10
Die Powell Street hinunter zum Union Square ließ mir die Augen übergehen und das Getümmel dort überrollte mich geradezu.
Dichter Verkehr herrschte hier, mit den typischen amerikanischen Hupkonzerten und ihren weit entfernten Echos, den Sirenen von Feuerwehr und Rettungsdienst; von irgendwoher schmiegte sich der softe Saxophon-Blues eines Straßenmusikers dazwischen. Und auf und ab zogen sich ratternd und klingelnd die Cable Cars, an deren Haltestangen Trauben von Touristen hingen. Am Ende der Straße wurden die Cable Cars auf einer Plattform gedreht, um danach wieder mit einer neuen Fuhre Menschen, die geduldig in einer langen Schlange dafür anstanden, die Steigung hinaufzuruckeln. Ein Gemisch aller möglichen Nationalitäten drängelte sich hier, die unterschiedlichsten Sprachen waren zu hören, sogar Süddeutsch und Schweizerdeutsch. Sich im Gehen zu unterhalten, war in dem Lärm, dem Stimmengewirr so gut wie unmöglich, und ich musste mich darauf konzentrieren, die anderen im Gedränge nicht zu verlieren.
Entlang der abschüssigen Straße kamen wir an einer großen Buchhandlung vorbei, die von außen ebenso gediegen wie gemütlich aussah. Sharon, Danielle und Felicia hatten aber keine Augen für die Bücher und auch an dem prunkvollen Hotel namens Sir Francis Drake waren sie eilig vorbeigegangen. Fasziniert drehte ich mich noch einmal nach den Pagen vor der Tür um, die rote Kostüme wie Diener der Tudor-Zeit trugen, mit weißen Halskrausen und weißen Handschuhen, und dazu ulkige schwarze Hüte mit Stoffblümchen rings um die Krempe. Dann holte ich schnell zu den anderen auf. Neben allen möglichen Boutiquen und edlen Parfümerien wie Sephora, neben Starbucks und einem sehr hippiemäßig aussehenden Plattenladen gab es auf der Powell Street auch einen Fanshop der San Francisco Giants und Saks Fifth Avenue, ein Nobelkaufhaus, das mit seiner imposanten Fassade aussah, als müsste man erst mal seine Kreditkarte prüfen lassen, ehe man es betreten durfte.
Ich sah den Bankern und Geschäftsleuten in ihren feinen Anzügen hinterher, den Businesswomen in ihren Kostümen und den flippig angezogenen jungen Leuten. Im Sonnenschein dieses milden Januartags wirkte alles so intensiv und lebendig, im besten amerikanischen Sinne eaasyyy, und ich fand es einfach nur WOW!
Ich konnte gerade noch verblüfft einen Blick auf einen rappeldürren Asiaten mit Mega-Sonnenbrille und gegelten Haaren erhaschen, der in knallenger Jeans und schwarzer Bikerjacke über die Straße tänzelte und dabei eine Luxus-Handtasche so gekonnt auf dem Unterarm schaukelte, dass es Bruce Darnell Glückstränen in die Augen getrieben hätte, als mich Sharon bei der Hand nahm und weiterzog.
Ausladende Palmen säumten den quadratischen Union Square, der auf drei Seiten von Hochhäusern aus hellem Stein, aus Glas und Stahl umgeben war, und die Ladengeschäfte im Erdgeschoss trugen Namen wie Tiffany oder Louis Vuitton. Am Ende dieses Platzes betraten wir Macy’s, innen blendend hell erleuchtet und kühl glänzend und für mich ebenso einschüchternd wie die sorgfältig geschminkten Maskengesichter der Verkäuferinnen.
»Und? Wie findet ihr’s?« Mit erwartungsvoller Miene, die Hände in die Hüften ihrer Jeans gestützt, schritt Felicia aus der Umkleidekabine. Sanfte Musik durchperlte die in Weiß gehaltene Abteilung mit der schmeichlerischen Beleuchtung in einem der oberen Stockwerke des Kaufhauses.
