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Ich dribbelte die Rädchen des Zahlenschlosses auf Mams Geburtsdatum, öffnete die Tür meines Schließfachs und fing an, meinen Kram zusammenzupacken, um zum Beacon hinunterzugehen und dort meine Hausaufgaben zu machen. Noch 676 Tage.

Fast einen Monat war ich jetzt hier in San Francisco und allmählich wurde das Leben hier Alltag. Alles lief nach Plan: Lange Schultage bis Viertel nach drei montags, dienstags, freitags; kürzere Schultage bis halb drei mit Blockunterricht wie Chemie, Sport oder Bio mittwochs und donnerstags. Nur die krummen Uhrzeiten wie 9:17 oder 11:41 fand ich noch gewöhnungsbedürftig, und genauso, dass die Stunden an den langen Schultagen zu ganz anderen Uhrzeiten begannen als an den kürzeren. Danach machte ich im Beacon meine Hausaufgaben, bis Ted mich gegen sieben abholte und noch für uns kochte. Samstags und sonntags gingen wir morgens unsere Joggingrunde drehen. Meistens fuhren wir zum Golden Gate Park, in dem wir uns ständig neue Routen durch das mit Bäumen und Sträuchern dicht bewachsene Gelände suchten. Mal zwischen anderen Joggern, Spaziergängern und fotografierenden Touristen am japanischen Teegarten mit seinem Pavillon in Rot und Gold vorbei und an dem See mit den darauf umherpaddelnden Enten, an dem es eine Bootsvermietung und rotzfreche graue Eichhörnchen gab, mal bei der holländischen Windmühle am anderen Ende des Parks oder an dem riesigen altmodischen Gewächshaus unter Palmen, dessen Glasscheiben unter der Sonne silbern glänzten. Ab und zu fuhren wir auch zum Rand des Presidio; unter dem Geschrei der Möwen die Uferpromenade entlangzulaufen, mit Blick auf die Bucht von San Francisco, die Golden Gate Bridge und an klaren Tagen über die braunvioletten Hügel der Küste von Sausalito und auf Angel Island – das hatte schon was. Frisch geduscht gingen wir nach dem Frühstück im Supermarkt einkaufen oder brachten unsere Wäsche zu Dewey (Lewey?) ins Leroy’s, und nachdem ich auch den letzten Karton aus Deutschland ausgeräumt und meine Sachen in den Regalen und im Kleiderschrank verstaut hatte, lernte ich für die Schule oder las, während Ted arbeitete.

Lautes Gejohle kam vom Ende des Korridors her und ich spähte an der rot lackierten Metalltür des Schließfachs vorbei. In halsbrecherischem Tempo jagten nebeneinander zwei Rollstuhlfahrer heran; unter erschrockenem Quieken sprangen ein paar Schüler beiseite, die genau in ihrem Weg standen.

»Hi!«, rief mir der blonde Rollstuhlfahrer in der schwarzen Jacke im Vorbeijagen atemlos zu, während sein Konkurrent mit verbissen zusammengekniffenem Gesicht stumm an mir vorbeisauste.

»Hi, Ben«, rief ich hinterher, bevor die beiden scharf abbremsten, um das Wettrennen hinter dem Knick am anderen Ende des Flurs fortzusetzen. Ben war mit mir im Kurs für Literatur und war genauso begeistert von F. Scott Fitzgerald wie ich und fand Doctorow genauso bescheuert, was er Mr Woolff auch in sehr deutlichen Worten erklärt hatte. Sandra fand es voll krass!, was ich ihr in meinen Mails über die Jefferson High schrieb. Von Arnold, der das Tourette-Syndrom hatte und in Mathe immer mal wieder heiser aufschrie und Flüche vor sich hinzischte, oder von Tanya, die nach einem Unfall auf dem Motorrad ihres Bruders eine Beinprothese trug und trotzdem bei mir im Sportkurs war. Oder von Cheryl, die erst mal ihren Platz in Kunstgeschichte mit Desinfektionsspray behandelte und mit einem Stapel Papiertaschentücher abrieb, bevor sie sich setzte. Voll die Freak-Show bei euch!, hatte Sandra mir geschrieben, aber mir kam das inzwischen ganz normal vor. Und schließlich hatte ich genauso mit etwas zu kämpfen, auch wenn man das vielleicht nicht auf den ersten Blick sah. Die Leute hier gingen besser damit um und für mich machte es die Sache irgendwie leichter; leichter als es an einer Schule voller »Normalos« gewesen wäre.

