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»Was fällt dir zu Wasser ein?«

Ich starrte Dr. Katz irritiert an. Nicht nur weil ich die Bluse, die sie heute trug, scheußlich fand – stahlblaue Seide mit einem Rhombenmuster in Senfgelb und Dunkelgrau. Sondern vor allem weil ich ihr doch gerade erzählt hatte, dass ich letzte Nacht nicht nur von meinen Albträumen verschont geblieben war, sondern durchgeschlafen hatte, und das auch noch richtig gut. Wie von einer sanften Meeresbrise gestreichelt. »Wie – was mir dazu einfällt?«

»Was fällt dir zu Wasser ein? Oder zu Meer und Wellen

»Öhm.« Ich verzog das Gesicht. »Urlaub am Meer mit Mam. Schwimmen gehen, faul am Strand liegen und auf die glitzernden Wellen gucken.«

»Was noch?«

Ich blies meine Wangen auf und stieß genervt die Luft wieder aus. »Na, Wasser halt. Nass. Einfach nass. Punkt! Nass und rinnt einem durch die Finger, kann man nicht festhalten. Ist nass und manchmal salzig wie Tränen. Richtig?!« Plötzlich unsicher, wiederholte ich: »Richtig?«

»Du hast Tränen gesagt. Wann hast du das letzte Mal geweint?«

Meine Brauen zogen sich zusammen. »Keine Ahnung.«

Dr. Katz blätterte in den Notizen auf ihrem Klemmbrett herum. »Deine Mutter ist vor weniger als einem halben Jahr gestorben. Du hast nie feuchte Augen, wenn du sie hier bei mir erwähnst, und du kannst dich nicht erinnern, wann du überhaupt das letzte Mal geweint hast.«

»Ja, und?«, sagte ich mit einem Achselzucken und sah Dr. Katz herausfordernd an, die meinen Blick reglos erwiderte. Lange. Noch länger.

Tick. Tick. Tick. Tick. Tick.

Etwas in mir begann zu wackeln und geriet ins Kippen.

»Ja, und?!«, schleuderte ich ihr entgegen, und dann brüllte ich nur noch. »JA UND?! Spielt das irgendeine Rolle? Für irgendwen? Hätte das irgendeinen Unterschied gemacht?! Hätte ihr das irgendwie geholfen? Ändert das was daran, dass sie nicht mehr da ist?! Kommt sie vielleicht dadurch zurück?!« Als mir meine eigene Stimme schmerzhaft in den Ohren dröhnte, hielt ich schwer atmend inne und sah erschrocken zu Dr. Katz hinüber. »Entschuldigung«, flüsterte ich heiser.

»Wofür entschuldigst du dich?«

»Dass … dass ich Sie angebrüllt hab«, murmelte ich mit hochrotem Kopf, ohne sie anzusehen.

»Du hast nicht mich angebrüllt, Amber. Du hast einfach nur gebrüllt. Und das ist dein gutes Recht.«

Ich warf ihr einen verunsicherten Blick zu, dann streckte ich meine Beine von mir, schob die Hände tief in die Taschen und starrte wieder auf das Bücherregal. Ein kleiner weißer Hase aus Porzellan war neu zu dem Sammelsurium dazugekommen. Konnte es wirklich sein, dass irgendwann in den letzten Wochen Ostern gewesen war und ich nichts davon mitbekommen hatte? Mam hatte Ostern immer sehr gemocht, fast so sehr wie Weihnachten; im Wohnzimmer war dann immer eine große Vase mit Blütenzweigen gestanden, in denen ausgeblasene Eier hingen, die wir zusammen bemalt hatten, als ich noch kleiner gewesen war.

»Du musst deine Mutter nicht mehr schonen, Amber«, hörte ich Dr. Katz leise sagen. »Du musst sie nicht mehr beschützen wollen.«

Plötzlich konnte ich nur noch flach durch den Mund atmen. So sehr hatte ich groß und stark sein wollen, um Mam so viel wie möglich abzunehmen, und immer Angst gehabt, etwas falsch zu machen. Angst, es würde ihr deshalb womöglich noch schlechter gehen.

