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Im Sonnenschein sah die Backsteinkirche der Christian Science wirklich aus, als hätte man sie aus Italien hierherverpflanzt; eigentlich fehlten um den verwinkelten Bau mit seinem eckigen Turm nur noch die Zypressen, um die Postkarte aus der Toskana komplett zu machen. Die Hände in den Taschen meiner Jeans, rieb ich mit der Sohle meines Sneakers über die Bordsteinkante und starrte zu dem Haus hinüber. Das grün-weiße Straßenschild verriet mir, dass ich an der Franklin Street stand, die sich hier mit der California überschnitt, bevor diese dann steil bergauf führte.
Ich wechselte auf die gegenüberliegende Ecke der Kreuzung, um die Fassade des Hauses zur California hin betrachten zu können. Wobei Villa wohl der passendere Ausdruck gewesen wäre. Zwei Rundtürme nahmen dort den Hauptteil des dreistöckigen Hauses unter seinem Giebeldach in ihre Mitte. Die Bäume und Sträucher davor waren sehr lange nicht gestutzt worden, und ihre Zweige reckten sich teils durch die Streben des hohen Eisenzauns weit über den Bürgersteig, teils hingen sie schwer über die Metallspitzen herunter, und zur Kirche hin verhüllte ein gigantischer Laubbaum fast die gesamte Fassade. Das Haus weiter oben an der Straße war ähnlich gediegen, wenn auch in ganz anderem Stil erbaut, viktorianisch oder so, ein bisschen wie eine Kulisse für einen Schinken wie Vom Winde verweht, und dahinter reckte sich ein Nadelbaum in die Höhe, der mich von der Struktur her an das Fallschirmchen einer Pusteblume erinnerte. Wenn ich mich so umsah, wirkten alle Häuser hier wie aus einer längst vergangenen Zeit, als Mädchen in meinem Alter noch Korsetts und Unterröcke trugen und Anstandsunterricht erhielten. Vornehm sah hier alles aus; früher mussten hier feine Leute mit Dienstboten gewohnt haben, und auch heute sah es hier noch nach Geld aus in dieser Gegend, die mir fast noch ruhiger vorkam als die Sacramento Street.
Betont unauffällig schlenderte ich über die Kreuzung zurück zu der Backsteinkirche, meine Augen weiter auf das Haus gerichtet, bis ich mich endlich traute, die Franklin Street zu überqueren und direkt darauf zuzugehen.
Von Nahem war deutlich zu sehen, wie schön es einmal gewesen sein musste und wie sehr die Zeit ihm zugesetzt hatte. Früher wohl in einem Ton irgendwo zwischen Ocker und Khaki gestrichen, hatte die Fassade etwas Schmutziggraues bekommen. Genauso wie die ursprünglich weißen Schornsteine, die Blenden der Giebel und der einzelnen Stockwerke, die Spitzen der beiden Türme und die Fensterrahmen, die teilweise abgeplatzt und von Sprüngen durchzogen waren. Auf den Dächern fehlten einige der grauen Schindeln. Die Bordüre aus Lorbeerkränzen und brennenden Fackeln über den Fenstern im oberen Stock war voller Risse und die Girlande aus Stein darüber und die Muschelreliefs unter den Fenstern krümelten vor sich hin. Auch das Schild mit FOR SALE schien einige Jahre auf dem Buckel zu haben, so rissig wie das Holz war, und so verwittert wie die Farbe darauf aussah.
Vor dem Tor des Zauns machte ich halt und sah mich nach allen Seiten um. Obwohl viele Autos am Straßenrand parkten, war keine Menschenseele unterwegs, und vorsichtig schob ich das Tor auf, das jetzt, bei Tag, irgendwie viel weniger quietschte und knarrte.
Der Eingangstür aus dunklem, massivem Holz und der kleinen Säulenveranda daneben schenkte ich nur einen kurzen Blick; ich nahm denselben Weg wie vorgestern. Durch Sträucher und hohes Gras hindurch, das von wucherndem Gebüsch und dichten Baumkronen fast völlig abgeschirmt wurde; vom Nachbarhaus konnte ich nur ein winziges Eckchen roter Fassade mit weißen Fensterrahmen entdecken. Die Rückseite des Hauses wirkte aus dem Hauptteil unter seinem Giebel, einem kleinen, einstöckigen Rundbau und mehreren eckigen Anbauten zusammengewürfelt, aber immer noch nobel genug. Ich stemmte die kleine Holztür auf und ging hinein.
In dem schmalen Korridor war es jetzt kaum heller als vorgestern, aber als ich in den großen Raum kam, schnappte ich überrascht nach Luft. Durch das große Buntglasfenster über der Treppe, das Glockenblumen, Iris und Lilien in verschiedenen Blau- und Lilatönen zeigte, fielen einzelne Sonnenstrahlen herein. Von den im Wind bewegten Blättern der Bäume draußen immer wieder kurz verdeckt, malten sie ein sich ständig veränderndes Muster aus bunten Lichtflecken auf den Holzboden und tauchten die Ränder des Raumes in ein bewegliches Spiel aus Schatten und Helligkeit.
