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»Wenn wir da hinfahren, dann wie echte Touristen«, hatte Matt mit breitem Grinsen gesagt, als er mich vormittags in der Sacramento Street abholte und mit mir drei Häuserblocks weiter auf einen Cable Car der Powell-Hyde-Linie aufsprang.
Ted hatte mich zwar verwundert angeschaut, als ich ihm Donnerstag beim Abendessen gesagt hatte, dass ich Samstag mit Matt nach Alcatraz wollte, schien aber auch nichts dagegen zu haben; mir kam es sogar so vor, als ob es ihm gar nicht unrecht war, dass unsere übliche Samstagsroutine ausfiel.
Nach zwei Querstraßen bog der Cable Car scharf rechts ab, was ihn gefährlich ruckeln und kippeln ließ, und rollte dann eine lange Straße entlang, die extrem steil bergab führte, bevor das Gefährt gemächlichere Hänge hinauf- und hinabratterte. Fast an jeder Straßenecke hielt der Gripman, um Passagiere ein- oder aussteigen zu lassen, was mir die Zeit gab, mich in aller Ruhe umzugucken. Links und rechts standen neben den parkenden Autokolonnen zu fast perfekten Halbkugeln gestutzte Laubbäume, und dahinter reihten sich putzige Häuschen mit Erkern und Fassaden aus Klinkerstein oder den typischen Anstrichen in Pastellfarben aneinander. Manchmal war im Erdgeschoss ein hübsches Lädchen untergebracht oder ein schnuckeliges Café; auf unaufdringliche Weise schick sah hier alles aus. Nicht gediegen, sondern ganz lässig und wie selbstverständlich.
»Schau mal.« Matt, der sich hinter mir an die Haltestange festklammerte, tippte mir auf die Schulter und deutete an mir vorbei nach vorne. Jenseits des Häusermeeres, das sich vor uns teilte, sah ich ein Stück unglaublich blaues Wasser, dahinter einen flachen grünen Hügel – und mittendrin eine Insel, auf der ich weiße und graue Gebäude erkennen konnte. »Das ist Alcatraz.«
Ich nickte, Beklommenheit im Bauch, aber trotzdem war es ein faszinierender Anblick. Ein durch und durch ungruseliger vor allem. Besonders aus der Entfernung.
Als der Cable Car das nächste Mal anhielt, stupste Matt mich an und zeigte nach rechts, auf eine Straße, die sich um Mäuerchen, niedrige Buchsbaumhecken und blühende Sträucher hindurch in engem Zickzack den steilen Hügel hinabzog; zwei Autos schlängelten sich gerade in Zeitlupentempo darauf hinunter. Auf den mit Geländern von der Fahrbahn abgeteilten Stufen, die vor den Häusern auf beiden Seiten hinunterführten, drängten sich Horden von Menschen mit Kameras.
»Das ist die Lombard Street. Mit die teuerste Adresse der Stadt. Weil jeder in der berühmtesten Straße wohnen will – der kurvigsten Straße der Welt! Meine Mom ahnt bis heute nicht, dass ich die früher mit dem Skateboard hinabgejagt bin.« Ich warf ihm einen irritierten Blick zu, worauf er mit den Schultern zuckte und eine Unschuldsmiene aufsetzte. »Hey, sie hat immer nur gesagt, ich soll mich nicht anstrengen. Davon, mich einfach aufs Board zu stellen und runterrollen zu lassen, hat sie nie etwas erwähnt.«
Der Cable Car ruckelte an, eine Böschung hinunter, und die Aussicht öffnete sich auf eine weite blaue Fläche und Hügelketten; ganz am Ende der Straße konnte ich eine Hafenmole und einen alten Dreimaster erkennen. Dann rollten wir über eine Kuppe, hinter der es so steil bergab ging, dass es von den Trittbrettern des Wagens aussah, als würden wir fast senkrecht hinuntersausen, und mir stockte der Atem
»Wu-huuu«, heulte Matt hinter mir auf, als der Cable Car in einer irrwitzigen Schussfahrt hinabratterte, während ich mich mit beiden Händen an der Stange vor mir festklammerte. Matts Rechte packte mich an der Schulter, und obwohl ich bezweifelte, dass ein halbes Hemd wie er mich im Ernstfall halten könnte, fühlte ich mich sicherer, und der erschrockene Laut, der mir aus der Kehle rutschte, ging in ein vergnügtes Quietschen über.
