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Ich fiel, fiel durch einen weißlichen Nebel ins Bodenlose.
So hatte ich mir immer einen Fallschirmsprung aus dem Flugzeug vorgestellt, dieses Kreiseln um die eigene Achse, dieses Purzelbaumschlagen im freien Fall, den Wind im Gesicht und in den Haaren. Dieses Gefühl von absoluter Freiheit, während der Magen sich vor Angst zusammenballt.
Sanft landete ich auf meinen Füßen, auf weichem Boden und in hohem Gras. Ich blinzelte in den Nebel hinein, der hier unten heller und zarter war, und ein Glücksgefühl durchströmte mich, als ich sanfte Wellen hörte, die glucksend ans Ufer schlugen. Ich war wieder zu Hause, an meinem geliebten See. Vor mir konnte ich schemenhaft den fransigen Saum aus Schilf erkennen, die knorrigen Silhouetten der Platanen und die schlanken Formen der Pappeln, und durch den Nebel drang das Schnattern und Pfeifen der Enten und Blesshühner zu mir.
In einigen Schritten Entfernung entdeckte ich die Umrisse einer Gestalt, die mir den Rücken zukehrte, halb verhüllt von den Nebelfeldern. Ich zögerte, gab mir dann einen Ruck und ging auf sie zu.
»Hallo?«, rief ich vorsichtig aus. »Hallo?«
Die Gestalt drehte sich um. Unter dunklen Locken blickten mir tiefgrüne Augen verwirrt entgegen und strahlten dann auf. »Amber?«
Mir rutschte ein Freudenschrei heraus. »Nathaniel!«, jubelte ich. »Nathaniel!« Ich rannte auf ihn zu und warf mich ihm entgegen; er fing mich auf und drückte mich an sich. Mit aller Kraft klammerte ich mich an ihn, presste mein Gesicht gegen seine Brust und lachte und weinte zugleich. »Nathaniel.«
Als er sich in meiner Umarmung versteifte, dämmerte eine Ahnung in mir herauf, und beklommen sah ich ihn von unten herauf an. »Du … du hast es nicht geschafft, oder? Auf die andere Seite?«
Ernst sah er mir in die Augen und streichelte meine Wange. »Das ist die andere Seite. Zumindest«, sein Blick wanderte über mich hinweg in den Nebel hinein, »zumindest der Anfang davon.« Ein zärtlicher Ausdruck schien in seinem Blick auf. »Und du gehörst nicht hierher.«
Ich starrte vor mich hin. Das Auto, das die California Street hinabraste. Mein Kopf, der so wehtat, und diese unglaubliche Kälte in mir. Und der letzte Schlag meines Herzens. Dann erst begriff ich, dass ich tot sein musste. Genau wie Nathaniel. Genau wie Mam.
Ich hob den Blick wieder zu ihm an und lächelte. »Doch. Ich gehöre hierher. Ich gehöre zu dir.«
»Nein, Amber«, widersprach eine tiefe, warme Stimme hinter mir, und ich drehte mich um. »Du gehörst wirklich nicht hierher.«
Stumm starrte ich Shane an, wie er in Jeans und einem roten Longsleeve vor mir stand, und in mir krampfte sich alles zusammen. Shane musste es gewesen sein, der mich noch in letzter Sekunde von der Straße wegreißen wollte; wenn jemand nicht hierhergehörte, dann er. Ich ertrank in einem überwältigenden Gefühl der Schuld.
»Hallo, Amber.« Ein bildschönes Mädchen mit langen silberblonden Haaren und türkisblauen Augen, zwei winzige Leberflecke auf der linken Wange wie das Tüpfelchen auf einem i, verschränkte seine Finger mit denen Shanes und schmiegte sich an ihn. Lauren, die barfuß, in zerrissenen Jeans und in einer sommerlichen weißen Tunika mit Häkelspitze aussah, als wollte sie zu einer Strandparty. Ich dachte daran, wie ich Shane geküsst hatte, und mein schlechtes Gewissen fraß mich fast auf.
Lauren lachte leise, ein helles, perlendes Lachen. »Du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben! Ich hätte es euch beiden wirklich gegönnt. Auch wenn ich jetzt einfach nur glücklich bin, Shane wiederzusehen.« Sie drückte seine Hand und sah mit einem Strahlen in den Augen zu ihm auf.
