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Wir waren an der Anlegestelle gerade von Bord gegangen, als Matt sich die Kapuze vom Kopf schob und seine feuerroten Haare mit gespreizten Fingern gekonnt wieder aufstellte, bevor er sich meine Hand schnappte und mich mit sich zog. An Touristen vorbei, die ihre Kameras zückten, sich in die Faltpläne vertieften, die es in einem Schaukasten gab, oder einfach herumschlenderten und sich dabei in aller Ruhe umsahen. Ein Ranger in khakifarbener Uniform und passendem Hut mit breiter Krempe scharte seine Gruppe für eine Führung um sich und erteilte mit lauter Stimme gerade die erste Lektion zur Geschichte der Insel. »Die Spanier nannten die Insel la Isla de los Alcatraces, nach den Pelikanen, die hier früher nisteten. Der Leuchtturm, der anfangs hier stand, wurde nach und nach zu einem Fort erweitert. Während des Sezessionskriegs wurde 1861 dann ein Militärgefängnis eingerichtet und …«
Sobald wir aus dem gröbsten Trubel draußen waren, ließ Matt mich wieder los und holte aus der Tasche seiner Baggyjeans das Smartphone, drückte ein paarmal darauf herum und betrachtete das Display. »Da lang«, verkündete er dann entschieden, und ich trottete hinter ihm her.
In seiner kahlen Bauweise und mit dem Warnschild aus der Zeit als Hochsicherheitsgefängnis wirkte das große Gebäude, das sich auf der linken Seite über mir auftürmte, auf mich bedrohlich. Daran konnten auch der belebte Buchladen und die Souvenirshops im Erdgeschoss nichts ändern. Genauso wenig wie die verschachtelt aneinandergebauten Häuser unmittelbar vor uns, unter denen uns ein finsterer, muffiger Tunnel hindurchführte. Das Gebäude auf der anderen Seite war nur noch ein Skelett aus nackten Betonwänden und Eisenträgern, das Haus dahinter von Wind und Wetter und den Jahren angenagt und vergilbt.
Wir marschierten einen betonierten Pfad hinauf, der sich in Serpentinen den Hang hochschlängelte. Es hatte etwas Unwirkliches, auf die Terrasse unter uns zu blicken, auf der neben einem alten Gewächshaus ein akkurat geharkter Kiesweg die gepflegten Blumenbeete umschloss, und darunter das Hausskelett vor den leuchtend türkisblauen Wellen zu sehen. Hier oben pfiff der Wind ganz schön heftig und zerrte ebenso an mir wie an den Sträuchern und Bäumen und von der Küste her drängte sich eine Nebelwand über das Wasser. Am Ende des Pfads baute sich hinter hohem Maschendrahtzaun die kalkige Fassade des Zellenblocks mit seinen vergitterten Fenstern auf und wir gingen hinein.
Dunkel und kühl war es in dem ersten Raum, einem ehemaligen Waschraum mit nackten Leitungsrohren und Duschköpfen. Dahinter wurde es zu meiner Erleichterung heller; hinter den Trennwänden aus starkem weißem und rostgeflecktem Drahtgeflecht warf ich einen Blick in die Wäscherei mit ihren weißen Holztischen, Wäschewagen und Holzregalen mit säuberlich gefalteter und aufgestapelter Anstaltskleidung. Dann bogen wir in den eigentlichen Zellentrakt mit seinen endlosen Reihen von Gitterstäben und Stahlwänden in Leberwurstrosa ein, die sich oben auf den beiden Galerien wiederholten.
Beklommen sah ich mich um. Immer wieder prickelte es kühl über meinen Nacken. Möglich, dass es auch einfach nur zog, so windig wie es draußen war. Die Menschen um mich herum machten Fotos und schauten in die Zellen hinein, lauschten mit glasigem Blick über Kopfhörer dem Audioguide oder verrenkten sich die Köpfe auf der Suche danach, was die digitale Stimme ihnen gerade beschrieb und erklärte. Zwei Jungs in Jeans und Hoodies, vielleicht zwei, drei Jahre jünger als ich, alberten mit einem Mädchen mit Zahnspange herum, das daraufhin schrill kicherte.
»Und – was sagst du?«, raunte Matt mir zu.
Ich hob die Schultern. Ich fand es wirklich unheimlich hier, aber ich hatte keine Ahnung, ob es daran lag, dass tatsächlich Geister umgingen, oder vielmehr damit zu tun hatte, dass alles so trostlos wirkte und ich wusste, dass hier mehrere Jahrzehnte lang Schwerverbrecher unter strengsten Bedingungen inhaftiert gewesen waren.