Aber obwohl ich froh war, dass ich in der bunt zusammengewürfelten Masse der Schüler an der Jefferson High untertauchen konnte, fühlte ich mich manchmal doch verdammt allein. Als hätte ich die Glasscheibe, die mich in Deutschland von den anderen getrennt hatte, mit hierhergebracht. Und dass ich mit kaum einem Mitschüler mehr als zwei Kurse gemeinsam hatte, machte es nicht einfacher. Ich war einigermaßen okay, mehr aber auch nicht. Das wird schon noch, hatte mich Gabi letzten Sonntag am Telefon zu trösten versucht. Hab ein bisschen Geduld! Vor allem mit dir selbst.

Seufzend stellte ich meinen Rucksack auf dem Boden ab und streckte die Hand nach meiner Jacke aus, als ich aus dem Augenwinkel etwas aufleuchten sah. In Knallpink. Oder Magenta.

Matt Chang stiefelte den Korridor entlang, in einer übergroßen Kapuzenjacke und die Baggypants in Falten auf den Sneakers aufstehend; offenbar hatte eine Vorladung zur Rektorin wegen eines Verstoßes gegen die (übrigens recht lässige) Kleiderordnung an der Jefferson High andere Konsequenzen als das Umfärben der Haare von punkig zurück auf normal.

Ein Hi lag mir schon auf der Zunge, aber den Blick ganz auf das Display seines iPods gerichtet, schlappte er einfach auf quietschenden Gummisohlen an mir vorbei, eingehüllt in den Klang scheppernder Beats und dunkler Bässe aus seinen Kopfhörern. In Geschichte ließ er zwar keine Gelegenheit aus, Witze zu reißen, aber außerhalb der Stunde sah ich ihn immer nur mit verstöpselten Ohren, den Blick irgendwie nach innen gekehrt. Manchmal saß er so auch in der Cafeteria über sein Tablett gebeugt, wenn er nicht mit ein paar Jungs zusammenhockte, die aussahen, als wollten sie am nächsten Casting für The Big Bang Theory teilnehmen.

Ich zog meine Jacke aus dem Schließfach und hielt inne. Plötzlich fühlte ich mich unbehaglich. Fast wie dieses Gefühl, das einem durch Mark und Bein fährt, wenn Kreide über die Tafel kreischt. Und ein bisschen so, als würde ich beobachtet.

Ich wandte den Kopf. Der Korridor lag leer und verlassen da. Nur an der Tür zur Jungstoilette lehnte eine schmale Gestalt in hellen Jeans und weißem Hemd. Ein Junge mit stoppelkurzen Haaren, der mich fixierte, die umschatteten blauvioletten Augen beinahe schwarz im blassen Gesicht. Ich konnte mich nicht erinnern, dass er in einem meiner Kurse saß, aber ich hatte ihn schon einmal irgendwo hier an der Schule gesehen. Ein Gesicht in der Flut von rund zweitausend Schülern, die jeden Tag an mir vorüberzog und von denen ich nur einen Bruchteil langsam zuordnen lernte.

Ein erstickter Laut, ein mehrfaches Poltern und Klatschen ließen mich herumfahren. Aufgeschlagene Bücher und lose Blätter breiteten sich auf dem Boden aus. Dahinter kniete ein Mädchen mit langen schwarzen Haaren, die ihr ins Gesicht fielen, genauso pechschwarz wie ihre Jeans und ihre Sneakers. Sie sammelte ihre Sachen wieder ein. Ich stopfte meine Jacke zurück in das Schließfach und ging zu ihr. »Warte, ich helf dir …«

»Verpiss dich!« Ihre Hände zitterten, während sie ihre Notizen und Bücher zusammenraffte; ihre Nägel sahen abgekaut aus und der schwarze Nagellack darauf war abgeblättert.

Meine Brauen hoben sich. »Ich wollte dir doch nur hel…« Ich verstummte.

