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Tick. Tick. Tick. Tick. Tick.

Das Geräusch des Sekundenzeigers zerrte an meinen Nerven. Immer wieder starrte ich zu der goldenen Uhr hin, während ich auf dem blauen Sessel bei Dr. Katz herumrutschte, die Beine umeinanderknotete, wieder löste und ausstreckte, an meinen Fingern herumknibbelte, die Arme vor der Brust verschränkte, dann unter meine Oberschenkel schob und sie gleich wieder darunter hervorholte, um mich irgendwo am Bein zu kratzen, wo es mich eigentlich gar nicht juckte. Ich konnte einfach nicht still sitzen.

Nach zwei Nachmittagen mit Nathaniel fühlte ich mich wie eine Colaflasche, die man kräftig geschüttelt hatte, sprudelnd und überschäumend vor Aufregung und Glücklichsein. Wir redeten nicht viel; irgendwie brauchten wir nicht mehr, als nebeneinander auf der türkisblauen Decke zu liegen, uns anzuschauen und uns vorsichtig zu berühren – soweit das für uns möglich war. Ich konnte nicht genug davon bekommen, wie unsere Fingerspitzen Funken sprühten, wenn sie sich antippten, nicht genug davon, meine Finger über seine nebligen Konturen wandern zu lassen und mich in dieses sanfte, luftige Strömen zu schmiegen, das er war. Es war schön, wenn seine Hände über mein Gesicht und durch meine Haare strichen wie eine Meeresbrise, und sogar durch meine Kleider hindurch konnte ich noch den Lufthauch spüren, wenn er den Arm um mich legte. Und als ich mich unwillig von ihm löste, weil ich zum Abendessen in die Sacramento Street musste, hatte er mich verlegen gefragt, ob er mich heute Nacht noch sehen könnte. Bei mir, in meinem Zimmer.

Ich platzte beinahe vor Freude und Aufregung, und seit vierzig Minuten wartete ich darauf, dass Dr. Katz irgendwas tat oder sagte, um den Deckel der Colaflasche behutsam aufzudrehen und den gröbsten Druck entweichen zu lassen. Aber dafür hätte ich natürlich erst einmal etwas sagen müssen. Stattdessen schwieg ich vor mich hin.

Nur noch neun Minuten. Mit einem tiefen Durchatmen setzte ich mich aufrecht hin, bevor ich dann gleich wieder im Sessel hinabrutschte. Ich kratzte meinen ganzen Mut zusammen, räusperte mich und fragte dann vorsichtig: »Glauben … glauben Sie an Geister?«

Dr. Katz schaute mich aufmerksam an. »Glaubst du denn an Geister?«

Mit hochgezogenen Brauen starrte ich sie an. »Ich wollte von Ihnen wissen, wie Sie darüber denken!«

»Nein, Amber. Du wolltest von mir wissen, ob es in Ordnung ist, wenn du an Geister glaubst.« Dr. Katz machte eine kleine Pause. »Früher hättest du zuallererst deiner Mutter diese Frage gestellt, nicht wahr?«

Durch meine Beine lief ein Zittern, dann ein Rucken, als wollte ich irgendwo dagegentreten.

Leiser fügte Dr. Katz hinzu: »Sie kommt nicht wieder, Amber. Du musst dir künftig solche Fragen selbst beantworten. Du musst jetzt lernen, ohne deine Mutter zu leben.«

Ihre Worte waren wie eine Ohrfeige für mich. Meine Brust war plötzlich eng, ich schnappte keuchend nach Luft, und als ich wieder ein bisschen davon in die Lungen gesaugt bekam, schrie ich nur noch, die Hände zu Fäusten geballt: »Neulich haben Sie mich gefragt, ob ich auf Ted wütend bin und auf Mam! Soll ich Ihnen mal was sagen?! Ich bin wütend auf Sie! Weil sie immer solche Scheißfragen stellen, jede Frage von mir nur mit einer Gegenfrage beantworten und immer solche blöden Sprüche klopfen! Ich bin tatsächlich stinkewütend, und zwar auf Sie, und nur auf Sie!«

Schnaufend starrte ich sie an und sah verblüfft, wie sich ihre Miene erhellte und ein offenes Lächeln darauf aufschien, das in ein freundliches Lachen überging; sie konnte richtig nett aussehen. »Das ist doch mal ein guter Anfang! Damit können wir jetzt prima arbeiten. Unsere Zeit ist nur leider für heute um, Amber. Wir sehen uns dann am Montag wieder.«