Über zwei lang gezogene Bodenwellen bollerte der Cable Car hinweg und brachte an der nächsten Kreuzung mit Glockengebimmel einen von rechts kommenden weißen Bus zum Stehen, dann lief unsere Fahrt halbwegs sanft in einer großzügigen Linkskurve aus. Entlang eines niedrigen nostalgischen Eisengitters unter dichten Bäumen wartete schon eine ewig lange Schlange von Menschen darauf, unsere Plätze einzunehmen, sobald der Cable Car auf der Plattform von den Männern in Warnwesten in die andere Richtung gedreht war.
Ich folgte Matt über die Straße, an einem roten Backsteinbau vorbei, der wie eine alte, stillgelegte Fabrik aussah, aber jetzt ein Hotel war, und wir bogen rechts in eine breite Straße ein, die zugleich Hafenviertel wie Touri-Meile war. Maritime Store war ein kleiner Laden in Ziegelrot und Weiß überschrieben, der mit seinen Sprossenfenstern nach Auswandererschiffen vergangener Zeiten aussah. Zahlreiche Fastfoodketten hatten hier ihre Filialen zwischen Läden mit teuren Klamottenmarken und solchen voller Billigvarianten, darunter einer, der After the Quake hieß – »Nach dem Beben«. Nett.
Dauernd musste ich irgendwelchen Menschen ausweichen oder aufpassen, dass ich niemanden anrempelte. Souvenirsupermärkte gab es und kleinere Shops mit Postkarten und Touristenkitsch, Schmuckläden, Eisdielen und Süßwarentempel. Auf der linken Seite reihten sich Restaurants und Fressbuden aneinander und in einer breiten Lücke zwischen den Häusern dümpelten im Wasser eine Anzahl schicker weißer Boote herum. Und gleich darauf verriet mir ein übergroßes Schild in Form eines Schiffsteuerrads mit einer roten Krabbe in der Mitte, wo wir gerade waren: Fisherman’s Wharf of San Francisco. Es roch nach Hafen und Meer, und auch der kräftige Wind trug einen Hauch von See in sich, während über uns die Möwen kreischten.
Wir wechselten die Straßenseite und gingen zwischen Rasenstreifen und Platanen hindurch, vorbei an vielen Segelbooten und kleinen Schiffen, die auf der Wasserseite vertäut waren und deren Masten im Wind wippten. Kurz musste ich an zu Hause denken, an die Promenade am See. Aber hier war natürlich alles ein paar Nummern größer und bei uns hatten wir eben keine solchen nostalgischen Straßenbahnen unmittelbar daneben und auch keine mehrspurige, dicht befahrene Straße.
Am meisten war vor dem blau-weiß überschriebenen Pier 39 mit dem Hard Rock Café San Francisco los. Zwischen verschiedenen Läden in Holzhäusern, die nach Sommer, Strand und Meer aussahen, tummelten sich Massen von Touristen auf einem Weg, der aus Holzdielen bestand und etwas von einem Bootssteg hatte. Von überallher war dort Musik zu hören. Wir folgten der Hauptstraße, dem Embarcadero, über den unzählige Leute bummelten und den einzelne Männer und Frauen in Sportklamotten entlangjoggten. Ein Breakdancer zuckte zu den ersten Beats seines Ghettoblasters mit den Armen und Beinen; ein paar Schritte weiter fing ein Straßenmusiker an, auf seiner Gitarre zu klimpern, unterbrach sich und tunte den Verstärker neu. Ein Luftballonkünstler knotete einen langen, dünnen Ballon im Nu zu einem Königspudel und eine dieser golden angezogenen und angemalten lebenden Statuen verharrte in einer dramatischen Pose.
