sprachmemo-Funktion gehört?«
Na super. Hoffentlich löschte Matt die Aufnahme hinterher sofort wieder und zog mich nicht ewig damit auf, wie bescheuert ich mich anhörte. Verlegen räusperte ich mich und spulte hastig das wenige herunter, was ich Nathaniel nach und nach hatte entlocken können, während wir Gesicht an Gesicht nachmittags auf meiner Decke in dem alten Haus lagen oder nachts im Schein meiner Nachttischlampe auf meinem Bett. »Nathaniel. 1858 in San Francisco geboren, vermutlich im November, und entweder 1877 oder 1878 hier auch gestorben. Fünf Brüder, Casey, Henry, Brian, Tiernan und einen, dessen Namen er nicht mehr weiß.« Matts spöttisch hochgezogene Braue ignorierte ich einfach. »Sein Vater hieß wohl auch Henry und seine Mutter Eileen oder Aislin oder so ähnlich.« Als ich verstummte, machte Matt mit der freien Hand eine auffordernde Geste, und ich schüttelte den Kopf. »An mehr erinnert er sich leider nicht mehr.«
Mit zusammengezogenen Brauen tippte Matt auf dem iPhone herum. »Kein Nachname? Auch sonst keine Fakten und Daten?« Ich schüttelte den Kopf und Matt stöhnte. »Das ist ja nun wirklich nicht besonders viel! Spontan würde ich von den Namen her auf irische Einwanderer tippen, aber hast du eine Ahnung, wie viele es davon damals hier gab, hm? Dachte ich mir. Massen, Amber, Massen! Rund ein Drittel der Menschen hier in SanFran war irischer Abstammung.« Er sah mich über das iPhone hinweg an und strich sich den Goatee glatt. »Und dir ist hoffentlich auch klar, dass es die Register über Geburten, Hochzeiten und Todesfälle aus der Zeit nicht mehr gibt? Alles nach dem großen Beben von 1906 in Flammen aufgegangen.«
»Ich weiß«, flüsterte ich beklommen; das hatte ich während meiner eigenen laienhaften Recherche auch schon herausgefunden.
»Eine andere Möglichkeit wären Zeitungsarchive«, grübelte Matt halblaut vor sich hin und tippte dabei auf dem Touchscreen herum. »Aber kann gut sein, dass da vieles nur in Papierform oder auf Microfiche vorliegt.« Energisch kaute er auf der Unterlippe herum. »Ich schau mal, was ich tun kann. – Hey, jetzt schau nicht so belämmert! Wenn jemand was rausfindet, dann der gute alte Matt. Du weißt ja: Fuck Google …« Er zwinkerte mir zu.
»… ask Matt, ich weiß.« Mit einem kleinen Lächeln fügte ich hinzu: »Danke.«
»Ach so, ähm«, er deutete mit seinem iPhone auf mich, »dir ist schon klar, dass ich dafür eine gewisse Gegenleistung von dir erwarte?« Fragend runzelte ich die Stirn. »Na ja – ein Kuss wäre ja das Mindeste, oder?«
Ich starrte ihn entsetzt an und zuckte dann zusammen, als Matt schallend zu lachen anfing, dabei auf der Stelle herumhüpfte und mir das Display seines Handys hinhielt. »Schau dir doch bloß mal an, wie du gerade geguckt hast! Whuhuhuuuu! Ich lach mich schlapp!«
»Du Blödmann!«, quiekte ich los. Schon die ersten kribbelnden Vorboten eines Lachens in der Magengegend, grapschte ich mir den Ärmel seines Longsleeves und trat ihn spielerisch vors Schienbein. Lachend lieferten wir uns einen kleinen Ringkampf, der in gegenseitigen Schubsern und Püffen auslief.
»Okay, dann kümmer ich mich jetzt erst mal um die dunkle Vergangenheit deines Schlossgespensts«, feixte Matt. »Falls ich heut noch was rauskrieg, sims ich dir – sonst sehen wir uns morgen.«
Ich sah ihm hinterher, wie er auf die Treppe zutigerte, und fing dabei die Blicke zweier Schülerinnen auf, die betont unauffällig und gleichzeitig bemüht dekorativ vor der Tür zur Mädchentoilette herumstanden: Sharon und Felicia, die ich noch nie auf diesem Korridor gesehen hatte. Ihre für die Jefferson High viel zu engen T-Shirts, die extrem kurzen Röcke, hochhackigen Sandalen und das viele Make-up in ihrem Gesicht hatten sie bestimmt in ihren Schließfächern auf einem anderen Stockwerk gebunkert gehabt und nach der letzten Stunde hervorgeholt, um sich hier auf dem Klo aufzubrezeln. Mit einem schüchternen Lächeln nickte ich ihnen kurz zu, worauf beide demonstrativ wegsahen und miteinander zu tuscheln anfingen. Ich konnte es ihnen nicht mal übel nehmen, schließlich hatte ich ihnen mehrmals deutlich zu verstehen gegeben, dass ich auf ihre Gesellschaft keinen großen Wert legte.
Seufzend drehte ich mich zu meinem Fach, packte meinen Rucksack und sperrte die Tür zu. Ich wollte mich gerade umdrehen, als es in meinem Nacken zu prickeln begann. Ein kaltes Rieseln rann mein Rückgrat hinab und mit hochgezogenen Schultern wandte ich mich langsam um.
