75
Als ob ich vor Gericht stand, so kam es mir vor, wie die vier mir gegenübersaßen. Und sie hatten jedes Recht, mich anzuklagen und zu verurteilen.
Nie hatte ich Amber wehtun wollen, nichts lag mir ferner, als ihr Schaden zuzufügen – und nun hatte ich es doch getan. Auf die schlimmste nur denkbare Weise. Ich hatte sie zu mir gelockt, ich hatte sie verführt, und nun war ihr Dasein als menschliches Wesen in Gefahr, womöglich gar ihre unsterbliche Seele.
Dass es ausgerechnet Shane war, der das Urteil über mich verkündete, traf mich am meisten. Shane, der im wahrsten Sinne des Wortes all das verkörperte, was ich nicht war und auch niemals sein konnte. Der in so vielen Dingen eine bessere Wahl war als ich. Und der Amber noch dazu nicht nur begehrte, sondern sie auch zu lieben begann; das konnte ich in seinen Augen lesen, wenn er sie anschaute.
Was auch immer ich zu Lebzeiten gewesen war, was ich auch getan hatte, so zornig ich danach auch lange gewesen war – Amber hatte ich nie etwas Böses gewollt, dessen war ich mir immer sicher gewesen. Aber allmählich begann ich an mir zu zweifeln; ich konnte mir selbst nicht mehr trauen.
Da waren die Momente gewesen, in denen ich davon träumte, sie würde zu meinesgleichen, ohne die Hindernisse, die Schranken, die uns unsere verschiedenen Gestalten und Kräfte setzten. Ohne die Zeit, die uns irgendwann zum Feind werden würde, weil sie ihr unterworfen war und ich nicht. Obwohl gerade ich doch wissen müsste, dass man dieses Schicksal niemandem wünscht, den man wirklich liebt. Schon gar nicht jemandem, der ein solches Schicksal so wenig verdiente wie Amber. Und genauso falsch war es von mir gewesen, in anderen Momenten davon zu träumen, vielleicht durch eine unerwartete Gnade wieder menschliche Gestalt anzunehmen, einen lebendigen, atmenden, pulsieren Körper zu erlangen. Das verdiente ich wiederum nicht; das war die Strafe für mein früheres Leben. Auf keinen Fall wollte ich Amber mit in diesen Abgrund reißen. Doch ich wusste nicht, wie ich das hätte verhindern können.
»Ich kann nicht auf die andere Seite«, erwiderte ich heiser.
Ich sah, wie die anderen verstohlene Blicke wechselten.
»Du musst bereuen, was du verbrochen hast«, kam es schneidend von Matt. Matt, mit dem ich am wenigsten zurechtkam, ebenso wenig wie er mit mir. Wir hatten es versucht, Amber zuliebe, aber es ging einfach nicht. Vielleicht weil er der Nüchternste von ihnen war, der mit dem schärfsten Verstand, und weil er sich nicht von Gefühlen blenden ließ. Erst jetzt dachte ich, dass er vielleicht von Anfang an recht gehabt hatte mit seinem Misstrauen; wären wir uns unter anderen Umständen begegnet, hätten wir uns vielleicht ganz gut vertragen.
»Ich wünschte, ich könnte bereuen«, brachte ich mühselig hervor. »Aber ich kann mich an nichts erinnern. Ich weiß nicht, was ich verbrochen haben könnte.«
Im Flüsterton wiederholte Abby meine Worte für Holly. Unwillkürlich hob sich einer meiner Mundwinkel. Abby, die so kratzbürstig sein konnte und doch im Grunde so sanft und lieb war. Bei der ich immer das Bedürfnis hatte, sie beschützen zu müssen wie ein großer Bruder seine kleine Schwester.
Hollys braune Augen richteten sich auf mich, ganz offen, obwohl sie mich weder sehen noch hören konnte. Was ich sehr bedauerte; ich mochte, dass Holly so bunt war und so lebhaft, und ich mochte ihr warmherziges, großzügiges Wesen. Ich hätte sie gern besser kennengelernt.
»Wir haben uns überlegt«, erwiderte sie leise, »ob Amber dir nicht dabei helfen kann, dich zu erinnern. Offenbar hat sich für sie über dieses Band zwischen euch eine Tür zur Vergangenheit geöffnet, vielleicht sogar zu deiner Vergangenheit. Vielleicht ist es möglich, dass dadurch deine Erinnerung zurückkommt. Einen Versuch wäre es wert.«
Ich starrte vor mich hin. Wenn ich an mein früheres Leben dachte, blickte ich in einen dichten grauen Nebel. Aber wenn ich ehrlich war, ahnte ich, dass darunter ein tiefer, finsterer Abgrund klaffte, der mich das Fürchten lehrte. Woher sollte ich den Mut nehmen, mich dort hineinfallen zu lassen, nachdem ich es weit über hundert Jahre nicht geschafft hatte?
Ich hielt die Antwort in meiner Hand. Mit Ambers Fingern, die meine umfassten.
Holly hatte recht: Es konnte kein gutes Ende nehmen. Vor allem für Amber nicht, aber auch für mich nicht. Die Schmerzen, die mich quälten, waren nur der Anfang gewesen; ich hatte mich zu verändern begonnen. Als ob mich diese Attacken aus der Tiefe meines Seins langsam auffraßen und aushöhlten, so fühlte es sich an. Als hätte diese Nacht mich alle Energie gekostet, die mir noch geblieben war. Und ich erriet, dass ich dabei war, zu einem dieser formlosen, schillernden Nebel zu werden, die ich selbst fürchtete. Die Zeit, die mir bis dahin noch blieb, durfte ich nicht ungenutzt verstreichen lassen. Den Gedanken, Amber bald schon auf immer zu verlieren, konnte ich nicht ertragen, aber mir blieb wohl keine andere Wahl.
Nacheinander sah ich sie an. Matt. Holly. Abby. Shane. Wenn ich schon gehen musste, so würde ich Amber wenigstens nicht allein zurücklassen. Sie hatte Freunde, die diese Bezeichnung wahrhaftig verdienten, Freunde, wie ich sie auch gern gehabt hätte. Und Shane, mit dem sie sicher ein neues Glück finden würde.
Ich wünschte mir so sehr, an seiner Stelle sein zu können.
Und dass ich bei meinem Funny Girl bleiben könnte.