»Was immer in dir vorgeht, Amber – es ist in Ordnung.«

»Nein«, piepste ich. »Nicht alles.« Mich schüttelte es.

»Doch, Amber. Hier bei mir ist es auf jeden Fall in Ordnung. Was du fühlst, ist nie falsch. Dir mag es lästig sein oder unbequem, du magst dich dafür schämen – aber Gefühle sind nie falsch. Und wenn es dir vorkommt, als wärst du verrückt geworden, dann liegt das daran, dass dir der Zusammenhang fehlt, um es einordnen zu können. Aber ich helfe dir dabei, diese Zusammenhänge zu erkennen, damit alles in dir seinen Platz bekommt.«

Vorsichtig schielte ich zu ihr hin. Ich bezweifelte, dass sie irgendeine Ahnung hatte, WIE verrückt ich mich zurzeit fühlte. Und genauso bezweifelte ich, dass sie solche Zusammenhänge meinte, wie Holly und Matt sie in der Küche über dem Wahrsager-Shop in der Sutter Street herzustellen versucht hatten.

Ein kleines Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Unsere Zeit ist für heute um. Wir sehen uns am Montag.«

Wie benommen hatte ich den Weg von der Praxis in die Sacramento Street zurückgelegt; immer wieder war ich stehen geblieben und hatte mit geschlossenen Augen mein Gesicht in die Sonne gehalten. Hatte die Wärme auf meinen Unterarmen genossen, wie sie durch den dünnen Stoff meines T-Shirts drang, und dabei tief durchgeatmet.

Müde stieg ich aus dem Aufzug und schlurfte den Korridor entlang. Vor der Wohnungstür blieb ich stehen und horchte verwirrt auf die wummernde Musik, die von nirgendwo anders herkommen konnte, schüttelte den Kopf über mich selbst und schloss auf. Dann blies mich ohrenbetäubende Rockmusik fast davon und schnell zog ich die Tür hinter mir wieder zu.

Vorsichtig näherte ich mich durch donnernde Drums, harte Gitarrenriffs und Kurt Cobains Gebrüll dem Wohnzimmer und blieb mit großen Augen in der Tür stehen. In Jeans, Sneakers und einem verwaschenen T-Shirt stand Ted zwischen auf dem Boden ausgebreiteten LPs und CDs und bearbeitete breitbeinig und mit gebeugten Knien eine imaginäre E-Gitarre. Headbangend.

Auf dem Couchtisch waren neben einer halb ausgeleerten Schuhschachtel irgendwelche bunt bedruckte Zettel verteilt; Teds Brille lag gefährlich schief obenauf. Und dahinter hüpfte in Socken Matt Chang auf dem Sofa auf und ab und schrammelte mit selbstvergessenen geschlossenen Augen ebenfalls auf einer Luftgitarre herum. Smells Like Teen Spirit? Aber so was von.

»Hallo«, rief ich in den Raum hinein, und als mich keiner von beiden hörte, schrie ich. »Hey!«

Teds Kopf fuhr hoch, und er sah mich erschrocken an, bevor er hastig zur Anlage hinüberflitzte und sie leiser drehte. »Hallo, Amber.« Schnaufend fuhr er sich durch die Haare, die ihm ins angeschwitzte, glühende Gesicht hingen, bevor er sich räusperte und mit einer verlegenen Geste auf Matt deutete. »Du … äh … du hast Besuch.«

»Whuu-huuu«, jubelte Matt, sprang vom Sofa herunter und auf mich zu, ein Strahlen auf dem Gesicht. »Un-glaub-lich!«, rief er atemlos. »Dein Dad hat Kurt Cobain noch live gesehen! Lebendig! In Action! Hier, in San Francisco!«

Ted machte einen langen Schritt zum Tisch hin, setzte sich seine Brille auf und wedelte mit etwas, das aussah wie eine Eintrittskarte. »Warfield Theatre, dreizehnter Juni einundneunzig.«

Da hatten Mam und Ted sich noch nicht einmal gekannt. Wenn ich mich richtig erinnerte, hatte Mam da gerade Abi gemacht oder so.

