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Dr. Katz schlug das rechte Bein über das linke, stützte den Ellenbogen auf die Sessellehne und sah mich aufmerksam an, zwei Finger an ihre Wange gelegt. »Warum denkst du, ich würde dich in die Klapse, wie du es nennst, stecken?«

Meine Augen klebten an der Schulter ihrer Seidenbluse fest, auf der sich psychedelische Wirbel in Lila, Orange und Rot umeinanderwanden. Sieben Sitzungen hatte ich bisher mit ihr verbracht und jedes Mal hatte sie eine andere solche bunt bis schrill gemusterte Bluse zu Jeans und mörderischen High Heels angehabt. Jede Woche kam ich zweimal direkt nach der Schule hierher, montags um fünf und donnerstags um vier, und blätterte mich im Vorraum durch die Ausgaben von Vogue und InStyle, bis sie die Tür zu ihrem Zimmer öffnete und mich hereinbat. Für fünfzig Minuten auf ihrem blauen Sessel, in denen ich sehr viel schwieg und unter dem Ticken der goldenen Uhr auf das Bücherregal starrte. Erst seit letzter Woche hatte ich angefangen, ein paar vage Andeutungen zu machen. Vielleicht weil sie mich nie ausfragte, sondern fast unbeweglich und ohne Mimik in ihrem Sessel saß wie eine Sphinx. Manchmal vergaß ich sogar, dass sie da war, bis mich das Übereinanderschlagen ihrer Beine und das Kritzeln ihres Kulis auf dem Papier des Klemmbretts daran erinnerte.

»Weil ich«, flüsterte ich jetzt heiser und tippte mir an die Schläfe, »nicht ganz dicht bin.«

»Wie kommst du darauf, dass du nicht ganz dicht sein könntest?«

Ich verdrehte die Augen; es ging mir tierisch auf die Nerven, dass sie immer meine eigenen Worte wiederholte, wenn sie eine Frage an mich richtete. »Weil es eben so ist.« Ich senkte den Kopf und drehte den Saum meiner Bluse zwischen den Fingern. »Nicht normal«, setzte ich so leise hinzu, dass ich meine Stimme selbst kaum mehr hörte.

Dr. Katz schwieg einige Augenblicke, bevor sie sanft sagte: »Es ist auch nicht normal, in deinem Alter mitzuerleben, wie die Mutter an einem Hirntumor stirbt.«

Meine Lider flatterten und meine Finger verkrampften sich um den Stoff meiner Bluse. »Ich bilde mir Dinge ein«, rutschte es mir einfach so heraus.

»Was für Dinge bildest du dir denn ein?«

Ich schluckte. Als ich gestern nach dem Unterricht meine Sachen aus dem Schließfach geholt und mich umgedreht hatte, war neben der Toilette wieder dieser Junge mit den stoppelkurzen Haaren und den veilchenblauen Augen gestanden. Ich hatte ihn angestarrt, und er hatte zurückgestarrt, bis er sich abrupt umwandte, einfach in die rot lackierte Fläche der geschlossenen Tür eintauchte und darin verschwand.

Meine ausgestreckten Beine zuckten und ich schlang hastig die Arme um mich; ich fror plötzlich.

»Dinge, die … die nicht … real sind.« Nathaniel. Mein Magen krampfte sich zusammen.

»Wie kann etwas, das dir offenbar solche Angst einjagt, nicht real sein?«

Verblüfft sah ich Dr. Katz an. »Wie meinen Sie das?«

Ein feines Lächeln zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. »Unsere Zeit ist für heute um. Wir sehen uns am Montag wieder.«

Unten stand ich noch einige Augenblicke auf der Straße, blinzelte in die Aprilsonne und beobachtete die Autos, die die Straße hinauf- und hinabsausten.

Von Dr. Katz war es ein gutes Stück zu Fuß bis in die Sacramento Street, aber mir machte das nichts aus. Ich mochte es, die Straße entlangzulaufen, die steile California hinauf, vorbei am Fairmont Hotel, diesem klotzigen Kasten à la Monte Carlo mit seinen unzähligen bunten Länderflaggen über dem Eingang. Vorbei am winzigen Huntington Park mit seinen symmetrischen Wegen und wie aus einem Bastelbogen ausgeschnittenen Rasenflächen und der Grace Cathedral, einer pseudo-gotischen Kopie von Notre-Dame in Paris. Dahinter bog ich rechts ab und danach wieder links, dann war ich auch schon in unserem Stück der Sacramento. Manchmal zog ich in Chico’s Market noch mit meiner Kreditkarte Geld aus dem Automaten und besorgte Gemüse für das Abendessen oder holte bei Dewey unsere Wäsche und Teds gebügelte und in Klarsichtfolie verpackte Hemden ab. Ted bedankte sich jedes Mal überschwänglich dafür, sobald er nach Hause kam, aber ich hielt es für das Mindeste, wenn er schon jede Nacht an meinem Bett Wache halten musste.

Wie kann etwas, das dir offenbar solche Angst einjagt, nicht real sein? Die Frage von Dr. Katz ging mir nicht aus dem Kopf. Unwillkürlich ging ich langsamer und blieb schließlich stehen. Ich wollte noch nicht in die Wohnung und einfach zum normalen Tagesablauf zurückkehren, mit Hausaufgaben, Abendessen, noch ein bisschen Lernen, Surfen, Lesen oder Fernsehen.