In meinem besten Sommerpyjama, dem aus weißem Baumwollbatist mit Spitzensaum an den Knien und den kurzen Ärmeln, meine Haare nach dem Duschen frisch gewaschen und geföhnt, hockte ich im Lampenschein an meinem Schreibtisch und versuchte, noch ein bisschen was für die Schule zu machen. Aber ich konnte mich auf nichts konzentrieren. Immer wieder schielte ich zum Fenster hin, das ich für Nathaniel offen gelassen hatte, damit er nicht durch die Wand oder die Glasscheibe hereinkam, was ich immer noch ziemlich spooky fand.

Von draußen drang das Rattern der Stahlseile des Cable Cars zu mir herauf und das weit entfernte Heulen der Sirene eines Einsatzfahrzeugs. Irgendwo unterhalb meines Fensters überschlug sich die Stimme eines Sportkommentators, und nebenan konnte ich Ted, dem ich bereits Gute Nacht gesagt hatte, auf seiner Tastatur tippen hören; ab und zu summte und piepste sein Drucker.

Mein Telefon dudelte los und ich fuhr mit einem erschrockenen Laut zusammen. Hastig griff ich zum Mobilteil und drückte die Annahmetaste, noch bevor ich darauf geachtet hatte, was nach der 0049 für Deutschland kam.

»Ja, hallo?«, fragte ich beinahe furchtsam in den Hörer.

Eine kratzige Männerstimme räusperte sich und sagte dann: »Hallo, Amber. Ich bin’s. Dein Opa.«

»Opa! Hallo!« Schuldbewusst dachte ich daran, dass ich mich seit unserem letzten Telefonat gar nicht mehr bei meinen Großeltern gemeldet hatte.

»Hab ich dich geweckt?« Im Hintergrund konnte ich die Vögel im Garten zwitschern hören.

»Nö, gar nicht. Ich war eh noch auf, Hausaufgaben machen.« Ich schielte zum Radiowecker. 10:53 PM, fast elf, verrieten mir die rot glühenden Ziffern; in Deutschland war es jetzt kurz vor acht Uhr morgens, Sommerzeit.

»Ich dachte, ich ruf mal an und frag nach, wie’s meiner Enkeltochter in Amerika geht.« Irgendwie klang er angespannt.

Ich tapste zum Bett hinüber und knipste die Nachttischlampe an. »Ach ja, ganz gut. Und euch? Wie geht’s Oma?« Den Hörer am Ohr, krabbelte ich über die Matratze und kuschelte mich mit angezogenen Beinen gegen mein Kopfkissen.

»Gutgut, alles bestens. Soll dich lieb grüßen von ihr, sie ist gerade zum Einkaufen.« Er räusperte sich wieder. »Geht’s dir wirklich gut?«

Ich dachte kurz nach. Ging’s mir gut? Ich zuckte mit den Schultern. »Ja, schon irgendwie. Mehr oder weniger.«

»Sorgt er denn gut für dich?« Ich verdrehte die Augen. Er schaffte es nie, Ted wenigstens bei irgendeinem Namen zu nennen; Karens Ami war schon das höchste der Gefühle.

»Ja, das macht er.« Mit einem Mal hatte ich ein warmes Gefühl im Bauch, das mir neu war. »Er kümmert sich um alles und kocht sogar jeden Abend für mich.«

»Hör mal, Amber – du kannst mir ruhig die Wahrheit sagen, das bleibt unter uns.«

»Das tu ich doch«, erwiderte ich erstaunt.

»Ist er denn allein?«, kam die nächste Frage.

»Wie – allein?« Unwillkürlich schaute ich die Trennwand zu Teds Arbeitszimmer an. »Wie meinst du das?«

»Na ja, so ein junger Mann wie er – er hat doch sicher Frauenbekanntschaften? Geht er denn viel aus, abends?« Ich blinzelte. »Auf Partys oder in Kneipen oder so? Weißt du, Amber, das ist sicher nicht leicht für ihn, mit dir zurechtzukommen, er ist das ja gar nicht gewöhnt, nachdem er die ganze Zeit …«

Ich hörte ihm gar nicht mehr zu, als mir langsam dämmerte, warum Opa anrief und worauf dieses Gespräch hinauslaufen sollte. Offenbar brauchte er Munition gegen Ted, wenn er mit der Anfechtung der Sorgerechtserklärung weiterkommen wollte. Sofern sie nicht schon ganz vom Tisch war, mir sagte ja keiner was. Die Wärme in meinem Bauch ging nahtlos in etwas Glühendes über, das sich weiter aufheizte.