Meine Brauen rutschten hoch. Das goldglitzernde Top, das Felicia da anprobierte, stand ihr zwar gut zu ihrer braunen Haut, bedeckte davon aber auch wirklich nur das Allernötigste; vermutlich würde bei der nächsten Bewegung ihre üppige Oberweite irgendwo rausfallen. Die Klamotten hier waren entweder spießig und mehr was für meine Oma oder im Gegenteil so extravagant, dass sie besser nach Las Vegas gepasst hätten. Und die wenigen Sachen, die ich ganz nett fand, waren wahnsinnig teuer.
»Tooooll!«, schwärmte Danielle und ließ das knallrote Satinfetzchen sinken, das sie gerade noch auf seinem Bügel hin- und her gedreht hatte.
»Oh Mann, Felicia!«, rief Sharon lachend. »Deine Mom fällt tot um, wenn sie dich darin sieht.«
Ich wandte mich rasch ab und befingerte heftig blinzelnd ein Preisschild an dem Kleiderständer neben mir. Als Danielle mich mitfühlend am Arm berührte, zuckte ich nur mit den Schultern und schlängelte mich durch die Kleiderständer hindurch, als ob ich in einiger Entfernung etwas Interessantes entdeckt hätte.
»Ich glaub, ich muss dann auch langsam nach Hause«, meinte ich matt, als wir Macy’s endlich verließen. Meine Füße taten mir weh von dem ewigen Hin- und Herlaufen durch die einzelnen Stockwerke und Abteilungen, und mir war leicht übel von den ungefähr dreiundachtzig Parfums, die wir uns in der Kosmetikabteilung von einer perfekt gestylten Verkäuferin auf Duftstreifen hatten aufsprühen lassen.
»Ach komm, jetzt wird’s doch erst richtig lustig«, widersprach mir Felicia, wechselte ihre Tüten in die andere Hand, hakte sich bei mir unter und schob mich unnachgiebig die Straße entlang. »Jetzt schauen wir uns die wirklich schicken Sachen an!« Lustlos trottete ich neben ihr her.
»Hast du in Deutschland eigentlich einen Freund?«, wollte sie mit einem schnellen Seitenblick wissen, als wir an den ebenso sparsam wie vornehm dekorierten Auslagen von Prada, Bulgari und Burberry vorbeischlenderten.
Hatte ich noch einen? Ich wusste es nicht. Zweimal hatten Lukas und ich noch hin- und hergesimst. Beim ersten Mal hatte er noch geschrieben, dass er mich vermisste; beim zweiten Mal schon nicht mehr. Seitdem hatte ich nichts mehr von ihm gehört, aber zumindest gestern war sein Beziehungsstatus auf Facebook noch der alte gewesen.
»Sonst verkuppeln wir dich mit meinem Bruder«, rief Sharon hinter uns.
»Oh ja«, begeisterte sich Danielle neben ihr. »Jeff ist klasse! Er ist Senior, sieht total gut aus und spielt als Quarterback bei den Eagles!«
»Na«, meinte Felicia mit einem weiteren Seitenblick auf mich, »vorher müssen wir aber noch ein bisschen was aus dir machen!«
Ich schaute an mir hinunter, auf meine Converse, die Schlagjeans und auf meine Lieblingsbluse in Oliv und Grau unter der Khakijacke und warf dann einen Blick in die Schaufensterscheibe, die mir mein durchsichtiges Spiegelbild mit dem ungeschminkten Gesicht und den offenen Haaren zeigte, die eben – na ja, einfach Haare waren. »Ich find mich okay so.«
»Ja, okay«, gab Felicia belehrend zurück. »Aber okay reicht eben nicht als Freundin eines Quarterbacks!«
Abrupt blieb ich stehen. Was tat ich hier eigentlich? Ich würde nie dazugehören, nicht zu Mädchen wie Sharon, Felicia und Danielle, und ich wollte es auch nicht; lieber blieb ich allein. Ich riss mich von Felicia los und machte auf dem Absatz kehrt. Die Stimmen der drei, die meinen Namen riefen, blendete ich einfach aus, genau wie alles andere. Ich wollte weg hier, allein sein. Ich vermisste Mam, und ich vermisste mein Leben, wie es einmal gewesen war. Und ich hatte schreckliches Heimweh. Wie auf Autopilot geschaltet, schaffte ich es über eine große Straße, ohne angefahren zu werden, und blind und taub marschierte ich einfach weiter.
