7

Mit beiden Händen umklammerte ich das Tablett mit meinem Mittagessen. Soweit war alles gut gegangen: Ich hatte mich in den richtigen Schlangen angestellt, hatte bisher keinen Teller fallen gelassen, meinen übervollen Trinkbecher weder über mich noch jemand anderen gekippt, und auch das Bezahlen mit der Karte hatte geklappt. Aber nun stand ich völlig verloren in dem hohen, weiten Raum der Cafeteria herum, der trotz des großflächigen Wandgemäldes im Graffiti-Stil und der vielen Grünpflanzen den Charme einer Bahnhofshalle hatte und auch einen ähnlichen Lärmpegel. Ich hatte keine Ahnung, wo ich jetzt mit meinem Tablett hinsollte; die lang gestreckten Tische waren alle voll, und mich irgendwo auf einen der wenigen freien roten Plastikstühle zwischen irgendwelche Schüler zu quetschen, die ich noch nie gesehen hatte, traute ich mich nicht.

»Amber!« Ich zuckte zusammen, als ich meinen Namen hörte, und sah mich suchend um. Ein Mädchen mit langen blonden Haaren, weißer Bluse und cognacfarbenem Cordrock kam winkend auf mich zu.

»Hi, ich bin Sharon.« Ein Lächeln stand auf ihrem sommersprossigen Gesicht mit den braunen Augen. »Wir haben Geschichte zusammen.« Jetzt erkannte ich sie wieder – sie war diejenige gewesen, die ihrer Nachbarin etwas zugeflüstert hatte, als Michelle Lim mich der Klasse vorstellte. Aus der Nähe war zu erkennen, dass sie zwar dezent, aber aufwendig geschminkt war, mit viel Wimperntusche, zartem Lidstrich, gekonnt aufgetragenem Rouge und schimmerndem Lipgloss. »Die Mädels und ich sitzen da drüben, und ich wollte dich fragen, ob du nicht zu uns kommen magst.« Ich schaute in die Richtung, in die sie deutete. Ihre Freundin aus der Geschichtsstunde hatte sich auf ihrem Platz am Tisch halb umgedreht, winkte mir zu und tätschelte dann einladend die Lehne des Stuhls neben sich. Ihr gegenüber saß ein Mädchen mit milchkaffeebrauner Haut und kupferfarbenen Strähnchen in den dunklen, glatten Haaren, das gerade an ihrem Strohhalm nuckelte und mich neugierig, aber nicht unfreundlich beäugte.

»Ja, okay«, erwiderte ich zögerlich. Große Lust hatte ich zwar nicht, aber das schien mir allemal besser zu sein, als mich einfach irgendwo dazuzusetzen oder gar weiter hier dumm herumzustehen. »Gerne«, schob ich schnell nach und zuckelte Sharon hinterher.

»Amber – das ist Danielle.« Das asiatische Mädchen wedelte zur Begrüßung mit der flachen Hand. »Und das ist Felicia.«

»Mh-Hi«, nuschelte Felicia mit den Kupfersträhnen und saugte dann kräftig weiter an ihrem Strohhalm.

»Hallo«, sagte ich, setzte mein Tablett ab, ließ den Rucksack von meiner Schulter gleiten und hockte mich dann neben Danielle. Auch sie und Felicia, beide in Jeans und dünnen Pullovern in Eiscremefarben, die verdächtig nach Kaschmir aussahen, trugen viel gekonntes, aber unaufdringliches Make-up im Gesicht; entweder hatten sie einen wesentlich kürzeren Schulweg als ich oder standen morgens eine Stunde früher auf.

»Seit wann bist du hier in SanFran?«, wollte Sharon wissen, setzte sich auf ihrem Platz zurecht und faltete mit ihrer Gabel ein Salatblatt zu einem mundgerechten Päckchen zusammen.

»Seit fünf Tagen.« Ich spießte ebenfalls ein Salatblatt und ein Stück Tomate auf; erst jetzt merkte ich, wie hungrig ich war.

»Oh, heftig!«, schnaufte Danielle neben mir und zupfte eine Traube aus dem Schälchen auf ihrem Tablett. »Da musst du ja den kompletten Overload haben!«

»Und du bist echt aus Deutschland?« Felicia hatte ganz kurz den Strohhalm losgelassen. Ich nickte mit vollem Mund, den nächsten Schwung Salat schon auf meiner Gabel, und sie grinste um den Strohhalm herum. »Cooooll!!«

Als ich sie fragend ansah, hob sie endlich den Kopf von ihrem Trinkbecher und spielte an ihrem Strohhalm herum. »Heyyy, Germany! Mercedes Benz, Porsche, Hugo Boss, Heidi Klum!« (Was klang wie: Mörcidiies Bäns, Porscha, Jugo Boass, Häydi Klomm.)