»Du, Opa, ich glaube …«, fiel ich ihm ins Wort, und als er einfach weiterredete, wurde ich laut. »Opa, hey! Lass mich doch auch mal was sagen! Was du da gerade versuchst, ist genau das, was Mam nie wollte! Klar find ich’s blöd, dass ich hierher umziehen musste und nicht in Deutschland bleiben konnte. Und klar läuft hier nicht alles reibungslos – aber Ted gibt sich echt alle Mühe und es ist total unfair, wenn du jetzt von mir verlangst, dass ich was anderes behaupte!«

Am anderen Ende der Leitung seufzte es. »Es ehrt dich ja, dass du ihn in Schutz nimmst, Amber – aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass so ein verantwortungsloser Rumtreiber wie er …«

In mir schoss eine Stichflamme hoch. »Weißt du was?!«, brüllte ich in den Hörer. »Klär das doch mit Ted selber! Oder mit eurem Anwalt oder – oder mit sonst wem! Aber lass mich in Ruhe mit dem Scheiß!«

Meine Finger zitterten, als ich einfach auflegte, und krampften sich dann um das Mobilteil; mein Atem ging stoßweise und keuchend, während es in mir tobte und brannte, und mit einem Aufschrei schleuderte ich den Hörer von mir. Krachend schlug er gegen die Wand, und Plastik splitterte ab, bevor er scheppernd auf den Boden knallte.

Keine fünf Sekunden später ging die Tür auf und Ted schaute herein. »Alles okay bei dir?« Er sah mich an, dann das lädierte Mobilteil auf dem Boden vor dem Schreibtisch und die Macke in der Wand, dann wieder mich. Seufzend kam er herein und setzte sich zu mir aufs Bett. »Hat dein Großvater angerufen?«

Ich nickte. Er legte mir nur ganz leicht die Hand auf den Kopf, aber mehr brauchte es in diesem Augenblick nicht, damit ich explodierte wie ein angezündetes Benzinfass.

»Fass mich nicht an«, schrie ich; mit aller Kraft schlug und drosch ich auf ihn ein und genoss das Gefühl, wenn ich ihn hart an den Schultern, auf der Brust traf. »Lasst mich doch alle in Ruhe! Das ist alles nur deine Schuld!«

»Heyhey, Amber!«, hörte ich ihn rufen, während er meine Schläge mit beiden Armen abwehrte. »Hey!« Er erwischte meine Handgelenke und packte sie so fest, dass es mir wehtat. »Hey! Ist okay! Ist okay!« Wie auf ein durchgehendes Pferd redete er auf mich ein, energisch und beruhigend zugleich, und genau wie ein solches bockte und zappelte ich, bis ich in seinem Griff erschlaffte. Schwer atmend spähte ich durch die Haarsträhnen hindurch, die mir vors Gesicht gefallen waren. Erschrocken sah er aus und blass; auf seinen Wangen zeichneten sich rote Flecken ab und sein Mund war ein dünner Strich. »Ist okay«, wiederholte er und rieb im Takt seiner Worte mit den Daumen über meine Handgelenke. »Ist okay. Ist schon okay.«

Dann erst sickerte zu mir durch, was ich gerade getan hatte. »Es tut mir leid – es tut mir so leid!«, schluchzte ich trocken auf. »So leid!« Mein Magen zog sich so heftig zusammen, dass ich kurz davor war, mich zu übergeben.

Er ließ eins meiner Handgelenke los und strich mir mit unsicheren Fingern die Haare aus dem Gesicht. »Ist schon okay. Nichts passiert. Alles gut.« Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen, aber es machte mir auch nichts aus, dass seine Hand weiter über meine Haare fuhr. Im Gegenteil. »Irgendwann musste das ja mal hochkommen«, sagte er sanft. »Und mir ist es lieber, du tobst und schreist und wirfst Sachen kaputt, als dass du weiterhin wie ein Eisklotz durch die Gegend läufst. Das tut dir nämlich nicht gut.« Ich konnte ihn förmlich grinsen hören. »Sollen wir dir vielleicht einen Boxsack kaufen und an die Decke dübeln?«

Gegen meinen Willen musste ich schmunzeln.