Nur langsam klarte das wattige Gefühl in meinem Kopf auf. Nach und nach drangen wieder Geräusche zu mir durch, nahm ich Stück für Stück wieder meine Umgebung war. Glatte Fassaden aus Backstein oder Beton, die Einfahrt zur Tiefgarage eines Hotels. Ich blieb stehen und sah mich um.
Ich hatte keine Ahnung, wo ich war.
Kurz durchzuckte mich der Gedanke, Ted anzurufen, aber dazu hätte ich erst einmal ungefähr wissen müssen, wo ich mich befand. Außerdem hatte er seine wichtige Sitzung – und welche Standpauke mich danach erwartete, wollte ich mir lieber nicht vorstellen. Bevor ich diese Kröte schluckte, würde ich wenigstens versuchen, irgendwie selbst den Weg in die Sacramento Street zu finden.
Ich schlüpfte in den zweiten Schultergurt und rückte mir den Rucksack zurecht, bevor ich weiterging. Immer wieder warf ich bange Blicke nach oben, von wo sich dicker Nebel in die Häuserschlucht senkte und den ersten Hauch von Dämmerung mitbrachte. Totenstill war es hier; ein Auto brauste vorbei und einige Augenblicke später noch eines, danach war die Straße wieder leer.
Als ich nah genug war, um das Straßenschild hinter der nächsten Kreuzung zu lesen, atmete ich auf. Leavenworth – diese Straße kannte ich, ich musste ihr nur folgen; vielleicht würde ich unterwegs auch an einer Bushaltestelle vorbeikommen und sicher an einem Laden oder Lokal, in dem ich nach dem Weg fragen und bestimmt auch ein Taxi bestellen konnte.
Ich wollte gerade in die Leavenworth einbiegen, da richteten sich drei Augenpaare auf mich. Die bulligen Typen, die an der Ecke herumlungerten, waren deutlich älter als ich, aber noch nicht so alt wie Ted. Zwei schwarz, einer weiß, in abgetragenen Jeans und Parka oder Armeejacke; der Weiße schlenkerte unaufhörlich unter klirrendem Geräusch einen schweren Schlüsselbund in den Fingern. Mein Magen krampfte sich zusammen und mit gesenktem Kopf ging ich geradeaus weiter. Schnell, denn ich hörte Schritte hinter mir. Neben mir. Ein massiger Körper schob sich mir in den Weg und bremste mich aus. Ich wollte zur Seite ausweichen, doch auch dort baute sich einer der Typen vor mir auf.
»Na, Süße, Schule schon aus für heute?«, raspelte der vor mir mit rauer Stimme.
Ich machte einen Schritt nach vorne, um mich zwischen den beiden durchzuschieben; jemand packte den Griff meines Rucksacks und riss mich zurück, und der vor mir grapschte sich meine Oberarme.
»Hey, hey, immer langsam, Missy.«
Ich roch Alkohol und speckige Haut, muffige Kleidung und alten Schweiß; ihnen in die Gesichter zu schauen, brachte ich nicht fertig. Ich ruckte an meinen Armen und wand mich in dem Griff der behaarten, von Tattoos überzogenen Hände, tat mir damit aber nur selber weh. Schrei um Hilfe! Na los! Schrei! Aus meinem Mund kam nur ein ängstliches Fiepen.
»Was haben Mommy und Daddy dir denn Schönes eingepackt?« Der neben mir riss den Reißverschluss der Seitentasche auf. »Nun schaut euch den alten Knochen an!« Mein Handy krachte auf den Asphalt; einzelne Plastikteile splitterten ab, und der Motorradstiefel, der gleich darauf hinabdonnerte, gab ihm den Rest. An meinem Rucksack wurde herumgezerrt, und ich dachte an meinen Laptop, der noch so gut wie neu war, kaum ein Jahr alt, mit all den Mails von zu Hause darauf und meinem Aufsatz für Literatur, und an meinen MP3-Player mit all den Songs, die mir etwas bedeuteten. Der Typ neben mir pfiff durch die Zähne und hielt mir meine Kreditkarte unter die Nase.