»Ist das nicht der Hammer?!« Matt schnappte vor Begeisterung fast über. »Waaahn-sinn!!«

Einerseits war es mir peinlich, dass Ted in seinem Alter noch mit jemandem einen Luftgitarrenwettstreit anfing; aber ich war doch ein bisschen stolz, dass er noch so jung geblieben war und Matt ihn ganz offensichtlich cool fand.

Trotzdem sah ich Ted mit zusammengezogenen Brauen an. »Wieso bist du denn schon zu Hause?«

»Vorlesungsfreie Zeit«, erklärte Ted, während er gebückt die ersten Plattenhüllen zusammenräumte. »Hast du das etwa schon vergessen?«

Ups. Mir war tatsächlich komplett entfallen, dass Ted nur zu seinen Sprechstunden an die Uni fuhr und um die Klausuren zusammenzubasteln, für die seine Studenten gerade büffelten. Oder es zumindest sollten. Konnte man mit sechzehn schon Alzheimer bekommen?

Ich sah ihm zu, wie er die Platten und CDs wieder an ihrem Platz verstaute. Wie es wohl war, ihn als Professor zu haben? War er an der Uni eher der strenge oder der nette Typ? Mochten seine Studenten ihn, fanden sie ihn nervig oder machten sie sich womöglich heimlich über ihn lustig? Und gab es vielleicht sogar Studentinnen, die für ihn schwärmten, so wie Julia, Sandra und ich damals, in der Achten, für unseren tollen Referendar in Bio? Komischer Gedanke.

Matts spitzer Ellenbogen, der mich zwischen den Rippen traf, schreckte mich auf. »Zeigst du mir dein Zimmer?«

»Ähmm …« Hilfe suchend sah ich Ted an. Wir hatten nie irgendwelche Regeln betreffs Besuchen im Allgemeinen und von Jungs im Besonderen besprochen und auch jetzt schien er gar nicht auf die Idee zu kommen. Stattdessen richtete er sich auf, einen Stapel Plattenhüllen in den Armen, und sah Matt an.

»Magst du vielleicht mit uns zu Abend essen? Gibt nichts Besonderes, nur Salat und Pasta. Aber du bist herzlich willkommen!«

»Danke für das Angebot, Ted – aber das Abendessen ist bei uns zu Hause heilig. Meine Mom und vor allem meine Granny nehmen es mir verdammt übel, wenn ich nicht wenigstens zwei Tage vorher ankündige, dass ich nicht da bin. Ein anderes Mal total gern!«

Meine Augenbrauen hoben sich. Ted?

»Gehen wir rüber«, brummelte ich.

»Wenn ihr was trinken wollt – im Kühlschrank findet ihr was!«, rief er uns hinterher, und ich verdrehte die Augen. Manchmal übertrieb er es echt mit seiner Fürsorglichkeit.

»Was machst du hier?«, zischte ich, während ich die Tür hinter uns zumachte und irritiert zusah, wie Matt seine vom Wohnzimmerboden aufgeklaubten Sneakers mitten im Zimmer fallen ließ und sofort zwischen meinen CDs herumzukramen begann. »Und woher wusstest du überhaupt, wo ich wohne?«

»Ist die gut?« Er hielt mir die Unheilig von vorletztem Jahr hin und ich nickte. Mam hatte sie sehr gemocht; die Musik darauf war eines der wenigen Dinge, die mich auf eine Art an sie erinnerten, die ich aushalten konnte. Wenn ich sie hörte, war es immer ein bisschen, als wäre Mam wieder hier und würde mich in den Arm nehmen; es tat weh, aber irgendwie war es auch schön.

»Bedien dich ruhig«, sagte ich trocken, als Matt sich an meinem CD-Player zu schaffen machte, dessen schon etwas altersschwache Bässe gleich darauf losschepperten.