Hinter Rasenflächen und einer Terrasse aus Holz mit Parkbänken und Blick auf Alcatraz tauchte vor uns eine breite weiße Front auf, die Ähnlichkeit mit einem restaurierten Bahndepot besaß: die Eingänge zu den verschiedenen Piers, von denen die Schiffe abfuhren. Mit den Tickets, die Matt uns vorab besorgt hatte, stellten wir uns an Pier 33 für die Fahrt nach Alcatraz an, in eine durch Seilabsperrungen mehrfach gewundene Menschenschlange. Während wir warteten und immer wieder einige Schritte aufrückten, erzählte Matt mir, dass er wegen der Leukämie ein ganzes Schuljahr verpasst hatte und danach noch oft krank gewesen war. Zum Glück hatte er dank seiner großzügigen Ausstattung an Hirnmasse in der Schule nicht allzu viel versäumt. Im Gegenteil: Er schien ein ziemlicher Überflieger zu sein, und dadurch, dass er früher viel Zeit zu Hause verbringen musste, hatte er angefangen, sich mit Computern zu beschäftigen; später wollte er mal irgendwas in die Richtung machen. Mit breitem Grinsen, den Arm um meine Schultern gelegt, posierten Matt und ich brav vor einer grün bespannten Wand – obwohl wir nicht vorhatten, das Foto zu kaufen, in das anstelle des Grüns anschließend die Insel von Alcatraz reinkopiert wurde. Ich erzählte ihm im Gegenzug, dass ich gerne Literatur studieren würde, auch wenn ich noch keine Ahnung hatte, was ich danach damit anfangen sollte, worauf wir über Sinn und Unsinn von fest gesteckten Berufszielen diskutierten, bis wir in der Schlange so weit vorgerückt waren, dass wir auf das kleine weiße Schiff steigen konnten, das am Kai auf uns wartete.
Es war seltsam: Obwohl ich nachts so oft Albträume von Wasser hatte, hatte ich hier an Bord überhaupt keine Angst. Ich genoss das Schaukeln des Schiffs mit seinem wummernden Dieselmotor und den Blick in die aufgewühlten und schäumenden grünblauen Wellen, die am Rumpf immer wieder hoch aufspritzten. Nur meine Haare wurschtelte ich schnell zu einem Pferdeschwanz zusammen, weil sie der kräftige Wind dauernd durcheinanderwirbelte und mir ins Gesicht peitschte. Verwundert sah ich zu, wie Matt sein Totenkopftuch fester um den Hals schoppte und die Kapuze seiner Sweatjacke aufstellte, bevor er den Reißverschluss bis zum Kinn hochzippte. Denn obwohl der Wind heftig blies und ein leichter Nebel vom Wasser hereinzog, fand ich es nicht besonders kalt in meiner dünnen Jacke und den Trekkinghosen, in deren Taschen ich Geldbeutel, Handy und Tempos verstaut hatte, um nicht meinen Rucksack mitschleppen zu müssen.
»Mein Immunsystem ist seit damals angekratzt«, erklärte er, als er meinen Blick auffing. »Ich muss da ein bisschen aufpassen. Sagt jedenfalls meine Mom. Und weil ich ein braver Junge bin«, seine dunklen Augen funkelten spöttisch auf, »mach ich das auch ab und zu.«
»Wie sind deine Eltern denn so?« Um mich herum drängten sich die anderen Passagiere mal auf diese Seite der Reling, mal auf die andere, um Fotos aus möglichst allen Perspektiven von Alcatraz, den Küsten von Oakland und Marin County, der Bay Bridge und der Skyline von San Francisco zu knipsen.
»Na ja, wie sollen sie schon sein? Eltern eben.« Matt drehte sich um, breitete die Arme aus und rief der sich entfernenden Silhouette entgegen: »Ist diese Stadt nicht herrlich?!«
Verblüffte bis erheiterte Blicke der anderen Fahrgäste an Deck trafen ihn und ich gluckste in mich hinein. Irgendwie war es schon cool, inmitten all dieser Menschen aus der ganzen Welt zu stehen und zu wissen, dass man selbst tatsächlich dort drüben in dieser Stadt mit ihrem Panorama aus Puppenhäuschen und Wolkenkratzern wohnte.
»Warst du schon mal auf Alcatraz?«, wollte ich von Matt wissen.
Er fuhr herum und sah mich gekränkt an. »Hallo, seh ich etwa wie ein Tourist aus?! Ich bin ein echter San Franciscan! Von uns fährt da normalerweise keiner hin!« Was erklärte, warum Ted mir nie einen Ausflug dorthin vorgeschlagen hatte.