»Mir tut es leid«, fügte er ernst hinzu, »dass du das jetzt mitbekommen hast. Das wollte ich eigentlich von dir fernhalten, du hast ja genug eigene Probleme. Gabi hat mich am Wochenende angerufen und mich vorgewarnt, dass es jetzt ein bisschen hässlich werden könnte zwischen den Seemanns und mir. Ihr haben sie nämlich auch schon auf den Zahn gefühlt.«

»Warum macht Opa das?«, flüsterte ich heiser.

»Na ja«, erwiderte Ted mit einem lang gezogenen Ausatmen, »ich nehme an, er und deine Oma wollen dich bei sich haben, damit sie so wieder etwas von ihrer Tochter zurückbekommen. Dass du jetzt so weit weg von ihnen lebst, ist schon schwer für sie.«

»Hast du eigentlich immer für jeden Verständnis? Bist du nicht auch mal sauer?« Ich hatte vorwurfsvoll klingen wollen, aber es kam verwundert heraus.

Ted grinste. »Genau dasselbe hat mich deine Mutter auch immer gefragt. Karen hat das jedes Mal noch weiter auf die Palme gebracht, wenn sie schon auf hundertachtzig war und ich trotzdem ruhig blieb. Mit mir könne man nicht streiten, hat sie gesagt.« Er zwinkerte mir zu. »Was nicht stimmt. Ich bin nur eben von Natur aus ein ziemlich geduldiger Mensch. Ich brauche sehr lange, bis ich in Fahrt komme, und da hat mein Gegenüber sich meistens schon längst ausgepowert.«

Ich lachte leise. Ein kühler Luftzug strich über meine Haut und ich wandte den Kopf. Mein Herz schlug schneller, als ich Nathaniel entdeckte. Wie ein Vogel auf dem Drahtseil kauerte er auf dem Fenstersims, die Hände gegen die Fensterrahmen gestützt. Wie ein Raubvogel – sein Gesicht war finster zusammengezogen und er wirkte sprungbereit, als fürchtete er, Ted könnte mir wehtun. Vielleicht hatte er meinen Ausraster von vorhin gespürt. Ich schüttelte sacht den Kopf und versuchte ihm mit einer Grimasse heimlich klarzumachen, dass ich in Ordnung war.

»Alles okay?« Teds Augen waren meinem Blick zum Fenster hin gefolgt und er wirkte verwirrt.

»Ja«, sagte ich mit einem tiefen Durchatmen. »Alles okay. – Tut mir wirklich sehr leid wegen vorhin«, murmelte ich kleinlaut aus zugeschnürter Kehle. »Ich weiß nicht, was da in mich gefahren ist.« Ein leichter Grusel überlief mich bei meinen eigenen Worten; früher hatte ich sie immer so leichtfertig und ohne nachzudenken ausgesprochen, und mittlerweile hatten sie eine doppelte Bedeutung bekommen.

»Schon gut.« Halb tröstend, halb aufmunternd rieb er über meinen Unterarm. »Was hältst du davon, wenn wir am Wochenende nicht unsere übliche Tour durch eins der Stadtviertel machen, sondern einen richtigen Vater-Tochter-Tag?«

Mutter-Tochter-Tage hatten bei Mam und mir aus lange schlafen, spätem Frühstück im Café und Bummeln oder am See herumflacken bestanden, abends aus Filme oder Serien gucken und gegenseitigem Zehennägellackieren. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich mir einen Vater-Tochter-Tag vorzustellen hatte, aber ich nickte trotzdem, hauptsächlich deshalb, weil Ted mir nicht böse war, nachdem ich mich eben so schrecklich aufgeführt hatte.

»Okay, dann machen wir das.« Er strich mir noch einmal über den Kopf, stand auf und bückte sich nach dem Telefon, das er von allen Seiten betrachtete, bevor er schließlich auf ein paar Tasten drückte und es an sein Ohr hob. Ich zuckte zusammen, als gleich darauf der Apparat im Flur klingelte, bis Ted auflegte und mit zufriedener Miene das Mobilteil zwischen die Bücher auf den Schreibtisch legte. »Sieht zwar nicht mehr schön aus, scheint aber noch zu funktionieren.«

Von seinem Platz auf dem Fensterbrett aus musterte Nathaniel ihn eingehend; irgendwie hatte es schon etwas Komisches, dass er ihn sehen konnte, Ted ihn aber nicht.