Einen Eindruck davon, wie man sich in Amerika etwas typisch Deutsches vorstellte, hatte ich beim Einkaufen im Supermarkt bekommen: Dort hatte ich blaue Kisten mit einem Bier entdeckt, das St. Pauli Girl hieß und auf denen eine dralle Blondine mit Barbie-Gesicht, Dirndl und Maßkrügen in beiden Händen abgebildet war. Ich schaufelte mir einen Berg der überbackenen Nudeln in den Mund, um darauf nichts sagen zu müssen. Und stellte fest, dass ich vielleicht doch lieber das Orangenhuhn hätte nehmen sollen, denn die Nudeln schwammen im Fett. Kalorien waren mir eigentlich immer egal gewesen, aber fünfmal die Woche solches Essen, und mein Hintern würde nach spätestens drei Monaten explodieren wie Popcornmais in der heißen Pfanne und auch genauso aussehen.

»Tut mir echt leid, das mit deiner Mom«, sagte Sharon und stocherte mit betrübter Miene in ihrem Salat herum. Das Nudel-Käse-Gemisch wurde in meinem Mund zu einer zähen Masse.

»Ja, mir auch. Wie ist das denn eigentlich passiert?« Felicias dunkle Kulleraugen mit den langen, dichten Wimpern wurden noch größer. Der Auflauf klebte in meiner Kehle fest, und ich griff schnell zu meinem Trinkbecher, um ihn mit viel Cola light hinunterzuspülen. Doch bevor Felicia nachhaken oder ich etwas antworten konnte, ging ein Ruck durch sie hindurch; mit starrem Blick fixierte sie etwas hinter meinem Kopf und packte Sharon am Arm. »Er kommt!«, quiekte sie und klang dabei wie ein Hamster, auf den man aus Versehen drauftritt. Auch Sharon machte einen langen Hals, einen sehnsüchtigen Glanz in den Augen, und Danielle neben mir fuhr herum.

Verwundert drehte ich mich ebenfalls um. Ich musste den Eingangsbereich der Cafeteria nicht lange absuchen, um herauszufinden, wer dieser Er war, der die drei Mädchen bei mir am Tisch in solche Verzückung versetzte – ich brauchte nur den Blicken vieler Schülerinnen und auch einiger Schüler zu folgen, die mit großen Augen von ihren Tabletts hochguckten oder sich die Köpfe bis zum Anschlag verdrehten. Blicke, die sich allesamt auf einen groß gewachsenen schwarzen Jungen richteten, der in langen, geschmeidigen Schritten auf den Stapel mit den Tabletts zuging. Eine dunkelhaarige Latina in einem knallengen Jeansrock und grüner Bluse schlenderte an ihm vorbei und warf ihm mit strahlendem Lächeln und klimpernden Augendeckeln einen kurzen Gruß zu, den er freundlich erwiderte, bevor sie unter einer glückseligen Grimasse eilig an einen Tisch stob und kichernd mit ihren Freundinnen die Köpfe zusammensteckte.

»Wie seh ich aus?! Wie seh ich aus?«, flüsterte Felicia panisch und kramte trotz Sharons Beteuerung, sie sehe fabelhaft aus, ihren Schminkspiegel aus dem Rucksack.

»Das ist Shane«, wisperte Danielle neben mir. Ihr Atem roch nach dem künstlichen Erdbeeraroma ihres Lipgloss, den sie schnell noch frisch aufgetragen hatte. »Shane Diggs. Einer der Juniors.«

Juniors. Seniors. Sophomores. Freshmen. Ich kannte die Bezeichnungen für die Klassenstufen neun bis zwölf an amerikanischen High Schools, konnte mir aber die Reihenfolge nie merken.

»Der Junior unter den Juniors«, korrigierte Felicia sie atemlos. »Wide Receiver bei den Eagles.«

»Aha«, machte ich höflich, weil ich nur Bahnhof verstand.

»Das ist das Zweitbeste nach Quarterback«, erklärte mir Sharon netterweise, was mir aber nicht wirklich weiterhalf; vielleicht sollte ich doch mal mit Ted Football gucken.