Ich drehte mich um und blickte der Insel entgegen, die schnell näher kam. Zwischen hohen Bäumen konnte ich ein großes, mehrstöckiges Gebäude in Elfenbeinweiß erkennen und daneben eine Anzahl weiterer Bauten, die halb verfallen aussahen. Reichlich lädiert wirkten auch der hohe Schornstein und ein Wachturm aus verwittertem Metall. Oben auf dem Hügel erstreckte sich ein gealterter Klotz, der mit seinen gleichmäßigen Fensterreihen etwas Lauerndes hatte und ziemlich unheimlich aussah, genau wie der überdachte und rostfleckige Tank zwischen zwei Baumwipfeln.
»Dass es hier spukt«, hörte ich Matts Stimme direkt neben meinem Ohr und zuckte zusammen, »wussten schon die alten Indianer. Wer sich an einem besonders schweren Verstoß an den Stammesgesetzen schuldig gemacht hatte, wurde auf der Insel ausgesetzt. Und keiner davon kam je wieder zurück.« Mir lief es kalt den Rücken hinab. Matt stützte sich auf der Reling neben mir auf. »Früher war hier ein Militärgefängnis und in den Dreißigerjahren wurde es dann zum Hochsicherheitsknast für Schwerkriminelle. Al Capone war hier und der legendäre Birdman – mal den Film gesehen?« Ich schüttelte den Kopf. »Wenigstens The Rock mit Sean Connery und Nicholas Cage?«, fragte er hoffnungsvoll. Als ich wieder den Kopf schüttelte, seufzte Matt. »Aber wahrscheinlich alle Folgen von Sex And The City, oder wie?«
»Ich bin mehr für Grey’s Anatomy und Private Practice.« Früher hatten Mam und ich unseren Serienabend gehabt oder manchmal mehrere Folgen einer alten Staffel auf DVD hintereinander weg angeguckt und dazu eine Schachtel Pralinen gefuttert; wenn ihr Freund da gerade auf Geschäftsreise gewesen war, hatte Gabi sich mit zu uns aufs Sofa gekuschelt, und Mam hatte mich immer fest an sich gedrückt und mir lachend einen Schmatzer auf die Wange gegeben, wenn ich sagte, sie sehe genau aus wie Kate Walsh als Addison Montgomery. Ich hatte beide Serien schon ewig nicht mehr geguckt; zu viel erinnerte mich an das vergangene Jahr, an Mam, an das Krankenhaus, in dem sie gelegen war und an die Ärzte und Schwestern dort.
Matt stellte unter Geröchel pantomimisch dar, wie er sich den Finger in den Hals steckte, und ich verdrehte die Augen, aber um meinen Mund zuckte es.
»Alcatraz ist der ideale Ort für ein solches Gefängnis«, nahm er den Faden wieder auf. »Ein eisenharter Fels mitten im bitterkalten Wasser voll tückischer Strömungen und Strudel, immer vom Wind umtost. Und außerdem gibt’s da draußen«, seine Hand glitt über die Wellen vor uns, »auch noch Haie. Keiner, der es je geschafft hat, aus einem Zellenblock ans Wasser zu entkommen, ist lebend wieder aufgetaucht. Von einem hat man viel später nur die Kleider gefunden.«
Unwillkürlich trat ich einen Schritt von der Reling zurück; ich fühlte mich wie in diesen Momenten im Schlaf, in denen ich kurz davor war, in einen Albtraum zu fallen.
»Hör auf mit dem Scheiß«, murmelte ich. »Das ist nicht witzig.«
»Find ich schon«, gab er heiter zurück, und ich knuffte ihn in die Seite, worauf er lachte. Jungs, echt!
In meinem Bauch flatterte es unruhig, und ich wusste selbst nicht, ob vor Angst oder einfach vor Aufregung. Verstohlen schaute ich in die Gesichter der anderen Passagiere an Deck, die allesamt vergnügt und fröhlich wirkten. Warum auch nicht, denn für sie war es nur eine ganz normale Sightseeingtour. Schließlich konnten sie auch keine Geister sehen. So wie ich.
Vielleicht.
Warum um Himmels willen hatte ich mich nur darauf eingelassen?