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Ich hatte ohnehin schon solche Angst, und wie Nathaniel auf mich zukam, war einfach spooky. Schattengleich schwebte er auf mich zu und sah dabei doch schwer und massiv aus. Wie das Wechselspiel von Licht und Schatten Knochen, Muskeln und Fleisch herausmodellierte, wirkte er auf mich durch und durch lebendig. Und auf unbegreifliche, schauerliche Weise war er trotzdem schwerelos. Ich konnte nicht aufhören zu zittern, ich konnte ihn nicht länger ansehen. Es war, als hielt mich eine Geisterhand im Genick gepackt, und ein Angstschauder nach dem anderen jagte durch mich hindurch.
»Schau mich an, Amber. Bitte.« Bibbernd schielte ich zu ihm hin. Er war direkt vor mir und schob sich noch näher, streckte langsam die Hände aus und legte sie ganz dicht links und rechts von mir gegen die Wand. Ein Luftzug strich über mich hinweg, etwas Dichteres, Zäheres streifte über meinen Arm und machte mir Gänsehaut. »Schau mir in die Augen.« Vorsichtig hob ich den Kopf; und mein Blick traf seinen. »Vertraust du mir?«
»Mach das bloß nicht!«, rief Matt bissig dazwischen. »Trau ihm nicht! Glaub ihm kein Wort, Amber! Kein einziges!«
Ich blickte in Nathaniels tiefgrüne Augen, und für einen Moment vergaß ich, dass er ein Geist war. Ich schaute in seine grünen Augen unter den dunklen Locken und ich sah nur Nathaniel. Einfach Nathaniel. Mein Herz machte einen Satz und wurde dann groß und weit.
»Ja«, hauchte ich, und er lächelte.
»Gut. Atme tief ein und aus. So ist’s gut. Und jetzt heb deinen linken Fuß ein bisschen an und mach einen Schritt nach links.«
Mein Fuß rührte sich nicht von der Stelle und mir brach der Schweiß aus allen Poren. »Ich kann nicht«, jammerte ich kläglich.
»Doch, du kannst. Du hast Platz genug auf dem Stein. Du schaffst das.« Zittrig schob ich den Fuß ein winziges Stückchen nach links, und den Rücken an die Wand gepresst, zog ich den rechten nach. Meine Augen zuckten nach unten, hinab in die Finsternis, und mir wurde schlecht. »Nicht nach unten sehen. Schau mir in die Augen, Amber. So ist’s gut. Und jetzt machst du den nächsten Schritt. Und noch einen.«
Schrittchen um Schrittchen dirigierte Nathaniel mich den Sims entlang, fast wie in einer Umarmung, und nicht auch nur eine Sekunde lang lösten sich unsere Augen voneinander.
»Und jetzt machst du einen großen Schritt.«
Ich fuhr zusammen und starrte auf die Lücke neben meinem linken Schuh; etwas in mir sträubte sich, war überzeugt, ich würde straucheln und fallen, viel, viel tiefer als auf den harten Boden unter mir, den ich bereits erahnen konnte. Doch etwas anderes in mir zog mich vorwärts; ich atmete ein und setzte mit einem langen Schritt über die Leere hinweg. Dann gab es in schneller Folge nur noch links-und-rechts, links-und-rechts, immer schneller auf den Anfang der Rampe zu, der mir heller und heller entgegenkam, bis ich kurz vor dem Ende des Simses angelangt war. Nathaniel löste sich von mir und ich sprang.
Unsanft landete ich in der Hocke, verlor das Gleichgewicht und knallte mit den Knien und Handflächen auf den harten Untergrund, rappelte mich auf und lief los, um die Rinnsale herum, in denen Matt vorhin ausgerutscht sein musste. Vor dem Loch im Boden warf ich mich auf alle viere. »Matt?«
Ich atmete erleichtert auf, als ich nicht weit unter mir sein Gesicht und die knallroten Haare sah.