Mit der Gabel kratzte ich in meinen Nudeln und dem bunten Gemüse daneben herum, das ich noch nicht einmal angerührt hatte. Eine Ewigkeit schien es her zu sein, seitdem Julia, Sandra und ich uns auf dem Schulhof oder im Flur vor den Chemielabors ganz ähnlich aufgeführt hatten, dabei lag es noch nicht einmal ein Jahr zurück. Julia hatte für Felix aus der Elften geschwärmt, Sandra hatte lange zwischen Nico und Sebastian aus der Zwölften geschwankt, den alle Mädchen toll fanden, bevor sie endlich Hannes erhört hatte. Und ich hatte damals immer wieder zu Lukas hinübergelinst, der mit seinen Kumpels zusammenstand, um irgendwie herauszufinden, ob er mich genauso mochte wie ich ihn. Verstohlen musterte ich Sharon, Felicia und Danielle und fragte mich, ob ich jemals wieder in diese schillernde, schwerelose Seifenblase zurückkehren würde, in der sie lebten – oder ob der Weg dorthin zurück für mich nach Mams Krankheit einfach versperrt war.

»Ist er nicht einfach um-wer-fend?« Danielles Ellenbogen traf mich auffordernd in der Seite und gehorsam drehte ich mich wieder um.

Shane Diggs stand in der Schlange vor der Essensausgabe aus Chrom und Glas und begrüßte gerade einen bulligen schwarzen Jungen mit Bürstenhaarschnitt, indem sie ihre Fäuste erst locker aufeinanderprallen ließen, dann mit den Fingerknöcheln zusammenditschten. Das Lächeln, das Shane dabei zeigte, ließ zwei Reihen perfekt regelmäßiger und weißer Zähne sehen, noch weißer in seinem Gesicht, das die Farbe von Zartbitterschokolade hatte. Ein kräftiges Gesicht war es, mit einer ausgeprägten Brauenpartie und einer starken Nase, und seine Haare trug er so kurz geschoren, dass sie wie ein dunkler Schatten seinen Schädel überzogen. Ausgebeulte Jeans hingen locker von seinen schmalen Hüften herab und unter dem auberginefarbenen Longsleeve zeichneten sich breite Schultern und deutlich definierte Muskelpakete ab. Widerstrebend musste ich vor mir selbst zugeben, dass Shane Diggs tatsächlich verdammt gut aussah, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass das der einzige Grund war, warum er die Aufmerksamkeit der Schüler so auf sich zog. Etwas Besonderes umgab ihn, eine ganz bestimmte Art von Ausstrahlung. Physische Präsenz, hätte Gabi gesagt.

»Freitag auf der Welcome-Back-Party hab ich bestimmt eine Chance«, raunte Felicia, das Kinn dekorativ in die Hand gestützt und einen verklärten, aber entschlossenen Ausdruck im Gesicht. »Dann hat er Lauren schneller vergessen, als er gucken kann!«

»Ist Lauren seine Freundin?«, fragte ich, um wenigstens irgendwas zu diesem Gespräch beizutragen, und pflückte zwei Trauben aus meinem Dessertschälchen.

Urplötzlich herrschte Stille und eine greifbare Spannung lag in der Luft; die drei wechselten vielsagende bis betroffene Blicke, wichen aber meinen aus, und mir wurde es flau in der Magengegend. »Hab … hab ich was Falsches gesagt?«

Sharon schichtete mit der Gabel ihren mittlerweile vom Dressing durchweichten Salatrest auf dem Teller um. »Lauren war seine Freundin. Sie lebt nicht mehr.«

Mein Magen kehrte sich um, und ich legte mit zitternden Fingern die Trauben, die ich mir gerade noch in den Mund stecken wollte, zurück.

»Ein Unfall«, erzählte Danielle neben mir ungefragt. »Vor gut eineinhalb Jahren, als die beiden mit Freunden übers Wochenende nach Muir Woods zum Wandern gefahren sind. Shane und den anderen ist nichts passiert, aber Lauren …« Sie ließ das Ende des Satzes unheilschwanger in der Luft hängen.

Mir war schlecht. Kotzübel. Auf einmal war mir alles zu viel. Die neue Stadt. Die neue Schule. Die vielen Menschen um mich herum. Ich tat so, als würde ich hastig auf meine Armbanduhr schauen. Mams Uhr mit dem eckigen Zifferblatt, den römischen Zahlen und dem dunkelbraunen Lederband.