Ich entdeckte ihn sofort, wie er neben der Tür zur Jungstoilette an der Wand lehnte und mich mit seinen veilchenblauen Augen fixierte. Eine ganze Weile hatte ich ihn schon nicht mehr hier gesehen, den Jungen mit den stoppelkurzen Haaren und dem Gesicht, das spitz war wie das einer Maus. Es war merkwürdig: Jetzt da ich wusste, dass er ein Geist war und Matt ihn auch sehen konnte, wirkte er auf mich weniger unheimlich als vielmehr bedrohlich. Und auch er schien mich plötzlich anders wahrzunehmen. Während er früher nie eine Miene verzogen hatte, krümmte sich sein Mund jetzt zu einem spöttischen Lächeln und öffnete sich dann zu einem verächtlichen Grinsen, das mir einen Schauder nach dem anderen über die Haut laufen ließ.
»Ich hab keine Angst vor dir«, flüsterte ich, und sein Grinsen wurde breiter. Ich machte einen festen Schritt auf ihn zu und gleich noch einen, als wollte ich ein wildes Tier in die Flucht jagen. »Ich hab keine Angst vor dir, hörst du!«
»Solltest du aber.« Als eisiger Luftzug jagte der Nachhall seiner flachen, blechernen Stimme im Kreis um mich herum.
»Verschwinde«, fauchte ich ihn an und ging weiter auf ihn zu. »Hau ab!«
Er öffnete seinen Mund und lachte, ein hohes, dünnes Lachen wie das Klirren von Glas, bis er sich rückwärts in die Tür zur Jungstoilette fallen ließ wie in einen Swimmingpool. Noch bevor sein grelles Lachen in meinen Ohren verklungen war, brandete ganz aus der Nähe weiteres Gelächter an mich heran, und ich wandte den Kopf.
Auf ihren hohen Hacken hielten sich Sharon und Felicia gerade noch so in der Balance, während sie sich vor Lachen bogen, zwischendurch nach Luft schnappten und hysterisch mit den Händen vor ihrem Gesicht herumwedelten, um ihre Lachtränen zurückzudrängen. Und neben ihnen, seine Haut noch dunkler gegen das blendende Weiß seines T-Shirts, unter dem sich seine Muskelpakete abzeichneten, baute sich die breitschultrige Gestalt von Shane Diggs auf, der mich mit gerunzelter Stirn anstarrte.
Spitzenklasse. Spätestens morgen würde die gesamte Jefferson High wissen, dass ich einen ganzen Satz Schrauben locker hatte, weil ich mit Toilettentüren redete. Richtig toll, wirklich. Mein Gesicht glühte unter den Hitzewellen, die eine nach der anderen von meinem Hals aus aufwärtskrochen.
»Auch schon egal«, knurrte ich, packte den Schultergurt meines Rucksacks fester, schwang mit einem Kopfrucken meine Haare über die Schultern und marschierte mit hochgerecktem Kinn an den dreien vorbei zur Treppe, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
»Warte!«, hörte ich eine tiefe, warme Stimme hinter mir rufen. Ungerührt stakste ich die ersten Stufen hinunter. »Hey, du! Wart doch mal! Jetzt bleib doch mal stehen!«
Aus dem Augenwinkel sah ich Shane Diggs neben mir auftauchen und ich fuhr herum. »WAS?!«
»Ich … Ähm.« Er starrte mich an und spielte nervös am Gurt seines Rucksacks herum; um seine Brauen und seinen Mund zuckte es dabei. Für den Football-Superstar und Mädchentraum der Schule, der bis in den kleinen Zeh durchtrainiert aussah und garantiert ein prima Model für Unterwäsche abgegeben hätte, stand er irritierend unsicher vor mir.
»Was?!«, giftete ich noch einmal, dieses Mal etwas leiser.
»Kann … kann ich dich vielleicht nach Hause bringen? Ich bin mit dem Auto da.«
Ich war auf einiges gefasst gewesen, aber ganz sicher nicht auf diese Frage, die im ersten Moment so gar keinen Sinn zu machen schien. Dann begriff ich, straffte meine Schultern und gab so hochmütig wie möglich zurück: »Danke, kein Bedarf. Mir geht’s gut, ich brauch keine psychologische Notfall-Ambulanz!«
Ich war gerade zwei Stufen weiter hinuntergegangen, als ich ihn leise sagen hörte: »Aber ich vielleicht.«
Ich blinzelte verwirrt und drehte mich dann wie in Zeitlupe zu ihm um. Menschen, die wirklich Geister sehen können, haben eine ganz bestimmte Furcht im Blick, hatte Matt gesagt. Ich war mir nicht sicher, wie ich den Ausdruck in Shanes schwarzbraunen Augen deuten sollte, aber was zwischen ihm und mir im Treppenhaus in der Luft lag, erinnerte mich an das Gefühl, das ich in jenem Moment bei Starbucks mit Matt gehabt hatte. Als ob ein Schlüssel nach langer, vergeblicher Fummelei plötzlich anstandslos in das Türschloss glitt, in das er passte, und sich dann auch drehen ließ. Und trotzdem schien mir der Gedanke, dass ausgerechnet Shane Diggs ebenfalls die Gabe haben sollte, so schräg, dass ich zögerte.
»Ich glaube, es gibt da was Wichtiges, über das ich mit dir reden muss«, raunte er und deutete mit einem Kopfrucken hinter sich. »Und außerdem könntest du den beiden ruhig den Tiefschlag gönnen, uns zusammen weggehen zu sehen.«
Ich folgte seinem Blick zu Sharon und Felicia, die wie zufällig oben an der Treppe standen und halb fassungslos, halb feindselig zu uns hinuntergafften.
Ein kleines Grinsen zappelte um meine Mundwinkel. Als mein Blick zufällig auf die Muskelrippen fiel, die sich unter Shanes T-Shirt abzeichneten, wandte ich schnell den Kopf ab und zuckte wie beiläufig mit den Schultern. »Okay. Meinetwegen.«