Bäuchlings streckte ich mich aus und reckte ihm meine Arme über den Rand hinweg entgegen. Er packte meine Hände und begann, mit den Füßen die Wand zu erklimmen. Mit zusammengebissenen Zähnen bot ich keuchend alle Kraft auf, um ihn irgendwie zu halten und nicht selbst mit hinabgezogen zu werden; für einen nicht besonders großen, klapperdürren Kerl war er verdammt schwer. Ein-, zweimal glitt er mit einem Fuß ab; meine Finger fühlten sich gequetscht an, die Handgelenke kurz vor dem Brechen und die Schultern vor dem Auskugeln, aber während ich schon langsam auf das Loch zuschlitterte, hakte sich Matts Ellenbogen über dem Rand ein. Ich ließ eine seiner Hände los und grapschte ihn bei der Jacke. Sein Knie schrammte über die Kante; ich krallte meine Finger irgendwo in seine Baggypants und zerrte daran, bis er sich halb hochgestemmt, ich ihn halb hochgehievt hatte und er sich schwer atmend neben mir auf den Rücken rollen ließ.
»Bist du okay?«, schnaufte ich und tatschte unbeholfen über seinen Oberkörper, als wollte ich fühlen, ob sein Herz noch schlug.
»Boah, schon gut«, japste er genervt und schubste meine Hand weg. »So kaputt ist meine Pumpe nun auch wieder nicht!« Er setzte sich auf und fuhr sich durch die Haare. »Nur so ein … ein kleines, verfluchtes Stück hat gefehlt! Hätte mich diese … diese Drecks-Chemo«, seine Stimme überschlug sich fast und wurde hallend von den Mauern zurückgeworfen, »nicht zum Bonsai gestutzt, wäre ich auch allein da hochgekommen!«
Ich sah ihn nur an, dann schlang ich impulsiv meine Arme um ihn und drückte ihn fest. Beklommen spürte ich, wie dürr er tatsächlich war, eher zäh und sehnig als einfach nur schlank, fast ein bisschen zerbrechlich. Einen Augenblick lang erwiderte er kräftig meine Umarmung, bevor er sich dann versteifte.
»Ähmm, Amber …« Mit spitzem Zeigefinger tippte er auf meine Schulter. »Dein Geisterfreund findet das gerade wohl nicht so toll.«
Ich hob den Kopf. Den Rücken uns zugekehrt, schwebte Nathaniel in einiger Entfernung; über die Schulter warf er uns einen Blick zu, der mir Gänsehaut machte. Fast schwarz wirkten seine Augen und seine Miene war steinern.
Verlegen löste ich mich von Matt und genau wie er stand ich mit unsicheren Bewegungen auf.
Mit eiligen, aber wackligen Schritten stapften wir die Treppe hinauf und wie ein Schatten folgte uns Nathaniel.
»Meinst du, sie ist abgeschlossen?«, fragte ich Matt wenige Stufen vor der Tür. Unwillkürlich flüsterte ich; ich hatte ein flaues Gefühl im Bauch.
»Für diesen Fall hat dein toller Superheld sicher einen Zaubertrick auf Lager«, knurrte er.
Ich drehte mich um und warf Nathaniel einen entschuldigenden Blick zu, aber er sah mich nicht einmal an.
Ich hielt die Luft an, als Matts Finger sich um den Türknauf legten, und stieß den Atem erleichtert aus, als sich die Messingkugel drehen ließ, Matt mit einem triumphierenden Grinsen die knarrende Tür öffnete und wir hinausschlüpfen konnten.
Einige Augenblicke standen wir einfach nur in dem engen Vorraum herum. Als ob uns der dicke, dampfige Modergeruch wie eine Wand aus Gelee daran hinderte, weiterzugehen. Aber vielleicht lag es auch an der fast elektrischen Spannung, die sich mit jedem Herzschlag weiter zwischen Matt und Nathaniel aufbaute.
»Also, was mich betrifft – ich hab für heute genug von Geistern«, sagte Matt schließlich und schickte ein angriffslustiges Funkeln in Nathaniels Richtung, der seinen Blick ungerührt erwiderte. Nur sein Mund, sein sonst so voller, geschwungener Mund, wirkte schmal und wie zusammengepresst. Er nickte kurz, und ohne mir auch nur einen einzigen Blick zu gönnen, wandte er sich um.