»Du, Matt«, begann ich dann zögerlich. »Woran erkenne ich eigentlich, dass ich wirklich einen Geist vor mir habe und keinen Menschen?«
Matt grinste, ein Grinsen, das irgendwie verkniffen wirkte. »Schau mal nach da oben.«
Noch während ich den Kopf zurücklegte, jagte es mir eiskalt den Rücken hinunter. Auf der obersten Galerie stand ein Mann in einer dunklen Uniform mit roter Krawatte und einer Schildmütze auf dem angegrauten Kopf. Er stand einfach nur da und starrte zu uns herunter, sein hageres, von tiefen Linien durchzogenes Gesicht eine reglose Maske.
»Du spürst es einfach«, flüsterte Matt. »Mit der Zeit bekommst du ein Gefühl dafür und weißt es mit absoluter Sicherheit. Und du bekommst einen Blick dafür, dass ihre Haut ein bisschen aussieht wie stumpfes Wachs. Weil sie nur ein Trugbild aus Energie sind. Um das zu erkennen, muss man allerdings schon ganz genau hinschauen. Siehst du’s?«
»Ich … ich bin mir nicht sicher.« Angestrengt musterte ich den Wärter oben auf der Galerie, der genauso gut eine lebensgroße und vor allem täuschend lebensechte Puppe hätte sein können, die zu Dekozwecken dort aufgestellt war. Verstohlen schaute ich mich um. Kein Einziger der anderen Besucher, die fleißig alles knipsten, was ihnen vor die Linse kam, richtete die Kamera nach oben. Und ein rotgesichtiger, kahlköpfiger Mann, der an uns vorbeiging, folgte Matts Blick, zog die grau gestromten Brauen zusammen und ging dann kopfschüttelnd weiter. Offenbar konnten nur wir diesen Wärter sehen und ich sah wieder zu ihm hinauf.
Plötzlich bewegte er sich. Ich fuhr zusammen, und dann gleich noch einmal, als er sich umdrehte, in die Stahlwand eintauchte wie in einen Pudding und darin verschwand.
Etwas kniff mich schmerzhaft in den Arm und ich schrie auf. Mehrere Touristen drehten sich erschrocken nach mir um.
»Glaubst du’s mir jetzt?« Matt grinste von einem Ohr zum anderen und löste seine Finger von meinem Arm.
»Du Blödmann«, fauchte ich und verpasste ihm einen Hieb gegen die Schulter, bevor ich ihn beim Ärmel packte. »Ich will hier weg!«
»Okay, okay.« Mit der anderen Hand machte Matt eine beschwichtigende Geste. »Wir werfen nur ganz kurz noch einen Blick in den Speisesaal, in Ordnung?«
Dort war es wärmer und durch die weißen Deckenbalken und Säulen auch heller. Das braune Linoleum auf dem Boden war großflächig abgeplatzt; auf der Seite mit den vergitterten Fenstern reihten sich zwischen den Säulen mit ihren hellgrünen Sockeln simple Sitzbänke aus Holz und Metall auf und überall illustrierten aufgezogene Schwarz-Weiß-Fotos den Alltag im Gefängnis. Ohne wirklich etwas davon in mich aufzunehmen, schaute ich mich um und wanderte zwischen den anderen Besuchern umher, deren Stimmen mich als ein murmelndes Brausen durch den Speisesaal umflossen. Wenigstens hatten meine Knie aufgehört zu zittern.
»Sag mal, Matt, glaubst du …«, setzte ich an und drehte den Kopf, aber Matt war nicht mehr neben mir. Ich entdeckte seinen roten Schopf am anderen Ende des Raums, vor der vergitterten Essensausgabe, wo er die schwarze Tafel mit dem aus Gefängniszeiten übrig gebliebenen Menüplan aus weißen Steckbuchstaben studierte. Ich überlegte noch, ob ich zu ihm gehen sollte, als mir Kälte über den Rücken kroch. Hastig sah ich mich um, entdeckte aber niemanden in meiner Nähe. Ein Kribbeln rann mir den Nacken hinauf und wie zum Schutz zog ich die Schultern hoch. Hinter meiner Stirn zog ein zäher Nebel auf und breitete sich aus, meine Lider wurden schwer wie kurz vor dem Einschlafen, und ich schüttelte ein paarmal locker den Kopf, um ihn wieder klar zu bekommen.
