25
Mit angezogenen Knien lag ich auf dem Rücken und starrte an die Decke hoch. Von den Girlanden, den Blätterranken und Rosenblüten waren inzwischen mehr und feinere Details zu erkennen. Denn dass die Sonne höher stand, kräftiger schien und die Tage länger machte, ließ auch dieses Haus nicht unberührt. Seine Räume wirkten größer, so lichtdurchflutet wie sie jetzt waren. Gleichzeitig traten die Spuren von Alter und Abnutzung deutlicher hervor, die Schrammen und Scharten im Holz, die Flecken von Feuchtigkeit, die Dreckschlieren, die Spinnweben und Wollmäuse. Die Verzierungen aus Stuck über mir waren teilweise beschädigt und feine Sprünge liefen hindurch. Vielleicht stammten sie von einem Erdbeben, wie mich gestern Abend eines aufgeschreckt hatte, als ich an meinem Schreibtisch über den Hausaufgaben saß und mein Zimmer zu vibrieren begann. Ich hatte völlig verdrängt, dass es in San Francisco dauernd bebte, aber meistens so gering, dass man es nicht einmal merkte. Die Aussicht allerdings, dass früher oder später The Big One zu erwarten war, ein mindestens ebenso starkes und verheerendes Beben wie 1906, fand ich beunruhigend. Andererseits war die Wahrscheinlichkeit wohl deutlich höher, vorher unter einen Cable Car zu geraten oder von einem Autofahrer umgenietet zu werden, der mit einem Affenzahn um die Ecke schoss, während man die Straße überquerte.
Hier allerdings, in diesem Haus, hatte ich das Gefühl, mir konnte nichts geschehen. So alt wie es aussah, schien es noch aus den Jahren vor dem Großen Beben zu stammen, und es wirkte so massiv und robust, als würde es jeder Naturgewalt trotzen. Als ob die Zeit daran zwar nagen, es aber nie in die Knie zwingen könnte.
Etwas Ewiges, Unvergängliches hing in diesen Räumen.
»Weißt du, was das Schlimmste für mich war?«, flüsterte ich nach einer Weile, und ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr ich fort: »Dass ich mir nichts sehnlicher wünschte, als die Zeit anhalten zu können. Damit uns nicht jeder Tag dem einen näher brachte, an dem sie nicht mehr da sein würde. Und gleichzeitig …« Ich atmete tief durch. »Und gleichzeitig hab ich mir genauso sehr gewünscht, dass es bald vorbei sein würde. Weil alles so schrecklich war.« Ich blinzelte heftig und biss mir auf die Lippen.
»Wie in einem Albtraum, der einfach nicht aufhört.« Wenn er leise sprach, so wie jetzt, klang seine Stimme noch tiefer, noch aufgerauter, aber auch viel sanfter. »Man kommt nicht vorwärts, aber auch nicht zurück. Man ist einfach darin gefangen.«
Überrascht wandte ich den Kopf. Seine kräftige Kinnlinie auf die Faust gestützt, hatte sich Nathaniel neben mir ausgestreckt. So nahe war er mir, dass ich die feinen braunen Sprenkel in seinen tiefgrünen Augen erkennen konnte und eine kleine halbmondförmige Narbe zwischen Schläfe und Jochbein. Ich hätte nur die Hand auszustrecken brauchen, um mit den Fingerspitzen über seine helle Haut zu fahren, die sich dort, wo der Kragen seines Hemdes aufstand, über die starken Knochen und Muskeln spannte, oder um in seine dunklen Locken zu fassen; nur schon der Gedanke daran machte mir wohlige Gänsehaut. Und es war tatsächlich er, der nach Moos roch, nach durchnässtem und wieder getrocknetem Holz und ein bisschen rauchig.
Eine angenehme Wärme breitete sich in meinem Bauch aus. »Du kennst das Gefühl?«
Er nickte mit einem schwermütigen Lächeln.
Lange sah ich ihn einfach nur an. So wie er mich.
Ob es ihm auffiel, dass ich mir heute die Wimpern getuscht hatte, mit der braunen Mascara, die ich mir gestern in aller Eile bei Sephora gekauft hatte? Und eine neue Bluse hatte ich an, tailliert mit blau-weißem Karomuster, auch gestern schnell noch bei H&M vom Kleiderständer gegriffen und damit zur Kasse gewetzt. Und zum ersten Mal seit langer Zeit hatte ich wieder Lust gehabt, Schmuck zu tragen. Einen Moment lang hatte ich darüber nachgegrübelt, ob es nicht gemein von mir war, ihm so klar zu zeigen, dass ich keine Geldsorgen hatte, im Gegensatz zu ihm. Dann hatte ich mir trotzdem die feine Goldkette mit dem Anhänger in Form einer Sonne umgelegt, die ich von Gabi zu meiner Konfirmation bekommen hatte. Ich wollte so sehr, dass er mich hübsch fand.
Wenn ich bei ihm war, fühlte ich mich einfach rundum wohl. Ich konnte mich nicht erinnern, mich schon einmal einem Jungen so nahe gefühlt zu haben. Innerlich nahe, als ob etwas in uns beiden im selben Rhythmus, auf derselben Wellenlänge schwang. Selbst Lukas war mir nie so nahe gekommen, auch wenn wir eng umschlungen auf seinem Bett gelegen und stundenlang geknutscht hatten. Dabei kannte ich Nathaniel eigentlich noch nicht einmal besonders gut. Ich wusste nicht, woher er kam, was er gesehen und erlebt hatte, noch nicht einmal, wie alt er war.
Und immer blieb zwischen uns dieser kleine räumliche Abstand.
Nie versuchte Nathaniel, meine Hand zu nehmen, mich irgendwo wie zufällig zu berühren oder auch nur kumpelhaft zu knuffen. Geschweige denn mehr. Anfangs war ich froh darum gewesen, aber mittlerweile fand ich es schade, dass er so auf Distanz blieb. Denn dann hätte ich sicher gewusst, ob er mich wirklich genauso mochte wie ich ihn.
Ich rollte mich auf die Seite und kam ihm damit noch ein Stückchen näher. Wie er stützte ich mich auf, die Wange in die Hand geschmiegt. Meine andere Hand, die auf der Decke lag, war jetzt nur noch ein paar Fingerbreit von seiner entfernt.
»Ich möchte so gern mehr von dir wissen«, wisperte ich.