Das Mädchen trug einen schwarzen Pullover mit überlangen Ärmeln; an einem davon war auf der Höhe des Handgelenks ein Stück Naht aufgeplatzt, und für einen Sekundenbruchteil glaubte ich, ich hätte eine wulstige, längs verlaufende Narbe auf der Innenseite aufblitzen sehen, grell leuchtend auf ihrer olivfarbenen Haut.

Sie warf den Kopf zurück und musterte mich unter verkniffenen Brauen. Eigentlich war sie unwahrscheinlich hübsch mit ihrem herzförmigen Gesicht und den riesigen nussbraunen Augen. Aber der fast weiße Puder, den sie aufgetragen hatte, ließ ihre Haut fleckig wirken, und der breite schwarze Kajalrand und der extrem dunkle Lippenstift erschlugen ihre feinen Züge. »Is was?!«

»N-nein.« Mein Blick blieb an dem massiven silbernen Kruzifix hängen, das an einer langen Kette vor ihrer Brust baumelte.

»Dann glotz nicht so!« Ihre Unterlagen in den überkreuzten Armen an sich gepresst, stand sie schnell auf, wirbelte auf dem Absatz herum und hastete im Laufschritt davon.

Zu verdutzt, um gekränkt zu sein, sah ich Goth-Girl hinterher. Dann drehte ich mich um.

Der Junge an der Toilettentür war verschwunden.

Im Foyer hatte ich fast die Treppe ins Untergeschoß zum Beacon erreicht und hörte schon das Gelächter und die Stimmen aus dem Raum mit der Sitzecke, als es in der Seitentasche meines Rucksacks vibrierte. Ich zog mein Handy hervor und öffnete die Nachricht.

Von: Ted

Sitzung wird heute länger dauern, schaff’s nicht! Iss bitte was in der Cafeteria, lass Dir ein Taxi kommen und bezahl mit Kreditkarte. Sorry!

Mit einem komischen Rumoren im Bauch starrte ich noch auf die SMS, als jemand nach mir rief.

»Amber!« Ich hob den Kopf. In einem figurbetonten, geblümten Kleid, grober Strickjacke mit passendem Schal und schicken Stiefeln kam Sharon auf mich zugelaufen, ihre große Umhängetasche über der Schulter. »Hi! Wir wollen gleich noch zum Union Square, shoppen gehen. Hast du vielleicht Lust, mitzukommen?«

»Also«, begann ich zögernd, »eigentlich …«

Ich war nicht auf diese Welcome-Back-Party gegangen und auch nicht auf die Party zwei Wochen später; ich hatte Ted nicht einmal gefragt, ob ich durfte, und mich bei Sharon damit entschuldigt, ich müsse lernen. Was nicht einmal gelogen war. Ich hatte immer gehört, das Niveau an amerikanischen High Schools sei so erschreckend niedrig. Vielleicht stimmte das sogar – aber nicht, wenn man wie ich für mehrere Advanced-Placement-Kurse angemeldet war, damit mein Abschluss später mal genauso viel wert war wie ein deutsches Abi. An der Jefferson High merkte ich deutlich, wie sehr ich in den letzten Monaten an meiner alten Schule abgesackt war, weil ich ständig mit den Gedanken woanders war und keinen Kopf hatte für Mathe, Bio und Französisch; ich musste mich ganz schön anstrengen, wieder reinzukommen. Aber ich hatte auch nichts dagegen, viel für die Schule zu machen, das lenkte mich ab und ließ die Tage ein bisschen schneller vergehen.

Ich blickte an Sharon vorbei zu Danielle, die mir zuwinkte, und zu Felicia, die sich gerade mit dem Schminkspiegel in der Hand frisches Gloss auflegte. Die drei wirkten so … normal. Mich packte die Sehnsucht, selbst wieder normal zu sein. Ein ganz normales Leben zu führen. Mit Freundinnen durch die Stadt zu bummeln, in einem Café zu hocken und über Jungs zu reden, über doofe Lehrer, nervige Eltern und den neuesten Kinofilm, dabei zu kichern und zu lachen und mich einfach gut zu fühlen.

»Klar«, antwortete ich kurz entschlossen.