Mir war elend zumute und meine Kehle wie zugeschnürt. »Es tut mir so leid, Shane. Das … das wollte ich nicht. Ich wollte nicht, dass du … dass du mich zu retten versuchst und dabei selbst ums Leben kommst.«
Shane nickte mir zu. »Ist schon in Ordnung. Wirklich. Ich konnte ja nicht einfach nur dastehen und nichts tun. Und jetzt«, er warf Lauren einen Seitenblick zu, der so warm, so liebevoll war, dass ich nur vom Zugucken dahinschmolz, »jetzt bin ich wieder mit meinem Mädchen zusammen. Das bedeutet mir mehr als alles andere.« Ein kleines Lächeln zeichnete sich um seinen Mund ab. »Versprichst du mir was? Wenn du nachher zurückgehst … Besuch bitte meine Eltern und meine Schwestern. Sag ihnen, dass du mich hier gesehen hast. Mit Lauren. Dass ich sie alle lieb hab und dass es mir endlich wieder richtig gut geht. Mom und Dad glauben nicht an Geister, aber an das hier«, er nickte in die Nebellandschaft hinaus, »glauben sie ganz fest. Tust du das für mich?«
»Ich geh nicht zurück«, flüsterte ich, und Tränen rannen aus meinen Augen. »Ich will hierbleiben. Bei euch.« Ich wandte mich wieder Nathaniel zu und schluchzte auf. »Bei dir. Und ich will meine Mam wiedersehen. Ich geh nicht zurück.«
»Doch, das wirst du«, widersprach mir Lauren sanft. »Und immer wenn du in Zukunft einen besonders schönen Regenbogen oder einen prächtigen Sonnenuntergang siehst, stellst du dir vor, dass ich ihn gemalt hab. Für Shane.«
»Danke, Amber.« Shane ließ Lauren los und schloss mich in die Arme. »Für die Zeit mit dir und den anderen.« Flüchtig streifte sein Mund über meinen, dann nahm er Lauren wieder bei der Hand und nickte Nathaniel zu. »Wir sehen uns drüben.«
Durch den Tränenschleier vor meinen Augen sah ich zu, wie der Nebel die beiden verschluckte.
»Du musst wieder gehen«, hörte ich Nathaniel neben mir.
Ich fuhr herum. »Ich geh nicht zurück! Ich will hierbleiben!«
Die Hände in den Hosentaschen, sah er mich lange an. Ich hoffte so sehr, er würde mich einfach bei der Hand fassen und mitnehmen, wohin auch immer, doch dann schüttelte er den Kopf. »Nein, Amber. Das wäre nicht recht.«
Ich explodierte vor Wut. »Ich will es aber!« Mit den Fäusten schlug ich auf ihn ein und er zuckte nicht mal zusammen. »Ich will bei dir bleiben! Bei Shane und Lauren! Und bei meiner Mam! Ich will meine Mam sehen!« Meine Wut fiel in sich zusammen und ich weinte nur noch. »Ich will meine Mam sehen.«
Hart schlossen sich Nathaniels Hände um meine Arme und er schüttelte mich leicht. »Hey! Was glaubst du, was ich alles für eine zweite Chance geben würde? Ich würde heute so vieles anders machen als damals. Du hast dein ganzes Leben noch vor dir, du kannst noch so viel tun und erleben, während ich meines schon mit neunzehn vollkommen in den Sand gesetzt hatte.« Weich setzte er hinzu: »Mach’s besser als ich. Mach was aus deinem Leben. Werd glücklich. Tu’s für mich.«
Meine Finger krampften sich um die Ärmel seines Hemdes. »Ich will nicht ohne dich sein.«
Nathaniel umfasste mein Kinn und hob mein Gesicht zu ihm an. »Ich werde drüben auf dich warten. Das verspreche ich dir.« Er zögerte, und leise, fast ein bisschen scheu, fügte er hinzu: »Ich werde dich immer lieben.«
Ich zerfloss vor Glück und wollte noch etwas sagen, da ging ein Ruck durch mich hindurch. Als ob kräftige Hände sich in die Gürtelschlaufen und Taschen meiner Jeans hakten und an mir rissen, noch mehr Hände mich bei den Hosenbeinen packten und mich von Nathaniel wegzerrten.
»Nein! Nicht!«, brüllte ich und klammerte mich umso fester an Nathaniel, aber das Ziehen und Zerren an mir verstärkte sich nur noch. Wie gegen das Aufwachen aus einem besonders schönen Traum kämpfte ich gegen diesen Sog an, der mich erfasst hatte und auch nicht mehr losließ.
Nathaniel drückte seinen Mund auf meinen. »Geh jetzt, Amber. Wir werden uns wiedersehen … eines Tages.« Einen meiner Finger nach dem anderen bog er mit sanfter Gewalt auf, so sehr ich auch schrie und weinte und bettelte, dass ich bei ihm bleiben wollte. Dann riss mich der Sog mit sich, und ich fiel, fiel wieder durch einen weißlichen Nebel ins Bodenlose, segelte und wirbelte im freien Fall durch die Luft.
Und wie ein Fallschirmspringer, bei dem die Leinen des Schirms sich in den Zweigen eines hohen Baums verfangen, bremste mich ein kräftiger Ruck schließlich aus.
