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»Wenn du noch Fragen hast oder Probleme auftreten«, sagte Michelle mit tanzendem Pferdeschwanz, während wir durch einen der langen Korridore gingen, »oder wenn du mit deinem Stundenplan nicht zurechtkommst – du kannst mich jederzeit anrufen oder mir eine E-Mail schicken. Dafür bin ich da. Oder du kommst einfach vorbei! Meine Sprechstunden stehen auf der Rückseite.« Sie zeigte auf ihre Visitenkarte in einem Klarsichtfach vorne auf der Plastikmappe, die ich vor mir hertrug. Mit dem Adler-Logo der Jefferson High bedruckt, enthielt diese Mappe die gesamten Unterlagen, die ich von Michelle bekommen hatte. Meinen Stundenplan. Wichtige Termine und Feiertage im heute beginnenden Frühlingstrimester. Namenslisten meiner Lehrer mit Mailadresse und Telefonnummer. Listen der für mich geeigneten Neigungsgruppen mit genaueren Beschreibungen, Terminangaben, Raumnummern und Anmeldeformularen und Flyer verschiedener Clubs der Schule. Zugangsdaten für das schuleigene Netzwerk und die Website. Einen Schülerausweis, einen Ausweis für die Bibliothek sowie die von Ted erwähnte Guthabenkarte für die Cafeteria. Das vollständige Rundum-Sorglos-Paket.

Michelle brachte mich zuerst zu einem der rot lackierten Schließfächer im zweiten Stock, in dem ich meine Jacke verstaute, und zeigte mir, wie ich meine eigene Zahlenkombination am Schloss einstellen konnte, bevor sie mich durch die Schule führte. Inzwischen hatte die zweite Stunde begonnen und die Korridore waren still und verlassen. Sie hatte mir zwar auch einen ausführlichen Übersichtsplan ausgedruckt, und außerdem war das gesamte Gebäude selbst für jemand wie mich idiotensicher ausgeschildert – aber so hatte ich immerhin schon mal die Bibliothek gesehen und den Computerraum und je einen kurzen Blick in das Sprachlabor und in die Cafeteria geworfen. In die Aufenthaltsräume, die bis abends um neun geöffnet waren, und in die riesige Aula, in der regelmäßig Vorträge und Informationsveranstaltungen stattfanden. Eine kleine Runde drehten wir durch den Laden mit seinem wilden Sortiment aus allem möglichen Schreibzeug, Tampons, Sonnenmilch, Duschgel und Deos, Zeitschriften, Bücher, Schokoriegel und schließlich Basecaps, T-Shirts und Hoodies mit dem Logo der Jefferson High. Und auch das Wellness Center bekam ich gezeigt, das allerdings nicht zum Relaxen da war, wie ich zuerst dachte, sondern vielmehr eine Art Krankenstation darstellte, in der kleine Wehwehchen behandelt wurden und wo ich mich untersuchen und beraten lassen und sogar Kondome umsonst bekommen konnte. Als ob ausgerechnet ich welche brauchen würde – wo Lukas Tausende von Kilometern von mir weg war und unsere Beziehung schon den Bach runterging, bevor ich mir überhaupt Gedanken über so was machen konnte.

»Sooo, da wären wir!«, rief Michelle vergnügt, als sie mit mir im dritten Stockwerk vor der Tür mit der Nummer 318 haltmachte. »Deine erste Unterrichtsstunde bei uns: Geschichte bei Mrs Jankovich.« Die Stunde hatte bereits begonnen, ich hörte Gemurmel auf der anderen Seite der Tür, an die Michelle kurz klopfte, sie aufriss und mich hineinschob.

»Guten Moor-gen, Adele«, trällerte sie der Lehrerin entgegen. Mit ihrem wallenden Rock, den Gesundheitsschuhen und der grau gesträhnten Lockenmähne, die über den Rücken ihrer orientalischen Tunika herabrieselte, sah Mrs Jankovich so aus, als ob sie es bis heute bedauerte, den Summer of Love Ende der Sechziger knapp verpasst zu haben. »Guten Moor-gen alle zusammen!«

»Guten Mor-gen, Miss Lim«, kam es im Chor von den gut zwanzig Schülern im Raum, die einzeln an kleinen Holztischen saßen. Obwohl es bereits nach zehn war, brannten noch die Deckenleuchten, denn draußen vor den Fenstern brach ein trüber, lichtloser Vormittag an.

