20
Ich konnte nicht genug davon bekommen, ihr zuzuschauen, von meinem Platz oben an der Treppe, in dem schmalen Streifen Dunkelheit.
»Funny Girl« hatte ich sie getauft, weil es lustig aussah, wie sie Grimassen schnitt, wenn sie über ihren Büchern saß. Wie sie ihre Stirn runzelte und die Brauen zusammenkniff, dass eine tiefe Falte dazwischen entstand. Wie sie eine Schnute machte, auf den Lippen herumkaute oder sie zwischen die Zähne zog. Manchmal murmelte sie vor sich hin, schimpfte leise oder stöhnte auf, und auch das fand ich lustig. Und sehr, sehr süß.
Ich mochte es, wie sie nach und nach mehr Dinge anschleppte und hierließ. Als ob etwas von ihr bei mir blieb, auch wenn sie dann wieder ging. Mir gefiel das kleine Buch, in das sie oft hineinschrieb, ich mochte die Farben seines Einbands. Natürlich hätte ich nicht darin herumblättern sollen, aber ich tat es trotzdem, ich wollte wissen, wer sie war, was sie dachte, was sie beschäftigte. Aber sie schrieb in einer fremden Sprache, die ich nicht beherrschte. Ein Wort wiederholte sich dauernd: »Mam«. Bedeutete es das Gleiche wie »Mom«? Schrieb sie über ihre Mutter? Hatte sie Ärger mit ihr? Ich ertappte mich dabei, wie ich mit den Fingerspitzen über die großen, runden Buchstaben in blauer Tinte strich. Als könnte ich ihr so näher sein. Etwas von ihr aufnehmen und sie verstehen.
Auf der letzten Seite dieses Buchs zählte sie etwas ab, wie ein Häftling, der den Tag seiner Freilassung herbeisehnt. Und die Bücher mit den bunten Umschlägen, die sie neben der Decke aufgestapelt hatte, waren teils in ihrer Sprache, teils auf Englisch. Manchmal nahm sie das eine oder andere davon wieder mit und ließ dafür ein anderes hier. Ab und zu blätterte ich eines der englischen Bücher auf, doch mir gelang es nie, mehr als ein paar Zeilen davon zu überfliegen. Vielleicht war es zu lange her. Aber ich war auch noch nie ein Bücherwurm gewesen.
So lange und so viel ich auch über sie nachdachte – ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Sie war und blieb ein unlösbares Rätsel für mich. Vor allem weil sie sich von allen Ecken der Stadt ausgerechnet dieses Haus ausgesucht hatte. Bemerkte sie denn nicht, dass hier etwas nicht stimmte?
Die Augen waren ihr zugefallen, und den Kopf locker auf ihrem ausgestreckten Arm, die andere Hand schlaff auf dem aufgeschlagenen Buch vor ihr, war sie eingeschlafen. Gleichmäßig hob und senkte sich ihre Brust und eine tiefe Ruhe ging von ihr aus. Ich hielt es nicht länger aus; ich ging zu ihr hinunter und hockte mich an der Wand neben ihr hin, einige Schritte von ihr entfernt.
Aus der Nähe betrachtet, war sie noch hübscher. Ihre Haare glänzten und sahen weich aus; ich konnte winzige Sommersprossen auf ihrer Nase erkennen und wie lang und dicht ihre Wimpern waren. Ich hätte zu gern gewusst, wie sich wohl ihre helle, feine Haut anfühlte. Und wie es sein mochte, ihren Mund zu berühren, der leicht geöffnet war. Sie zu küssen. Ich war schon versucht, mich zu ihr hinüberzurecken und den Krümel wegzuwischen, der an ihrer Unterlippe klebte, als ihre Brauen zuckten. Ein Schaudern rann durch sie hindurch, ihre Lider flatterten und klappten dann auf.
Zum ersten Mal sah ich ihr in die Augen, die von einem tiefen, leuchtenden Blau waren. Sie blickten geradewegs in meine Richtung und weiteten sich dann erschrocken.