Ich hing dicht über der von Straßenlaternen beleuchteten und zusätzlich von Fahrzeugscheinwerfern erhellten Straße. Die roten und blauen Blitze der Lichtsignale von Polizei und Rettungsdienst zuckten in regelmäßigen Abständen auf und wurden von den Hausfassaden zurückgeworfen; Paramedics rannten hektisch herum, Polizisten sperrten die Unfallstelle ab und Gaffer drängten sich am Rand zusammen. Überall glitzerten Schneeflocken, auch auf dem vorne zerknautschten blau-weißen Taxi mit der zersplitterten Windschutzscheibe, dessen Motor noch lief, und auf dem parkenden Wagen, in das es hineingeknallt war.
Ein erneuter Ruck ließ mich tiefer rutschen und ich schaute auf mich selbst hinunter. Mit geschlossenen Augen lag ich zwischen Glasscherben und verbogenen Metallteilen. Mein linker Arm wies einen unnatürlich schiefen Winkel auf, wie auch das linke Bein verdreht war. Die Jeans klaffte am Oberschenkel auf; die Wunde dort war mit irgendeinem Kleidungsstück notdürftig abgebunden, doch das war längst blutgetränkt, und darunter breitete sich eine schwarz glänzende Lache auf dem Asphalt aus.
»Du. Stirbst. Mir. Hier. Heute. Nicht«, fauchte Holly immer wieder mit grimmiger Miene, während sie neben mir kniete und im Rhythmus ihrer Worte abwechselnd mit beiden Händen meinen Brustkorb bearbeitete und mir ihren Atem in den Mund blies. Ein Paramedic kam angelaufen und löste sie mit einem kurzen Nicken ab, während ein zweiter sich um mein verletztes Bein kümmerte. Ein anderer Paramedic drängte den Taxifahrer beiseite, der Shane Erste Hilfe geleistet hatte. Eine fette Platzwunde an der Stirn, ließ sich der Fahrer einfach auf sein Hinterteil plumpsen; der Schock stand ihm ins Gesicht geschrieben. Shane sah wirklich übel aus und ich schaute schnell weg; ich wollte ihn lieber so in Erinnerung behalten, wie ich ihn auf der anderen Seite gesehen hatte, unverletzt und stark und glücklich.
Keuchend kauerte Holly auf dem Asphalt; ihr Kopf ruckte hoch, als auf der anderen Straßenseite Stimmen einen aufgeregten Wortwechsel anfingen. Sie rappelte sich auf, stolperte beinahe über meinen Rucksack, der mit geöffneter Seitentasche zwischen den parkenden Autos am Straßenrand lag, und lief auf eines der Polizeifahrzeuge zu. Ich spürte einen heftigen Ruck, der mich noch weiter hinabzog, als ich Ted sah, in Jeans, Sweater und Joggingschuhen, das Gesicht erhitzt und schweißnass; er musste von der Sacramento Street bis hierher gerannt sein. Atemlos stritt er sich mit den beiden Polizisten, die energisch auf ihn einredeten und ihn festhielten, damit er nicht zu mir lief; ich hatte ihn noch nie so wütend gesehen.
Mein Blick fiel auf Matt. Kreidebleich im Gesicht und mein Handy in den Fingern, hielt er eine völlig verheulte und haltlos schluchzende Abby im Arm, die sich ihrerseits an ihm festkrallte; unaufhörlich streichelte er ihr mit der anderen Hand über die langen, dunklen Haare und starrte dabei über seine Schulter hinweg zu Shane und mir. Holly redete unterdessen beruhigend auf Ted ein, strich ihm dabei über die Schulter und legte schließlich einfach die Arme um ihn.
»Komm schon, Mädchen, komm schon«, hörte ich den Paramedic über mir schnaufen.
Ich sah die Tränen, die Ted übers Gesicht liefen, sah, wie verzweifelt er sich an Holly festklammerte, und ich gab auf. Ich wehrte mich nicht mehr gegen den Sog, der mich nach unten zog, und geschmeidig glitt ich zurück in meinen Körper. Wie ein stotternder Motor zitterte und zuckte mein Herz ein paarmal, bevor es wieder ansprang und zu pumpen begann.
»Ich hab sie!«, brüllte der Paramedic über mir. »Knochenbrüche, Herzstillstand nach Volumenschock, vermutlich Schädel-Hirn-Trauma. General Hospital, Trauma 1!«
Jetzt erst fühlte ich die Prellungen, die angeknacksten, gebrochenen und gesplitterten Knochen in meinem Körper und wie die verletzte Arterie in meinem aufgeschlitzten Bein unaufhörlich Blut sprudelte. Ich wollte schreien vor Schmerz, wildem, brennendem, unerträglichem Schmerz.
Dann knipste jemand alle Lichter in mir aus und die Welt wurde schwarz.