67
Ein zarter Hauch von lavendelgrauem und rauchblauem Licht füllte die Eingangshalle, während ich mich langsam wieder anzog. Draußen musste es noch immer neblig sein, ein trüber Morgen, dieser erste Morgen des Monats November. Aber in mir schien eine kleine Sonne, die mich bis in die Fingerspitzen und Zehen durchwärmte und die so stark war, dass sie keine Wolken am Horizont aufkommen ließ. Schon gar nicht den Gedanken, dass ein ganzes Jahr verstreichen würde, bis Nathaniel und ich uns wieder so nahe sein könnten.
Ich schloss die Augen, als seine Hände wie eine sanfte Meeresbrise über meine Wangen strichen und meine zerrauften Haare aufflattern ließen, und lächelte, als ich die kleinen, kitzelnden Luftwirbel seiner Küsse auf meiner Haut spürte.
»Darf ich heute Nacht zu dir kommen?«, murmelte er gegen meine Schläfe.
»Jede Nacht, wenn du willst«, wisperte ich. »Das weißt du doch.«
Ich spürte, wie er sich von mir löste, und öffnete die Augen wieder. Lange sahen wir uns an, und ich vermutete, ich hatte ein ganz ähnliches Lächeln auf dem Gesicht wie Nathaniel, glücklich und ein bisschen traurig und trotzdem voller Hoffnung.
»Ich muss gehen«, flüsterte ich, und er nickte. Ich streifte meine Strümpfe über, dann die Mary-Janes, und schloss die Schnallen, bevor ich aufstand, in meinen Mantel schlüpfte und zu meinem Rucksack griff.
»Bis heute Nacht«, sagte Nathaniel leise und erhob sich geschmeidig und geräuschlos.
»Bis heute Nacht«, wiederholte ich und strich mit meinem Mund sanft über seine Wange, bevor ich mich gewaltsam von ihm losriss und ging.
Draußen legte sich die dicke, feuchte Nebelluft kühl auf meine erhitzte Haut, und kühl und feucht war das Gras, das die Spitzen meiner Schuhe und die Säume meiner Jeans durchtränkte.
Als ich das schmiedeeiserne Tor hinter mir zuzog, blickte ich unwillkürlich noch einmal zum Haus zurück. An einem der Fenster im oberen Stockwerk entdeckte ich Nathaniel und mein Herz machte einen Satz. Er hob die Hand und mit einem Strahlen auf dem Gesicht winkte ich zurück. Nur widerstrebend drehte ich mich um und überquerte die Straße; alle paar meiner langsamen Schritte warf ich einen Blick zurück, bis der Nebel mir die Sicht auf Nathaniel trübte, bis die Backsteinkirche der Christian Science und die ersten Häuser entlang der California Street den Blick zurück verstellten.
Mit einem tiefen Ausatmen und einem Flattern im Bauch schritt ich fester unter dem Geklapper meiner Absätze aus, das ab und zu unter Motorengeräusch und Reifen auf dem Asphalt unterging, wenn ein Auto an mir vorüberfuhr.
Bei jedem Schritt spürte ich ein Pulsieren in mir, das mir wie ein Echo der letzten Nacht vorkam. Leicht waren meine Schritte, noch leichter als auf meinem Weg zu Nathaniel gestern Abend, als ob ich kaum mehr die Platten auf dem Gehweg unter mir berührte. Ein bisschen unsicher waren meine Bewegungen, als wäre mir mein eigener Körper plötzlich fremd geworden. Wie die ersten Schritte in einer neuen Welt, dachte ich, und als mir im nächsten Augenblick schwummrig wurde, blieb ich kurz stehen und schloss die Augen.
Als ich sie wieder öffnete, stockte mir der Atem. Ich befand mich tatsächlich in einer neuen, einer fremden Welt. Vor mir, links und rechts neben mir, und als ich mich hastig umwandte, auch hinter mir, sah ich nichts, was mir bekannt vorkam. Die modernen Gebäude, die mir nach und nach vertraut geworden waren, der Bioladen und die Tiefgarage auf der rechten Seite, waren nicht mehr da, genauso wenig wie weiter vorne, auf der anderen Seite der Van Ness Avenue, der Starbucks an der Ecke und gegenüber das große Matratzengeschäft. Hilflos drehte ich mich um meine eigene Achse, um irgendein Haus, einen Laden, ein Schild zu entdecken, das mir einen Anhaltspunkt gab, wo ich mich in etwa befand. Doch wohin ich auch schaute – überall sah ich nur großzügige und prächtige Villen, mit steinernen Bordüren und Ornamenten, Türmchen, Giebeln und Säulen oft nicht nur verschwenderisch, sondern sogar überladen verziert, von gepflegtem Rasen, von gestutzten Sträuchern, sorgfältig geplanten Blumenbeeten und noch jungen Bäumen umgeben, und manchmal noch durch einen kunstvollen Eisenzaun abgeschirmt. Keine dicht an dicht gebauten Häuserzeilen, keine Hochhäuser – nur diese einzelnen protzigen Villen, von denen manche mit ihren luxuriösen Aufbauten und ihrem zwar kunstvollen, aber gleichzeitig übertriebenen Dekor aus Stein im Nebel aussahen wie einem Schauerroman entsprungen. Und auch die Straße, auf der vorhin noch Autos gefahren waren, war plötzlich wie leer gefegt.