»Da hast du aber einen lieben Daddy! Bist bestimmt ein ganz braves Mädchen, oder?«
Mein Geldbeutel. Sie hatten meinen Geldbeutel. Mit einem Foto von Mam darin. Mir rutschte ein trockener Schluchzer heraus, und dann erst hörte ich selbst, wie laut und keuchend mein Atem ging.
Eine schwere Hand legte sich auf meine Hüfte und wanderte abwärts, um meine Hosentaschen abzutasten. Ich senkte den Kopf weiter und zielte, holte mit dem Fuß aus und kickte den Typ vor mir mit aller Kraft scharf vors Schienbein; ich konnte es förmlich knirschen hören. Er brüllte auf, sein Griff lockerte sich und ich riss mich los.
Ich spürte den Luftzug von Händen, die nach mir griffen; mit einem Ruck spannte sich meine Jacke an. Mein Ellenbogen schnellte zurück und knallte gegen etwas Hartes; Stoff ratschte, dann stolperte ich vorwärts und begann zu laufen.
Hinter mir hörte ich Stimmen und schnelle Schritte und ich legte einen Zahn zu. Der Rucksack rüttelte auf meinem Rücken hin und her und schlug mir ins Kreuz und Haarsträhnen klebten mir im feuchten Gesicht. Die Häuser links und rechts verflossen zu verwackelten Schlieren, während ich rannte, so schnell ich konnte. Ich schlug Haken wie ein Hase, bergauf und wieder bergab, in Seitenstraßen hinein und um Hausecken herum, und flog irgendwann über eine breite Straße hinweg; hinter mir kreischten Bremsen, dröhnten empört mehrere Autohupen. Lichter flammten auf und erhellten die Dämmerung. Schon längst wusste ich nicht mehr, ob das Pumpen und Stampfen in meinen Ohren von den drei Typen hinter mir kam oder von meinem eigenen Atem, meinem eigenen Pulsschlag. In meinen Muskeln zog es, in meinen Lungen brannte es wie Feuer, und der Nebel, der sich langsam herabsenkte, biss mich in der Kehle. Ich wusste nicht, wo ich war, wo ich hinlief, aber ich konnte einfach nicht aufhören. Ich konnte nicht stehen bleiben. Runner’s High.
Ich setzte über eine Straße hinweg und meine Knie gaben nach; mit der Kappe meines Sneakers blieb ich am Bordstein hängen und strauchelte, taumelte weiter vorwärts und prallte schmerzhaft mit den Rippen und einer Wange gegen einen Eisenzaun. Mit schweißnassen Fingern klammerte ich mich an die Streben und rang nach Luft; gehetzt sah ich mich nach allen Seiten um.
Das rot glühende Auge der Ampel hinter mir starrte mich regungslos an. Im sanften Schein der Straßenlaternen und wohnlich erhellter Fenster lag die Kreuzung verlassen da; dicker Nebel zerstreute das Licht und verschluckte jedes Geräusch außer meinen eigenen flachen, pfeifenden Atemzügen. Vor mir ragte ein Haus in die Höhe, eine finstere Wand, aus der sich zur Laterne hin Türmchen und Giebel und Fenster herausbildeten, halb verborgen hinter Gestrüpp und wuchernden Baumkronen. An einem Pfosten steckte ein großes Schild im Boden und neigte sich windschief in das milchige Licht der Laterne hinein: FOR SALE, stand darauf, darunter eine Telefonnummer.
Über meinen verschwitzten Nacken rann ein Prickeln und mein Kopf fuhr herum. Ich war nicht allein, das spürte ich, aber ich sah niemanden, hörte nichts. Meine Hand tastete sich weiter über die Streben des Zauns. Erschöpft lehnte ich mich dagegen, und mit einem grellen Quietschen, einem rostigen Knarren gab er nach.
Erschrocken starrte ich auf das schmiedeeiserne Tor vor mir, das sich ein Stück weit geöffnet hatte.