»Ist dir das nicht zu kalt mit dem offenen Fenster?« Ted deutete auf Nathaniel. »Ich find’s ganz schön frisch hier drin.«

Ich biss mir auf die Lippen und schüttelte den Kopf. »Nein, mir ist warm genug.«

»Okay.« Er knipste die Schreibtischlampe aus und nickte mir zu. »Versuch zu schlafen, ja? Gute Nacht, Amber.«

»Nacht.«

Er hatte gerade die Tür hinter sich zugezogen, da sprang Nathaniel geräuschlos vom Fensterbrett herunter. »Hattet ihr Streit?«

»Nein, ich war nur … wütend.« Beschämt zeigte ich auf das beschädigte Mobilteil drüben auf dem Schreibtisch.

»Das kenne ich.« Um Nathaniels Mund zuckte es. »Nur fliegt bei mir dann wie in einem Wirbelsturm alles Mögliche durch die Luft und Möbel fallen um.«

»Dann werd ich mich bemühen, dich nie wütend zu machen«, erwiderte ich mit einem winzigen Lächeln.

»Musst du nicht«, raunte Nathaniel. »Ich könnte nie wütend auf dich sein.«

Lange sah er mich an, bis er leise fragte: »Geht es dir gut?«

Ich wollte automatisch nicken, schüttelte dann aber den Kopf. Nach dem Telefonat mit Opa war mir elend zumute, vor allem nach meinem Ausraster, in dem ich Ted geschlagen hatte wie eine trotzige Fünfjährige im Zornesrausch.

»Möchtest du es mir erzählen?«

Ich schüttelte wieder den Kopf und streckte mich der Länge nach aus, bevor ich die Decke einladend beiseitezog. Nathaniels Augen leuchteten auf, dann kam er herüber und legte sich zu mir.

Ohne ein Wort zu sagen, ließ ich meine Hand über seine Arme streichen, dann über seine Brust, halb über die sichtbaren Konturen, halb durch ihn hindurch, als würde ich den Abendnebel über der Bucht mit meinen Fingern durchkämmen und zu fangen versuchen. Sein Gesicht näherte sich meinem, und als sein Mund sich auf meine Stirn legte, schloss ich die Augen. Wo seine Lippen mich berührten, auf der Stirn, den Schläfen, den Wangen, kreisten kleine Luftwirbel auf meiner Haut, kitzelten und kribbelten und ließen mir ein wenig schwindelig werden. Meine Lider flatterten und hoben sich. So nah war er mir jetzt, dass kaum noch ein Finger zwischen seinen Mund und meinen gepasst hätte, und so wie ich mich versteifte, schien auch er zu zögern. In dem Schatten, den er aus dem schummrigen Licht der Nachttischlampe herauslöste, glänzten seine Augen dunkel und warm wie poliertes Holz, und ich entspannte mich wieder.

»Amber«, murmelte er. Am-berrrr. Meine Augen klappten zu, und ich spürte seinen Mund auf meinem, einen größeren, kräftigeren Wirbel, der langsam meinen Atem einsog, schön und aufregend und beängstigend zugleich, bis ich nach Luft rang und er sich von mir löste. Ich machte die Augen auf und sah ein kleines, kaum sichtbares Lächeln um Nathaniels Mundwinkel, und auch meine krümmten sich aufwärts.

Als ob jemand mit heißen Fingern an jedem einzelnen Muskel in mir zog, so sehnte ich mich danach, meine Finger um Nathaniels Schultern zu schließen und starke Knochen und warme Haut zu fühlen. Seinen Herzschlag zu hören und zu spüren, wie er atmete. Ich wollte so sehr, dass er mich in seine Arme zog und gegen seine Brust drückte, fester und fester, bis mir die Luft wegblieb und mir damit den Trost, den Halt gab, den ich so nötig hatte.

Mir war weh ums Herz, als ich mich stattdessen zusammenrollte und mich in wenig mehr als Luftwirbel hineinkuschelte. Eingehüllt in das sanfte Strömen von Dunst und Nebel, das er war, in seinen Duft nach grünem Moos und sonnengetrocknetem Treibholz schloss ich die Augen und ließ mich von dem zarten Lufthauch seiner Finger in den Schlaf streicheln.