Erleichtert schluchzte ich auf, als das Rattern der Stahlseile unter den Schienen der Cable Cars zu mir durchdrang und sich gleich darauf auch das Bimmeln der Glocke durch den Nebel auf mich zubewegte. Und als ich auf der anderen Straßenseite eine Frau entlanggehen sah, zögerte ich nicht lange.
»Entschuldigung«, rief ich zu ihr hinüber, sprang über den Bordstein auf die Straße und lief auf sie zu. »Entschuldigen Sie bitte!« Sie reagierte nicht; sie ging einfach weiter in ihrem tollen Halloweenkostüm aus langem, schmalem Rock in einem satten Bordeauxrot, unter dem weiße Rüschensäume hervorblitzten, einer eng geschnittenen Jacke und einem eleganten kleinen Hut auf der Hochsteckfrisur; Handschuhe und ein besticktes Täschchen über ihrem Arm vervollständigten das Partyoutfit. »Hallo! Könnten Sie mir bitte sagen …«
Noch bevor ich die andere Straßenseite erreicht hatte, ließen mich ein dumpfes, dröhnendes Stampfen und ein metallisches Knirschen herumfahren. Gelähmt vor Entsetzen starrte ich die geschlossene Kutsche mit den beiden Pferden an, die bergab auf mich zuraste. Meine Knie zuckten, aber ich konnte mich nicht von der Stelle rühren. Es wäre ohnehin zu spät gewesen. Ich sah schon die flatternden Mähnen der beiden Pferde, das Weiße in ihren Augen und die konzentrierte Miene des Kutschers, dessen Umhang hinter ihm herflatterte. Ich konnte nur noch die Hände vor das Gesicht schlagen und hoffen, dass es gleich vorbei sein würde. Ein heftiger Luftzug, der nach Tier roch, nach Eisen und Holz, packte mich und schoss durch mich hindurch, und ich schrie auf.
Hinter mir kreischte eine Bremse, brüllte eine Hupe; ich schrak zusammen und ließ die Hände fallen.
»Hey, Mädchen!« Ein Autofahrer in einem langen braungoldenen Schlitten hatte neben mir angehalten und das Fenster heruntergekurbelt. Mitfühlend sah er mich an. »Alles in Ordnung bei dir?«
Ich blinzelte ihn verwirrt an, dann den Fahrer des blauen Pick-ups nur wenige Schritte vor mir, der meinetwegen eine Vollbremsung hingelegt hatte und mich wütend durch die Windschutzscheibe hindurch anstarrte, bevor er noch einmal kräftig auf die Hupe drückte. Mein Blick wanderte verunsichert über die Hausfassaden, und meine Knie gaben beinahe nach vor Erleichterung, als ich den Bioladen erkannte. Ich wirbelte herum, sah und hörte den Verkehr vorne auf der breiten Van Ness hin- und herbrausen und erkannte dahinter den weißen Schriftzug von Starbucks auf grünem Untergrund.
»Ja«, rutschte es mir schnell heraus. »Ja, alles in Ordnung. – Sorry«, fügte ich hastig hinzu und stolperte mit unsicheren Schritten über die Straße und auf den Bürgersteig hinauf. Der Motor des blauen Pick-ups heulte auf und mit quietschenden Reifen raste der Wagen an mir vorbei.
»Bisschen viel gefeiert, was?!«, rief mir der andere Autofahrer lachend nach, während er langsam Gas gab. »Schlaf dich erst mal aus! Und pass auf dich auf!«
Ich hatte ihm kaum zugehört; die Arme fest um mich geschlungen, stand ich mit zitternden Knien auf dem Gehweg und starrte vor mich hin. Während in mir die Ahnung heraufdämmerte, dass etwas mit mir ganz und gar nicht in Ordnung war.