»Warte!« Schnell wollte ich ihn beim Arm packen und schreckte auf, als meine Finger durch ihn hindurchgriffen; für eine Sekunde hatte ich wieder vergessen, dass er ein Geist war. Ein transparentes und doch dreidimensionales Bild von Nathaniels Unterarm überzog wie ein Hologramm meine Hand und umgab sie mit einem dichten, kühlen Dunst. Es fühlte sich nicht so gruselig an wie beim ersten Mal, schon gar nicht, als dieser Nebel sich auf meiner Haut leicht erwärmte. Und dieses Mal fand ich es schade, dass Nathaniel zurückwich und diese zarte, fließende Wärme mit sich fortnahm.
»Ist besser, wenn ich jetzt gehe«, raunte er heiser vor sich hin und lehnte sich gegen die Mauer, sodass eine seiner Schultern bereits darin eintauchte.
»Nathaniel«, flüsterte ich mit einem Kloß im Hals, und endlich sah er mir in die Augen. »Danke«, würgte ich hervor.
Um seinen Mund zuckte es, als wollte er lächeln oder etwas sagen; stattdessen nickte er nur knapp und ließ sich vollständig in die Mauer sinken. Daran konnte und wollte ich mich nicht gewöhnen. Schon gar nicht bei ihm; hastig sah ich weg und erst wieder hin, als ich aus dem Augenwinkel erkennen konnte, dass er verschwunden war. Undurchdringlich glatt und auf abweisende Art solide wirkte die Mauer auf mich und mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen.
Verstohlen duckten Matt und ich uns unter der Kordel hindurch und schlenderten unauffällig zum Ausgang des Speisesaals, dann machten wir, dass wir so schnell wie möglich aus dem Zellenblock hinauskamen.
Im Laufschritt legten wir den Weg nach unten zurück, eingehüllt in einen feinen Nieselregen, den der bleigraue Himmel zu uns herunterschickte. Meine Jacke und meine Hose waren genauso verdreckt und fleckig wie die von Matt, und ich vermutete, dass ich genauso blass um die Nase aussah wie er. Schweigend standen wir an der Anlegestelle in der endlos langen Schlange munter plaudernder und lachender Touristen, und schweigend schipperten wir auch in der mollig warmen, von den vielen Passagieren fast stickigen Kabine unter Deck nach San Francisco hinüber. Und keiner von uns beiden warf noch einmal einen Blick zurück nach Alcatraz.
»Ihr habt sie echt nicht mehr alle!«
Wie ein Tornado wirbelte Holly durch ihre Küche, ein Tornado in Jogginghosen aus limonengrünem Nickistoff, taillenkurzem Longsleeve mit glitzerndem Aufdruck und Hausschuhen, die verblüffend Mrs Hansons Katze ähnelten. Während sie uns weiter ausschimpfte und vor sich hin fauchte, riss sie Schranktüren auf und schlug sie wieder zu, klapperte mit Dosen und Löffeln und klirrte mit Tassen und Gläsern, wobei mir nicht ganz klar war, ob sie aufräumte, etwas Bestimmtes suchte oder einfach damit ihre Wut abreagierte; sie erinnerte mich an Mam, wenn sie wütend gewesen war. Ein Wunder, dass alles heil blieb, und nicht zum ersten Mal in der letzten halben Stunde dachte ich, dass es wohl kein guter Einfall gewesen war, uns bei Holly ein bisschen erholen zu wollen.
»Es war meine Idee«, meldete sich Matt kleinlaut zu Wort, der sich auf dem Stuhl zusammengekauert hatte und sich an seiner Colaflasche festhielt. »Amber kann nichts dafür.«
»Umso schlimmer!«, zischte Holly, zerrte eine Schublade auf und knallte sie gleich wieder zu. »Du hättest es besser wissen müssen!«
»Jaa«, murrte er, sah mich über den Tisch hinweg an und formte mit den Lippen ein stummes Sorry. Ich zuckte müde mit den Schultern und nippte an meinem heißen Tee; er schmeckte anders als sonst bei Holly, mehr nach Kräutern, ein bisschen nach Salbei und leicht bitter.