»Sorry, ich muss los«, murmelte ich, sprang auf, schulterte meinen Rucksack und griff mir das Tablett. »Bis dann!«

»Kommst du am Freitag auch zur Party?«, rief mir Sharon schnell noch zu.

»Mal sehen«, erwiderte ich mechanisch. »Bye.«

Die Kante des Tabletts vor meinen rebellierenden Magen gepresst, lief ich durch die Cafeteria, in Richtung … Ja, wohin? Irgendwo konnte ich mein Tablett bestimmt abgeben – aber wo? Kreuz und quer wanderten andere Schüler an mir vorbei, entweder mit einem frisch beladenen Tablett oder mit schon leeren Händen, aber ich konnte einfach nicht entdecken, wo ich jetzt hinmusste. Ich blieb stehen und sah mich mit wachsender Verzweiflung um. Die Gesichter, die T-Shirts, Pullis und Blusen, die an mir vorüberzogen, verschwammen vor meinen Augen, und in meinem Kopf begann es sich zu drehen.

»Kann ich dir helfen?«, fragte eine angenehm warme, tiefe Stimme halb neben, halb über mir, und ich sah auf. Direkt in ein paar schwarzbraune Augen, das Weiß klar und scharf abgegrenzt von der Iris und der dunklen Haut des Gesichts: Shane Diggs, der mich um fast einen ganzen Kopf überragte. Und der ebenso wie ich erlebt hatte, wie es ist, wenn jemand, den man liebt, eines Tages einfach nicht mehr da ist.

»Ich … äh … also …«, stotterte ich herum. »Wo …?« Hilflos hob ich mein Tablett an.

Er lächelte, nahm sein mit Huhn, Salat, Obst und Trinkbecher bepacktes Tablett in die eine Hand und entzog mir mit der anderen meines. »Komm, ich zeig’s dir.«

Mit heißen Wangen folgte ich ihm, die Reihe aus mannshohen Birkenfeigen in glasierten Tontöpfen entlang, hinter denen sich dann zu meiner Schande das Laufband für die benutzten Tabletts verbarg. Und hätte ich den Blick vorher mal ein Stück nach oben wandern lassen, hätte ich da auch das Schild gesehen, das gut sichtbar darauf hinwies. Megapeinlich.

»Schon allein daran«, er hob mein Tablett kurz an, bevor er es auf das Band stellte, »hab ich gesehen, dass du neu sein musst. Hier Mac’n’Cheese zu nehmen ist ein Fehler, den man nur einmal macht.«

Unwillkürlich zuckte es um meinen Mund, obwohl meine Wangen immer noch brannten. »Danke.«

Freundlich nickte er mir zu. »Gern geschehen.«

Ich sah ihm nach, wie er mit seinem Tablett zu einem der Tische in der Nähe ging, sich zu einer Gruppe anderer Jungs setzte und unter lockerem Geplauder zu essen anfing. Eine Leere machte sich in mir breit, die fast etwas von Enttäuschung hatte. Als ob er irgendwie hätte bemerken müssen, dass wir etwas gemeinsam hatten. Ein Gedanke, über den ich innerlich selbst den Kopf schüttelte, und doch ließ er mir keine Ruhe, während ich mich durch die anderen Schüler schlängelte.

Am Ausgang hätte ich beinahe einen Jungen mit stoppelkurzen mattbraunen Haaren angerempelt, der so plötzlich vor mir auftauchte, als hätte er sich eben erst aus dem Nichts materialisiert. Dabei musste er schon länger hier gestanden haben; die Hände tief in die Taschen seiner verwaschenen Jeans geschoben, beobachtete er das Getümmel vor sich, einen sehnsüchtigen, fast melancholischen Zug auf seinem blassen Gesicht, das schmal und spitz war wie das einer Maus.

»Sorry«, sagte ich mit einem verlegenen Auflachen. »Ich hab dich überhaupt nicht gesehen!«

Er richtete den Blick auf mich und zog die fein gezeichneten Brauen zusammen. Seine Augen waren veilchenblau, beinahe Ton in Ton mit den tiefen Schatten, die darunter lagen. Der Ausdruck darin veränderte sich, bekam etwas Fassungsloses. Als hätte er mich auch eben erst wahrgenommen.

»Sorry«, wiederholte ich. Meine eigene Stimme klang mir heiser in den Ohren und ich ging schnell weiter. Kräftig rubbelte ich abwechselnd links und rechts über meine Blusenärmel; ich hatte Gänsehaut.