»Das ist Amber«, verkündete Michelle und legte mir die Hand auf die Schulter. »Amber ist neu bei uns an der Schule.«

»Hiiii Aam-beer«, setzte der Chor der Klasse wie auf ein einstudiertes Kommando ein; offenbar brachte Michelle öfters mal neue Schüler vorbei. Ich zwang mich zu einem angestrengten Lächeln, ohne jemand Bestimmtes dabei anzusehen.

»Amber ist gerade aus Deutschland hierhergezogen«, fuhr Michelle fort. »Und ich möchte, dass ihr besonders nett zu Amber seid, weil sie vor Kurzem erst …« Oh nee, bitte nicht. »… ihre Mutter verloren hat.«

Die zwanzig Augenpaare, die mich bisher nur mäßig interessiert gemustert hatten, saugten sich plötzlich an mir fest; unter gesenkten Lidern sah ich, wie sich in der zweiten Reihe ein Mädchen mit langen blonden Haaren zu ihrer Nachbarin, einer Asiatin, herüberbeugte und ihr etwas zuflüsterte. Super. Jetzt hatte ich nicht nur Die Neue quer auf meine Stirn geschrieben und das Etikett Made in Germany aufkleben, sondern dazu noch in Neonbuchstaben Achtung! Halbwaise! Bitte Mitleid spenden! auf meiner Streifenbluse stehen.

»Herzlich willkommen an der Jefferson High, Amber«, begrüßte mich Mrs Jankovich mit einer Stimme, die nach Whiskey und Selbstgedrehten klang, und gab mir die Hand, bevor sie auf den rechten von zwei freien Plätzen im Mittelfeld deutete, unmittelbar unter einem der Fenster. »Bitte setz dich!«

Dankbar, dass wenigstens sie auf irgendwelche Beileidsworte verzichtet hatte, schlich ich mit gesenktem Kopf zum Fenster hinüber und spürte, wie mir alle Augen im Raum folgten. Typisch. Das ganze Weltall ist voll schwarzer Löcher, die gigantische Sterne einsaugen und verschwinden lassen können. Aber wenn man im Alltag selbst mal eines brauchen könnte, ist natürlich nie eines da.

»Byyyeee, Amber! Byyyeee, alle zusammen!«, flötete Michelle, und »Byyyee, Miss Lim!« begleitete das Echo der Schüler sie zur Tür hinaus.

Während Mrs Jankovich nahtlos ihren Unterricht fortsetzte und über die Rolle des Klerus in der Französischen Revolution sprach, sah ich mich verstohlen um. Keiner hatte einen Laptop vor sich stehen, offenbar war es zumindest bei Mrs Jankovich üblich, handschriftlich Notizen zu machen. Vorsichtig, damit ich keinen unnötigen Lärm machte oder gar etwas fallen ließ und damit nur noch mehr Aufmerksamkeit auf mich zog, kramte ich Ringbuch und Kuli aus meinem Rucksack, atmete tief durch und fing an, mitzuschreiben.

Keine fünf Minuten später klopfte es zackig an die Tür, die sofort aufflog und hinter einem asiatischen Jungen in schwarzen Baggy-Pants und offen stehender blauer Kapuzenjacke wieder zuschlug. Sein ebenfalls schwarzes Longsleeve hing aus dem Hosenbund und schaute unter dem Linkin-Park-T-Shirt in XXL hervor; ein Tuch mit Totenkopfmuster war mehrfach um seinen Hals gewickelt, und das Kabel eines Kopfhörers lag darum, dessen Stöpsel er sich gerade aus den Ohren rupfte.

»Sorry, Mrs Janks!«, rief er mit einem entwaffnenden Grinsen, während er auf seinen Sneakers an der Lehrerin vorbeischlurfte. »Hab nicht gleich einen Parkplatz gekriegt!« Seine ohnehin schmalen Augen wirkten verschlafen und in der Hand hielt er einen großen Pappbecher von Starbucks. Ächzend ließ er sich auf den Platz neben mir fallen und setzte seinen Rucksack ab. Leises Kichern wanderte durch die Klasse.

Ich konnte nicht anders, als ihn anzustarren. Weniger wegen des spärlichen schwarzen Goatees an seinem eckigen Kinn oder weil seine leicht abstehenden Ohren mit kleinen, dünnen Silberringen gepierct waren. Sondern weil mir die Farbe seiner Haare, die er mit Gel in alle Richtungen gestellt hatte, buchstäblich ins Auge sprang.