Mein Blick fiel auf einen Türrahmen auf der linken Seite, der mich magisch anzog. Mit einer dünnen Kordel war der Durchgang versperrt: Authorized Personnel Only stand auf dem Schild, das daran baumelte. Dahinter lag ein enges, extrem schäbig aussehendes Treppenhaus. Das Linoleum des Bodens war ebenso kaputt wie im Speisesaal, die Stufen der schmalen Treppe ausgetreten und die Farbe abgeblättert, genauso wie der weiße Anstrich der Tür auf der rechten Seite mit dem fleckigen Messingknauf.
Ich zuckte zurück, als ich den abgestandenen, modrigen Geruch einatmete, der das Treppenhaus erfüllte. Gerade war ich dabei, mich umzudrehen, als ich einen ganz anderen Duft wahrnahm, dem ich verwundert entgegenschnupperte. Zart zuerst, wurde er schnell intensiver, hüllte mich nach und nach ein, zog durch mich hindurch und füllte mich aus. Nach Meer roch es. Nach Sonne und Sand, wie ein Sommertag am Strand. Und darunter lag etwas Würzigeres wie Zimt, wie geriebene Mandeln und Kakao. Ein vertrauter Geruch war es, wenn es auch schon lange her war, dass ich ihn zuletzt gerochen hatte. Sehr lange.
Tränen schossen mir in die Augen. Mam.
Amber.
Mein Kinn zitterte, als ich ihre warme Stimme hörte. »Mam?«
Amber. Mit einem Schlag war alles wieder da. Ihr dunkles, samtiges Lachen. Wie sie die Arme um mich schlang und mich an sich drückte, wenn wir zusammen auf dem Sofa hockten. Wenn ich mich an sie schmiegte, während sie in der Küche Essen machte oder wenn sie mich wegen irgendwas tröstete. Wie es sich angefühlt hatte, wenn sie mir einen Kuss gab, morgens nach dem Aufstehen und abends vor dem Schlafengehen, wenn ich aus dem Haus ging und zurückkam oder einfach nur so. Erinnerungen an unzählige große und kleine Momente sprudelten in mir herauf und wirbelten herum, schön und schmerzhaft zugleich.
»Mam.« Ein Schluchzer nach dem anderen rutschte mir aus der Kehle. »Mam.«
Aus dem Augenwinkel sah ich eine Bewegung und schreckte zusammen. Der Türknauf drehte sich und klickte; mit einem leisen Knarren öffnete sich die Tür einen Spalt weit nach innen.
Mehr von diesem Duft wogte an mich heran und durchflutete mich vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen. Ich duckte mich unter der Kordel hindurch und ging auf die Tür zu. Vorsichtig schob ich sie weiter auf. Dahinter war es dunkel. »Mam?«
Amber.
Der Nachhall ihrer Stimme zog und zerrte an mir; die Sehnsucht nach ihr war so stark, dass sie mich beinahe zerriss. Meine Finger tasteten nach dem Lichtschalter; flackernd entzündete sich über mir eine nackte Glühbirne, die an einem Kabel schaukelte und eine steile Treppe beleuchtete, die nach unten führte. »Mam?«
Meine Stimme hallte von den Wänden wider.
Amber.
Stufe um Stufe ging ich hinunter und stützte mich dabei an einer Wand ab. Feuchtigkeit rann in glitzernden Tropfen über die nackte Mauer. »Mam?«
Sobald ich unter der Glühbirne durchgegangen war, schluckte mein Körper das Licht. Im Halbdunkel stieg ich die nächsten Stufen hinab, schließlich die vorletzte, die letzte, bis ich in einem engen Winkel stand. Auf der rechten Seite öffnete sich ein Gang, in dem ich nur schemenhaft lang gestreckte Wände und einen abschüssigen Boden erkennen konnte, die weiter hinten in Dunkelheit versanken. Ich zögerte, aber das Sehnen war übermächtig, und ich ging weiter. »Mam?«
Ich verlor das Gefühl für Raum und Zeit, für alles um mich herum und für mich selbst; alles in mir war nur noch Mams Duft und ihre Stimme, ihre Berührungen und ihre Nähe. Als würde ich von einem dicken, weichen Polster aus Erinnerung umhüllt und getragen.
Der Duft verschwand so plötzlich wie er gekommen war; plötzlich roch es muffig, geradezu faulig, und mit einem Schlag war ich hellwach. Als hätte ich zuvor geschlafen.
Es knisterte und rauschte; dann zuckte der schwache Lichtschein und verlosch.