»Immerhin hab ich sie jetzt endlich davon überzeugt, dass es Geister gibt und dass sie sich nicht einbildet, was sie sieht«, grummelte Matt vor sich hin.
»Aber auf die Idee, dass sie momentan wie ein weit offen stehendes Tor für Geister ist, bist du natürlich nicht gekommen, was?!«, zeterte Holly weiter.
»Hmpf«, machte Matt und duckte sich tiefer über die Plastikflasche.
»Und warum bin ich das?«, fragte ich leise.
Holly blieb abrupt stehen und ihr eben noch im Zorn verkniffenes, gerötetes Gesicht wurde weich. »Na, wegen deiner Mommy, Schätzchen! Wenn jemand Sensibles wie du hautnah miterlebt, wie ein geliebter Mensch todkrank wird und stirbt, reißt das ein so großes Loch in deine Seele, dass es für Geister ein Leichtes ist, sich Zugang zu dir zu verschaffen.«
Ich blinzelte in die dampfende Teetasse vor mir; ich hatte mich nie für besonders sensibel gehalten, eher für den bodenständigen, zupackenden und realistischen Typ, so wie Mam es gewesen war. »Heißt das … heißt das, dass ich heute von einem Geist besessen war? Oder von mehreren?« Allein der Gedanke daran ließ mir übel werden vor Angst.
»Aber nein!« Etwas besänftigt sortierte Holly die Gläser im Oberschrank um. »Dann wärst du nicht auf dem Sims stehen geblieben, sondern runtergesprungen. Das war nur ein böser Streich, den sie dir da gespielt haben.« Wie beruhigend. »Der allerdings übel hätte ausgehen können«, grollte Holly über ihre Schulter hinweg Matt zu, der sich daraufhin noch tiefer duckte. »Besessenheit«, fügte sie dann so nebensächlich hinzu, als würde sie mir Shoppingtipps geben, »ist nicht, wenn ein Geist nach deinen Erinnerungen greift und dir damit die Sinne so vernebelt, dass du durch Halluzinationen herumirrst wie durch eine Fata Morgana in der Wüste. Das ist ein kleines Machtspiel, das sie manchmal treiben und das eigentlich nie besonders lange dauert, weil sie ihre Kraft nicht lange genug bündeln können, um die Illusion aufrechtzuerhalten. Ich nehme an, dass deshalb bei euch heute auch die Tür nicht verschlossen war, dafür hat vermutlich ihre Energie nicht mehr ausgereicht. Ihr habt wirklich mehr Glück als Verstand gehabt!« Sie schnaufte kräftig auf. »Besessenheit kannst du dir so vorstellen, dass die geisterhafte Erscheinung, wie ihr, du und Matt, sie sehen könnt, in deinen Körper schlüpft. Sie verschwindet komplett darin, saugt sich fest wie ein Schmarotzer an einen Wirt und kidnappt quasi die menschliche Seele.« Ein Glas in der Hand, drehte sie sich halb zu mir um. »Kannst du dir ungefähr so vorstellen wie ein Geiselnehmer in der Bank, der den Bankdirektor fesselt und knebelt.«
»Und was hat der Geist davon?«, wollte ich wissen.
Schulterzuckend wandte sich Holly wieder um. »Na ja, er hat wieder komplett menschliche Sinnesempfindungen und einen richtigen Körper, mit dem er tun kann, was er will. Ich stelle es mir nicht schön vor, fünfzig oder hundert Jahre vor mich hin vegetieren zu müssen ohne Pizza und Pommes, ohne Wodka Lemon und ohne Kippen. Ach ja, und ohne Sex.« Sie zwinkerte mir kurz zu, bevor sie dann weiter zwischen den Gläsern rumräumte. »Vor allem aber geht es den Geistern um Macht. Darum, die menschliche Seele zu quälen und leiden zu sehen. Sie zu vernichten, sodass die betreffende Person irgendwann nicht mehr weiß, was in ihrem Denken, Fühlen und Handeln von ihr selbst stammt oder von dem Geist.«
»Was kann man gegen diese Besessenheit tun?« Was Holly da erzählte, klang abgefahren und beängstigend zugleich, aber auf eine Art faszinierte es mich auch.
