29
Ich erinnerte mich nicht mehr an viel von früher. Aber ich wusste genau, dass mich noch nie etwas so gequält hatte wie das Grauen in ihrem Gesicht. Wie sie mit aufgerissenen Augen auf ihre Hände starrte, sie öffnete, wieder zusammenballte und wieder öffnete, sie zitternd durch mich hindurchbewegte und dabei unentwegt den Kopf schüttelte.
»Es tut mir leid«, wiederholte ich und strich ihr über die Wange. Meine Berührung ließ ein paar Strähnen ihres Haares aufflattern, und unter einem heftigen Schaudern flog ihr Kopf zu Seite, als hätte ich sie geschlagen. Schreckensstarr taumelte sie zurück und wischte angeekelt die Finger an ihrer Jacke ab. Ich konnte die Welle schwarzen Entsetzens spüren, die über sie hereinbrach und ihr den Boden unter den Füßen wegspülte.
»Wer oder was bist du?«, krächzte sie mir entgegen.
Ich bin tot, Amber. Lange schon. Eine verlorene Seele. Dazu verdammt, als Schatten unter euch Lebenden gefangen zu sein. Und ich weiß nicht einmal, weshalb.
Kein Wort davon brachte ich heraus. Nicht, solange sie schlotternd vor mir stand, die Hände unter ihre Achseln geklemmt und die Augen riesig in dem kreidebleichen Gesicht.
»Was auch immer du bist«, schluchzte sie in nackter Angst, »bleib weg von mir! Hörst du?! Bleib weg!«
Sie torkelte herum und stolperte vorwärts; dann rannte sie durch den Korridor aus dem Haus hinaus. Und wie in einem Strudel riss sie alles an Licht und Lebendigkeit, was sie hierhergebracht hatte, mit sich fort.
Meine Faust donnerte gegen die Wand neben mir, gleich darauf die andere, und ich hieb mit der Stirn gegen das Holz. Einmal, zweimal, zigmal. Ich wollte Schmerz fühlen, stechenden, pochenden, überwältigenden Schmerz, aber alles was mir wehtat, war irgendwas tief in mir. Ein Flüstern hob an, ein Brausen; hinter mir konnte ich die Bücher durch die Luft zischen hören und das dumpfe Flattern der weichen Decke. Die beiden Flaschen krachten gegen Decken und Wände, versprühten fauchend und sprudelnd ihren Inhalt durch den Raum.
Kraftlos öffneten sich meine Finger und glitten durch das Holz der Wand bis in das Mauerwerk dahinter, und ich sank zu Boden. In mir schwang noch immer die Berührung ihrer Hände nach, so warm, so lebendig.
Ich wusste nicht, warum ich nicht schnell genug gewesen war, wo doch Zeit, Raum und Materie mir kaum Grenzen setzten. Wie durch einen Zauber gebannt war ich gewesen. Vielleicht weil ich es mir so heftig ersehnt hatte, sie einmal zu spüren, sie einmal anzufassen, nur ein einziges Mal. Genauso wenig wusste ich, wie das alles möglich war. Warum sie mich sehen und meine Stimme hören konnte. Warum sie all die Zeit nicht gemerkt hatte, dass sie einen Geist vor sich hatte.
Ein solches Geschenk war es anfangs gewesen und sie das Beste, was mir je widerfahren war. Und jetzt war daraus der schlimmste Fluch geworden.
Denn jetzt würde ich sie vermissen bis in alle Ewigkeit. Solange ich ein Geist blieb. Oder bis ich sie vielleicht durch eine unerwartete Gnade vergaß.
So wie alles andere.