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Den ganzen Tag hatte ich schon diese Unruhe verspürt. Die Saite in mir vibrierte viel zu hoch und zu schnell, als ob Amber in Aufregung war. Ich war schon versucht, nach ihr zu sehen, wagte es aber dann doch nicht. Zumal es nur ein leiser Klang war, wie aus der Ferne, und sie sich dann zu beruhigen schien.
Deshalb war ich nicht darauf gefasst, als es plötzlich in mir schrillte, hoch und grell und überlaut. Wie ein scharfer, angstvoller Schmerz, der durch mich hindurchjagte und mir beinahe den Kopf sprengte. Ich krümmte mich stöhnend zusammen und wusste sofort, dass mit ihr etwas nicht stimmte.
Ich schloss die Augen und ließ mich durch Holz und Stein gleiten, dann einfach immer weiter durch die Luft treiben. Auf ihre Angst zu, die teils auch meine war und die sich mit dem Wohlgefühl mischte, beinahe eins zu sein mit dem Wind; es war eine halbe Ewigkeit her, dass ich das zuletzt genossen hatte.
Jäh stemmte ich mich gegen den Sog. Etwas Beißendes, Ätzendes mischte sich in den Wind. Etwas Böses. Ich öffnete die Augen und taumelte zurück, als ich die Insel vor mir sah. Ein grünes und braunes Oval im blauen Wasser, auf dem die weißen Bauten unter einem dichten Nebelschleier hervorleuchteten. Wie ein Beißen, ein ätzendes Kribbeln spürte ich die anderen Geister dort.
Aber ich hatte keine Wahl. Ich stürzte vorwärts, auf die Insel zu, auf den großen Kasten an ihrem höchsten Punkt, und fegte hinein. Eilig stob ich durch den großen Raum und prallte hart gegen die weiße Tür dahinter.
Ich stieß einen Fluch aus. Wenn ich durch die Tür kommen wollte, musste ich ruhig bleiben, ruhig und locker, obwohl die Saite in mir vollkommen verrücktspielte und mir Angst machte. Erneut hielt ich auf die Tür zu, und dieses Mal reichte es immerhin dafür, mich ächzend durch das Holz zu drücken.
Über der Treppe machte ich halt. Jetzt konnte ich sie ganz deutlich spüren. Ihre Angst, die nicht spitz und blau war wie sonst, sondern schwer und glatt und tintenschwarz wie tiefste Verzweiflung. Jemand war bei ihr, männlich und noch jung, seine Schwingungen halb verschluckt von Stein.
»Amber«, raunte ich so leise ich konnte. Sie horchte auf und in die Schwärze in ihr kam Bewegung. »Ich bin hier.« Unsicherheit zitterte durch sie hindurch. »Hab bitte keine Angst vor mir.«
»Wer zum Teufel ist das?« Gewollt raubeinig klang der Junge, doch darunter lag eine ähnliche Angst wie bei ihr. Und offenbar konnte er mich ebenso hören wie sie.
»Nathaniel«, brachte sie mühsam hervor. »Das … das ist Nathaniel.«
»Etwa DER Nathaniel?«, raunzte er aus der Tiefe herauf. »Na suuuper! Auf deinen Geisterfreund hab ich gerade noch gewartet! Vom Regen in die Traufe!«
Eine meiner Brauen hob sich; ich mochte seinen Tonfall nicht. Dann erst durchzuckte mich der Gedanke, ob er ihr nahestand. So nahe wie ich ihr gern gewesen wäre, und unwillkürlich trieb es mich zurück.
»Hilfe«, wisperte sie, und ein Funke Hoffnung blitzte bei ihr auf. »Hilf mir. Mir und Matt.«
Es ging um sie. Und nur um sie.
Reglos lauschte ich in die Finsternis hinein. Die Spuren der anderen nahm ich noch wahr wie ölige Schlieren in der Luft, aber keiner von ihnen war in der Nähe. Ich tastete über die Wand und suchte einen dieser kleinen Hebel, die unter ungeheurem Lärm und Staub mit früheren Bewohnern des Hauses Einzug gehalten hatten. Knisternd und sirrend flackerte ein trüber Schein auf und ich hörte Amber aufschluchzen.
»Heeey … Und es ward LICHT!«, rief der Junge. Matt. Einer meiner Mundwinkel zog sich hinauf; wenigstens hatte er Humor.
»Ich komme jetzt um die Ecke«, warnte ich Amber vor. »Erschrick bitte nicht.«
»Ist … ist gut.« Sie klang piepsig wie eine Maus.
Ihre Augen waren das Erste, was ich sah; riesig wirkten sie in ihrem bleichen Gesicht, und sie wurden noch größer, als ich auf sie zukam. Natürlich, sie hatte mich immer nur auf festem Boden gesehen. Aus dem Augenwinkel erhaschte ich einen Blick auf diesen Matt, der vom Grund eines Lochs zu mir heraufschaute. Ein Chink, schoss es mir durch den Kopf, sein asiatisches Gesicht mit dem lächerlichen Kinnbart blass unter den grellroten Haaren. Die Brauen zusammengezogen, musterte er mich finster, aber ich konnte auch die Angst in seinen Augen erkennen. Bei ihm spürte ich einen Widerstand, doch ich konnte nicht ausmachen, ob dieser von ihm selbst ausging oder ob er etwas Machtvolles bei sich trug. Spielte auch keine Rolle, ich wollte ohnehin nicht zu ihm.
Mein Blick wanderte über den Sims, auf dem Amber schlotternd stand.
Es tat mir weh, wie sie zusammenzuckte, als ich näher kam und mich vor sie schob. Mehr denn je wünschte ich mir, ich könnte sie genauso berühren wie irgendeinen Gegenstand. Sie jetzt einfach in die Arme schließen und dorthintragen, wo sie sicher stehen konnte. Doch ihr Körper war menschlich, und solange Leben in ihr war, floss beständig eine Kraft durch ihn hindurch, so empfindlich, dass sie leicht erlosch, und doch so stark, dass sie nach außen abstrahlte. Die meine Kraft zu Luft und Wind zerstreute und mich für den Menschenleib nur etwas mehr als Nebel sein ließ. Die Versuchung, mich an sie zu pressen, mich in sie hineingleiten zu lassen und mich ihres Körpers zu bemächtigen, umsäuselte mich, zerrte dann heftig an mir. Nicht allein, um Kontrolle über ihren Körper zu haben, ihn mit meiner Kraft zu lenken und in Sicherheit zu bringen. Sondern auch, um in ihr aufzugehen; die Vorstellung, eins mit ihr zu sein, ihrer Seele so nahe zu kommen, wie es für zwei Seelen nur geht, indem ich ihre mit meiner durchwob, ließ mich zittern vor Begierde. Ein Leichtes wäre es in diesem Zustand, in dem sie sich befand, noch leichter weil sie sich mir schon so weit geöffnet hatte. Aber so leicht wäre es auch, ihr damit zu schaden, sie vielleicht zugrunde zu richten, auch wenn ich das gar nicht wollte. Mit geballten Fäusten zwang ich diese Gier in mir hinunter; es musste einfach noch einen anderen Weg geben.
»Ich bring dich heil hier herunter, Amber«, raunte ich ihr zu. »Das verspreche ich dir.«