Nach und nach durchwanderte ich das Haus, das nach dem vielen alten Holz darin roch und nach dem Staub, der sich in den Spinnennetzen gefangen hatte und sie sichtbar machte. Irgendwie alt roch es, aber nicht unangenehm, wie vertrocknete Blumen, und im Licht, das durch die Fenster hereinfiel, tanzten glitzernde Staubteilchen. Immer wieder lauschte ich, ob ich Schritte oder Stimmen hörte – ob mich jemand dabei erwischen konnte, wie ich hier herumschnüffelte, aber alles blieb still. Die meisten Türen standen offen; wenn ich an eine kam, die zu war, zog ich mir den Ärmel meiner Jacke über die Finger und fasste den Knauf mit dem Stoff dazwischen an, um den schmierigen Film nicht berühren zu müssen, der das Messing überzog.
Wer auch immer hier zuletzt gewohnt hatte, hatte das Haus bei seinem Auszug gründlich ausgeräumt. Die Küche mit ihrem Steinboden und dem Ungetüm von Herd aus schwarzem Eisen war sonst leer, genau wie viele der anderen Räume. Nur vereinzelt standen Möbel herum, von angeschmutzten Leintüchern verhüllt, und auf den welligen Tapeten, je nach Zimmer in dunklen, satten Rottönen oder zarten Pastellfarben, waren hellere Rechtecke übrig geblieben. In einem Zimmer im oberen Stockwerk sah ich ein riesenhaftes Bett aus fast schwarzem Holz, die nackte Matratze darauf war verbeult und voller Stockflecken; wahrscheinlich war es zu aufwendig gewesen, es durch die Tür zu manövrieren und die Treppe hinunterzuschleppen, genauso wie den gewaltigen Kleiderschrank, der komplett leer stand. Die hellblau geblümte Tapete im Badezimmer daneben warf Blasen, einzelne Bahnen hatten sich gelöst und hingen schlaff herunter. Braune Schmutzränder durchzogen die Porzellanwanne auf ihren Klauenfüßen, genauso wie das Becken im Waschtisch aus fleckigem Holz.
Nur ganz oben, in einem der beiden Türme, gab es eine Tür, die sich beim besten Willen nicht öffnen ließ. Sooft ich auch mit Gefühl am Knauf drehte oder mit Gewalt daran rüttelte und mich mit aller Kraft dagegenlehnte: sie blieb verschlossen.
»So ein Mist!«, knurrte ich vor mich hin.
Ein Ziehen jagte plötzlich durch mich hindurch, ganz ähnlich wie in den Momenten, in denen ich Mam am meisten vermisste, dabei hatte ich gerade gar nicht an sie gedacht. Ich presste meine Hände gegen das glatte Holz der Tür und legte die Stirn dagegen; ich musste ein paarmal tief durchatmen, bis es wieder ging. Unwillig löste ich mich von der Tür, drehte mich um und schlich müde die Stufen hinunter.
In dem großen Raum am Fuß der Treppe – offenbar die Eingangshalle – hockte ich mich auf den Boden.
Kratzer, Schleifspuren und Flecken zogen sich über das Holz und gedankenverloren zeichnete ich mit dem Finger die Umrisse und verästelten Linien nach. Lange Zeit saß ich einfach nur so da und ließ meine Augen umherwandern. Über das polierte Holz der Wände und die verhüllten Möbelstücke, über die schwere Eingangstür und über die Fenster, durch die ich in das üppige Grün des Gartens hinaussah. Es war seltsam: Ich war allein, fühlte mich aber nicht einsam. Als ob jemand mit mir hier wäre, mir dabei aber nicht allzu nahe kommen wollte. Ein komisches Gefühl, aber irgendwie war mir gar nicht unwohl dabei.
Ich ließ mich auf den Rücken fallen und sah zur Decke hinauf. Die Girlanden und Rosen und Blätter aus Stuck waren kaum zu sehen in den tanzenden Schatten dort oben, und als mich die flirrenden blauen und violetten Lichtflecken zu sehr blendeten, schloss ich die Augen. Genau wie in meinem Traum letzte Nacht.
Als ob das Haus atmete, so kam es mir vor, in tiefen, gleichmäßigen Zügen, die etwas Beruhigendes hatten. Etwas Tröstendes. Als ob mir hier nichts Böses geschehen konnte und alles, was mich bedrückte, draußen geblieben war.
Es war nicht so wie früher bei uns zu Hause, bevor Mam krank geworden war.
Aber fast.