»Von den Lyrics versteh ich zwar kein Wort – aber der Sound ist nicht übel«, meinte Matt, schmiss sich quer auf mein Bett, als wäre er hier zu Hause, und faltete die Hände gemütlich über der Brust, während seine bestrumpften Zehen im Takt der Beats zuckten. »Die Datenbank der Jefferson High ist so leicht zu knacken, dass das selbst ein Vorschüler hinkriegt.« Er grinste. »Hab mir übrigens im Kalender ein Kreuzchen beim dritten Dezember gemacht!«

Meinen Geburtstag wusste er also auch schon. Übermäßig heftig setzte ich meinen Rucksack auf dem Schreibtischstuhl ab.

»Nett hast du’s hier.« Eingehend sah Matt sich um; dann fiel sein Blick auf das Bild von Mam und mir. Er setzte sich auf und beugte sich vor. Meine Muskeln spannten sich an, um seine Hand wegzuschlagen oder ihn vors Schienbein zu treten, für den Fall, dass er es anfassen wollte, aber er betrachtete es nur. Lange. Dann gab er einen leisen, weichen Laut von sich und sah mich an. Er sagte kein Wort und musste es auch nicht; ich hatte auch so das Gefühl, dass er verstand, was in mir vorging, wenigstens ein wenig, und es fühlte sich ziemlich gut an.

Mit einem tiefen Ausatmen streckte Matt sich wieder auf meinem Bett aus. »Wie war’s beim Doc?«

»Äh …« Meine Vorsorgetermine, die Ted für mich vereinbart hatte und vor denen es mir grauste, weil ich die betreffenden Ärzte und ihre Praxen noch nicht kannte, standen erst für nächsten Monat im Kalender. Dann begriff ich. »Ach so, ja, einwandfrei.« Danke, Ted.

»Ich hatte vorhin eine unschlagbare Idee, die ich unbedingt sofort loswerden wollte. Und ans Handy bist du ja nicht gegangen.« Stimmt. Ich hatte es wie immer ausgemacht, bevor ich mich ins Wartezimmer von Dr. Katz gesetzt hatte, und vergessen, es wieder anzuschalten.

Matt hob den Kopf und zog die Brauen vielsagend hoch. »Ich weiß jetzt, wie ich dich davon überzeugen kann, dass es Geister gibt. Und dass ich sie genauso sehen kann wie du.«

»Und wie?«

Er rollte sich auf die Seite, stützte den Kopf in seine Handfläche und grinste. »Wir fahren nach Alcatraz!«

Ich runzelte die Stirn. »Hast du nicht gesagt, dass es dort spukt?«

»Yapp.«

»Und dass es nur böse Geister gibt? Geister, die gefährlich sind?«

»Mann«, Matt lachte auf. »Wir fahren natürlich bei Tageslicht hin – genau wie rund viertausend andere Menschen jeden Tag auch! Und denen ist noch nie was passiert, da kam jeder wieder heil zurück!«

Ich lehnte mich gegen meinen Schreibtischstuhl und verschränkte die Arme. »Ich weiß ja nicht …«

Matt setzte sich auf, das Grinsen auf seinem Gesicht wie weggewischt und ein Funkeln in den dunklen Augen. »Okay, dann erklär mir das mal bitte! Du triffst dich wochenlang mit einem Geist in einem leer stehenden Haus und flirtest mit …«

Ich wurde bis über beide Ohren rot. »Ich hab nicht mit ihm geflirtet!«

»Du hast nicht nur mit ihm geflirtet, du hast ihn auch noch angefasst! Oder durch ihn hindurchgefasst, wie man’s eben nimmt. Und jetzt hast du Schiss, nach Alcatraz zu fahren?! Einen Ausflug, den jährlich eine Million anderer Menschen machen, ohne dass etwas passiert? Erklär mir das doch bitte, ich kapier’s nämlich nicht!«

Ich kaute auf meiner Unterlippe herum und fixierte die Kappen meiner Sneakers.

»Mach dir nicht ins Hemd, Amber! Uns kann nichts passieren, ich hab das im Griff!«