Stattdessen starrte ich den gewaltigen Bau der Kathedrale vor mir an, mit ihren oben abgeflachten Zwillingstürmen, den schlanken Fenstern und spitzen Giebeln und der Rosette über dem Portal. Ted hatte mir erzählt, dass sie noch relativ neu war, erst irgendwann in den Sechzigerjahren fertiggestellt, nachdem ihre Vorgängerin im Großen Beben komplett zerstört worden war. Und trotzdem wirkte sie uralt, wie aus weit entfernten Jahrhunderten übrig geblieben. Ein Fremdkörper, der aus dem Fluss der Zeit herausgefallen war; etwas, das mir irgendwie bekannt vorkam, und vielleicht war das der Grund, warum ich die breiten Betonstufen hinaufstieg.

Hinter der Holztür erwartete mich die für große Kirchen so typische Mischung aus feierlicher Stille und den hallend vervielfachten Geräuschen von Schritten, Kleidergeraschel, Hüsteln und dem Klicken von Kameras. Ich legte den Kopf in den Nacken und bestaunte die schlanken Pfeiler, die Spitzbögen und die Querrippen des Kirchenschiffs.

Die schlichten, geradlinigen Kirchenbänke waren fast komplett leer; nur auf der rechten Seite konnte ich einen dunklen Kapuzenpulli erkennen. Und einen hochgegelten Haarschopf in leuchtendem Rot.

Abrupt blieb ich stehen und schlich dann neugierig näher, bis ich ungefähr auf gleicher Höhe war. Es war tatsächlich Matt Chang, der in der Kirchenbank hockte, sein Totenkopftuch um den Hals und die Hände in den Taschen seines Hoodies. Verlegen wollte ich mich schon umdrehen, da fuhr sein Kopf herum und wir sahen uns in die Augen.

Seit wir uns im China Bazaar über den Weg gelaufen waren, grüßten wir uns zwar kurz vor der Geschichtsstunde und nickten uns zum Abschied zu, hatten sonst aber kein Wort mehr miteinander gewechselt; irgendwie stand eine dicke Mauer der Befangenheit zwischen uns. Bestimmt hatte er meine Aktion in diesem Asia-Kitsch-und-Kram-Laden doof gefunden oder er mochte mich ganz einfach nicht.

Jetzt jedoch zuckte so was wie ein Lächeln in seinem Gesicht auf und er rutschte einladend zur Seite.

»Hi«, flüsterte ich, als ich meinen Rucksack abnahm und mich neben ihn auf das blaue Polster setzte. »Du warst gestern nicht in Geschichte.«

»War entschuldigt. Hatte einen Termin.« Er starrte in Richtung des Altars, einem schlichten Steinquader mit Holzplatte.

Unsicher knibbelte ich am Griff meines Rucksacks herum. »Kommst du öfter hierher?« Die so ziemlich dümmste Frage in einer Situation wie dieser.

»Ab und zu.«

»Hätte ich gar nicht gedacht.« Super. Auch nicht wesentlich intelligenter.

Er warf mir einen kurzen Seitenblick zu. »Wer weiß schon wirklich was über seine Mitmenschen.« Dann verzog er seinen Mund zu einem halben Grinsen und fuhr sich durch seinen Goatee. »Ich hätte auch nicht gedacht, dass ich dir mal ein Alibi liefern müsste.« Meine Wangen wurden heiß und ich knibbelte heftiger an meinem Rucksack herum. »Hast du einen Freund, von dem dein Dad nichts wissen darf?«

Ich dachte an Nathaniel; Gänsehaut kroch über meinen Rücken und mein Magen geriet in Schieflage. »Da … da gab es jemanden. Hat sich aber erledigt.«

»Sorry.«

Ich zuckte mit den Schultern und warf mir mit einer schnellen Kopfbewegung die Haare über die Schulter. »Jobbst du in dem Laden?«

»Öh.« Er kraulte sich heftiger das bisschen Bart unter seinem Kinn. »Ähm, na ja, sozusagen.«

Ich hatte gerade den Mund geöffnet, um ihn noch etwas zu fragen, als plötzlich über mir helle, irisierende Leuchtfunken aufsprühten und umhertanzten. Geisterlichter. Ich quiekte auf und duckte mich; mein Herz hämmerte vor Panik schmerzhaft gegen die Rippen und mir wurde übel. Geister. Hier!

»Ist okay.« Hart schlossen sich Matts dünne Finger um meinen zitternden Unterarm. »Hey, ist okay. Das ist nur ganz normales Licht.« Ängstlich blickte ich mich um. »Schau«, mit der anderen Hand deutete er an das Gewölbe hinauf, dann zu den Buntglasfenstern, durch die Sonnenstrahlen hereinfielen und bunte Lichtflecken auf die Säulen und Wände tupften. »Nur Sonnenlicht. Nichts …« Seine Brauen zogen sich zusammen, als er mir ins Gesicht schaute, und er setzte tonlos hinzu: »Nichts, wovor du Angst haben musst.«

Ich nickte und kam langsam wieder hoch. Er ließ meinen Arm los und vergrub die Hände in den Taschen seines Kapuzenpullis. Immer wieder streifte mich ein Seitenblick von ihm. Klasse. Ich hatte mich soeben als totaler Psycho geoutet.

»Ich muss gehen« wisperte ich, grapschte mir meinen Rucksack und stand mit wackligen Knien auf.

»Warte!« Matt sprang hoch, und als irgendwo jemand missbilligend zischte, fuhr er leiser fort: »Warte doch mal.« Seine Hände bewegten sich unruhig in seinem Hoodie hin und her. »Kann … kann ich vielleicht deine Nummer haben? Und hast … äh … hast du vielleicht Lust …« Er räusperte sich. »Magst du vielleicht irgendwann nach der Schule mit mir einen Kaffee trinken gehen? Morgen oder so?«