»Oh, Schätzchen«, Holly lachte mir über ihre Schulter hinweg zu, »wenn ich dafür das perfekte Rezept hätte, wäre ich Millionärin und würde den Rest meiner Tage in der Karibik mit Nichtstun verbringen! Der Vatikan glaubt ja, er hätte mit seinen Exorzismusriten das Allheilmittel dagegen.« Sie schnaubte verächtlich. »Albernes Brimborium!« Mit schräg gelegtem Kopf musterte sie prüfend ihr Werk, nickte kurz und pfefferte dann die Schranktür vor den in Reih und Glied stehenden Gläsern zu, bevor sie sich umdrehte und sich gegen die Kante der Arbeitsplatte lehnte. »Man kann eigentlich nur hoffen, dass die verlorene Seele die Lust an diesem scheußlichen Spiel verliert, noch bevor sie ihr Werk der Zerstörung vollbracht hat und den Körper aus eigenem Antrieb wieder verlässt. Oder man versucht, mit viel Wissen und Fingerspitzengefühl die Schwachstelle der verlorenen Seele aufzuspüren und da anzusetzen. Und auf demselben Weg das Loch zu schließen und zu versiegeln, das es dabei in das Energiefeld seines Menschenwirts gerissen hat.« Sie langte hinter sich, griff sich ihre Tasse und nippte ein paarmal daran, bevor sie leise hinzusetzte: »Ein buchstäblich todsicheres Mittel ist der Selbstmord. In dem Moment, in dem der Wirtskörper stirbt, werden beide Seelen voneinander getrennt und befreit. Was natürlich eine riskante Sache ist – erstens hat man als Lebender nichts mehr davon, und zweitens weiß man nicht, was danach auf einen wartet. Und trotzdem sind viele von einem Geistwesen Besessene so verzweifelt, dass sie keinen anderen Ausweg sehen.«
Ich fror plötzlich und trank in großen Schlucken von meinem Tee, um mich von innen zu wärmen.
Mit der Andeutung eines Grinsens stand Matt auf. »Vielleicht solltest du dir auch so was zulegen.« Er drehte sich um und zerrte sich Longsleeve und T-Shirt bis über die Schultern hinauf. Ein bis ins kleinste Detail kunstvoll ausgearbeiteter chinesischer Drache in Grau- und Brauntönen, gleichzeitig prächtig und furchterregend, wand sich in mehreren Schleifen über seinen gesamten, schmalen Rücken, spreizte seine Flügel über Matts knochige Schulterblätter und fauchte mich mit qualmenden Nüstern an.
Ich machte große Augen. »Ein Drachentattoo?«
»Cool, oder?« Matt verrenkte sich den Hals, um mir einen stolzen Blick zuzuwerfen. »Carson ist ein echter Künstler! Ich kann dir einen Führerschein oder Perso mit gefälschtem Geburtsdatum besorgen, falls du dir auch eins machen lassen willst.«
»Der Drache bietet keinen hundertprozentigen Schutz«, erklärte Holly, »aber lässt die meisten Geistwesen zumindest erst mal auf Abstand gehen und sich vielleicht doch lieber jemanden ohne dieses machtvolle Tier auf der Haut suchen. – Pack deinen Astralkörper wieder ein, Honey, wir haben ihn gebührend bewundert.« Im Vorbeigehen tätschelte sie Matts Rippen, die sich genauso deutlich unter seiner Haut abzeichneten wie die Knubbel seiner Wirbelsäule.
Grinsend ließ Matt die beiden Shirts wieder hinunterrutschen und hockte sich hin. »Ist nämlich kein Zufall, dass der Drache bei uns Chinesen seit Jahrtausenden als Glückssymbol gilt!«
»Aber nun erzählt doch mal«, kam es von Holly, die das Fenster aufriss, sich auf das Fensterbrett schwang und sich eine Zigarette anzündete. »Wie ist er denn so, Ambers Geisterfreund?«
Matt musterte mich aus schmalen Augen. »Ich mag ihn nicht.«
Einen amüsierten Zug um die Mundwinkel, blies Holly den Rauch nach draußen. »Du bist doch wohl nicht eifersüchtig?«
Mit offenem Mund starrte ich erst Holly an, dann Matt, der bis unter die gefärbten Haarwurzeln rot anlief. »Bullshit«, knurrte er übellaunig.