Sie waren pink. Grellpink. Pinker ging nicht mehr. Mit einem violetten Schimmer, wenn er den Kopf bewegte, so wie jetzt, als er einen großen Schluck von seinem Kaffee trank.

»Matthew. Chang.« Mrs Jankovich klang, als bemühte sie sich, ruhig zu bleiben.

Er sah sie über den Rand seines Pappbechers hinweg verwirrt an. »Äh. Ja. Natürlich! Neues Jahr, aber immer noch derselbe alte Matt wie im vorigen.« Ein Grinsen zog seinen vollen Mund in die Breite. »Ach so – ein gutes neues Jahr, Mrs Jankovich!« Erneut sprudelte Gekicher auf.

»Deine Haare sind pink«, stellte die Geschichtslehrerin fest. Als ob irgendjemand das hätte übersehen können.

»Eeehm, also«, Matt Chang rutschte auf seinem Platz herum, »eigentlich Magenta, Mrs Jankovich. Genauer gesagt Blueberry Hill.« Er legte seine hohe Stirn in verunsicherte Falten. »Ist doch besser als das Mojito Green letztes Mal, oder?«

Hinter mir gab jemand einen erstickten Laut von sich und ich drehte mich vorsichtig um. Ein pummeliger Asiate mit dicken Brillengläsern unterdrückte hinter vorgehaltener Hand krampfhaft ein Lachen; sein pausbäckiges Gesicht war bereits rot angelaufen.

Mrs Jankovich seufzte. »Bevor ich dich jetzt wieder an die Kleiderordnung unserer Schule erinnere und du mir einen Vortrag über die in der Verfassung der Vereinigten Staaten festgeschriebene Meinungs- und Religionsfreiheit hältst, kürzen wir das Ganze ab.« Sie wandte sich zu ihrem Pult und holte aus der Schublade einen kleinen gelben Block hervor, auf den sie mit Kugelschreiber hastig etwas kritzelte. Das oberste Blatt riss sie ab und behielt den Durchschlag, während sie das Original hochhielt. »Mrs Lovell wird sich freuen, dich wiederzusehen, Matt.«

Während Matt sich erhob und zum Pult vortigerte, überlegte ich, woher ich diesen Namen kannte. In der Info-Broschüre der Schule hatte ich ihn gelesen, fiel mir dann ein: Mrs Lovell war die Rektorin der Jefferson High. Ich erinnerte mich vage an ein hageres Frauengesicht in mittlerem Alter mit einer brünetten Helmfrisur. Dafür, dass sie Matt gerade eine Vorladung zur Rektorin übergab, wirkte Mrs Jankovich allerdings wenig autoritär, sondern eher nachsichtig, fast liebevoll, und auch Matt nahm den Zettel völlig unbeschwert entgegen. Als er an seinen Platz zurückkehrte, zwinkerte er mir sogar zu. Hastig senkte ich den Kopf, sodass mir meine Haare vors Gesicht fielen. Ich nahm mir vor, sicherheitshalber einen Blick in diese ominöse Kleiderordnung der Jefferson High zu werfen, konnte vielleicht nicht schaden, und konzentrierte mich dann wieder auf den Unterricht.

Gegen Ende der Stunde bemerkte ich aus dem Augenwinkel, wie es sich draußen aufhellte, und ich hob den Kopf. Unter mir sah ich noch ein Stück eines viereckigen Stadions mit Tribünen auf den beiden Längsseiten des grünen Rasens. Neben der Anzeigetafel der Jefferson Eagles flatterte an einem Mast die Flagge Kaliforniens, ein Bär auf allen vieren vor weißem Hintergrund, und in der Senke dahinter konnte ich Tennisplätze erkennen. Jenseits der würfelförmigen Häuser zogen sich braune Hügel am Wasser entlang, das von einer Hängebrücke überspannt wurde. Abrupt brach die Sonne aus den Wolken hervor, ließ das Wasser blau erstrahlen und die Brücke in einem satten Orangerot aufleuchten. Mir blieb vor Überraschung der Mund offen stehen. Die Golden Gate Bridge, das weltberühmte Wahrzeichen San Franciscos! Ich konnte meinen Blick nicht davon lösen und starrte einfach nur noch zum Fenster hinaus. Auf das sanfte Braun der Hügelkette, das intensive Blau des Wassers, auf dem die Sonne funkelte, und auf die goldorangene Konstruktion der Brücke, bis sich ganz von selbst ein Lächeln auf mein Gesicht stahl.