»Sicher?«, neckte ihn Holly und baumelte mit den Beinen.
»Das ist mir doch heute echt zu blöd mit euch«, bellte Matt, sprang auf und riss seine Sweatjacke von der Stuhllehne. »Gebt mir Bescheid, wenn man mit euch wieder normal reden kann!«
Wutentbrannt stürmte er zur Küche raus und mit einem Knall flog die Wohnungstür hinter ihm ins Schloss. Ich fühlte mich wie vor den Kopf geschlagen – war Matt tatsächlich eifersüchtig auf Nathaniel? Bedrückt umklammerte ich meine Teetasse mit beiden Händen und überlegte, ob ich ihm nachlaufen sollte.
»Magst du ihn denn?«, hörte ich Hollys Stimme hinter mir.
Ich sah zu dem Stuhl hinüber, auf dem Matt gerade eben noch gesessen war, und hob die Schultern. »Ich kenne ihn ja noch nicht sehr lange … Irgendwie schon, ja.« Ich schaute Holly an. »Meinst du, ich soll schnell hinterher und mit ihm reden?«
Holly machte große Augen, dann lachte sie ihr heiseres, derbes Lachen. »Geeez, Herzchen! Ich hab nicht Matt gemeint! Sondern deinen Geisterjungen – Nathaniel!«
Ich starrte vor mich hin. Ich hatte Nathaniel gemocht, als ich noch nicht wusste, dass er ein Geist war; sehr hatte ich ihn da gemocht. Aber jetzt … jetzt war in mir ein solcher Wirrwarr aus Gedanken und Gefühlen, die ich einfach nicht auseinanderklamüsern, geschweige denn sortieren konnte, und ich hatte weder die Tatsache verdaut, dass ich wirklich Geister sehen konnte, noch dieses schauderhafte Erlebnis heute auf Alcatraz. Das Einzige, was ich vielleicht auf die Reihe bringen konnte, war die Sache mit Matt.
Ich stand auf und griff mir meine Jacke. »Ich muss schauen, dass ich Matt noch erwische. Danke für den Tee.«
Holly nickte und schnippte die Asche zum Fenster hinaus. »Sei bitte vorsichtig, Amber«, sagte sie dann leise und betrachtete ihre Plüschhausschuhe. »Mag sein, dass Nathaniel dir aus irgendeinem Grund tatsächlich nichts Böses will. Aber du darfst nicht vergessen, dass es genauso einen Grund gibt, warum er ein Geist ist. Ich habe noch nie gehört, dass sich dahinter etwas Gutes verbirgt.«
Mittlerweile regnete es stärker; als ich aus der Haustür lief, um die Ecke bog und mich auf der leeren Sutter Street in alle Richtungen umschaute, durchtränkten die Tropfen meine Haare und liefen mir übers Gesicht. Mein Herz klopfte, als ich weit vorne einen roten Haarschopf leuchten sah, über den gerade eine Kapuze gezogen wurde, und ich rannte los. »Matt! Hey, Matt!« Hastig warf er mir über die Schulter einen Blick zu, schob die Hände in die Taschen seiner Sweatjacke und lief schneller vorwärts. »Matt! – Sorry«, schnaufte ich, als ich beinahe einen Mann mit Regenschirm umgerannt hatte, der plötzlich zwischen den parkenden Autos hervorkam. »Matt! Warte! Ich muss mit dir reden! Matt!«
Als ich ihn fast erreicht hatte, machte er abrupt halt und fuhr herum. »Was?!«
»Wegen gerade eben …«, keuchte ich. »Stimmt das – bist du … bist du eifersüchtig auf Nathaniel?«
»So ein Blödsinn!« Er zögerte, dann setzte er mit zusammengekniffenen Brauen hinzu: »Tut mir leid, wenn ich dir das so direkt sage – du bist zwar ganz süß und so, aber ich steh nicht auf dich, okay?!«
»Oh-okay.« Matt hatte sich schon wieder umgedreht und wollte weitergehen, da hielt ich ihn am Ärmel zurück. »Aber warum warst du vorhin dann so komisch, als …«
Mit einer jähen Bewegung riss er sich los. »Bist du eine Nervensäge!« Er atmete tief durch und sah mich an. »Du raffst es nicht, oder? Ich steh nicht auf dich – ich steh auf Holly!« Fast verzweifelt klang er dabei.
»Holly?« Vor Verblüffung war meine Stimme hoch und schrill. »Aber die ist doch mindestens zehn Jahre älter als …«
»Mann, du bist nicht nur nervig, sondern auch spießig!«, ranzte Matt mich an und tigerte weiter durch den Regen. »Und es sind übrigens nur neun Jahre!«
»Aber – aber Holly macht sich nichts aus Beziehungen!«, rief ich, während ich zu ihm aufschloss.
Matt schnaubte. »Ja, danke für die Info, Miss Superschlau! Da wäre ich ohne dich niemals draufgekommen!« Er blieb wieder stehen; von einer Sekunde zur nächsten war sein Zorn verraucht. Mit hängenden Schultern und trauriger Miene sah er gar nicht mehr cool aus, sondern einfach nur wie ein unglücklich verliebter Siebzehnjähriger. »Ich hoffe die ganze Zeit«, sagte er dann leise, »sie kapiert irgendwann mal, dass ich nicht mehr der kränkliche Junge bin, der vor zwei Jahren bei ihr im Laden stand. Dass ich inzwischen erwachsen bin und sie viel mehr für mich ist als nur eine gute Freundin.« Als ich ihn mitfühlend am Arm berührte, sah er mich an, und in seinem regennassen Gesicht zuckte ein Muskel. »Und dass ich sie so sehe, wie sie wirklich ist, klug und nachdenklich und liebenswert. Nicht so wie die Typen, von denen sie manchmal einen über Nacht da hat und für die sie nur ein durchgeknalltes Betthäschen ist.« Er blies die Backen auf und stieß die Luft aus. »Danke fürs Zuhören.« Ein kleines Grinsen schien auf seinem Gesicht auf. »Du kannst echt tierisch nerven, aber ich mag dich trotzdem ganz gern – so als Kumpel.«
Ein Lächeln zuckte um meinen Mund. »Geht mir mit dir genauso.«
Matt nickte, und einige Herzschläge lang sahen wir uns nur an, dann seufzte er und ruckte mit den Händen in der feuchten Sweatjacke auf und ab. »Ich sollte besser mal nach Hause und zusehen, dass ich aus den nassen Sachen hier komme. Wenn ich mich erkälte, flippt meine Mom nämlich total aus.« Sein Mund zog sich in die Breite. »Gehen wir Montag wieder zusammen essen?«
Teds beunruhigte Blicke und vorsichtige Nachfragen, als ich verdreckt und triefnass durch die Tür kam, beantwortete ich mit einem gemurmelten Rumgetobt – Spaß gehabt – Müde und verzog mich gleich in die Badewanne.
It never rains in Southern California, lief es das ganze restliche Wochenende auf Dauerschleife in meinem Kopf. Zumindest in Nordkalifornien war das gelogen, denn es schüttete wie aus Eimern. Mir kam es sehr entgegen, dass unsere Joggingrunde und die Erkundungstour durch die Stadt buchstäblich ins Wasser fielen. Während Ted in seinem Arbeitszimmer den Klausuren ihren letzten Schliff verpasste, machte ich es mir in Pyjama und Kuschelsocken auf der Couch bequem, zappte hirnlos durch die Glotze oder döste vor mich hin, blätterte durch die Bücher, die ich mir von Ted geliehen hatte, surfte im Netz herum und dachte eine Menge nach. Über mich. Über Geister. Über Matt und Holly.
Und über Nathaniel.