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Wie Milchsuppe hing der Nebel über der Bay. Warm in meine Winterjacke eingepackt, saß ich auf einer der Holzbänke und blickte auf das Wasser. Auf die braune Insel von Yerba Buena, die hinter dem dicken Dunstschleier schemenhaft zu erkennen war, und hinüber zur silbernen Bay Bridge mit ihren beiden Ebenen, auf denen die Folge der Autos und Trucks in beide Richtungen niemals abzureißen schien. Eine Weile schaute ich einer der Möwen zu, die irgendwo eine große Krabbe aufgesammelt hatte und nun versuchte, sie mit dem Schnabel aufzuhacken oder sie auf den Asphalt zu werfen, um sie so zu knacken. Bis sie schließlich aufgab und mit einem empörten Schrei aufflog.

Ich wandte den Kopf und sah Nathaniel an. Wie er neben mir im kalten Wind saß, nur in seinem am Kragen offen stehenden, dünnen Hemd, fror es mich nur schon vom Hinsehen. Seine Hände um die Sitzfläche der Bank geklammert, stierte er mit leerem Blick vor sich hin.

»Es tut mir leid«, raunte er, ohne mich dabei anzusehen.

Ich kaute auf meiner Unterlippe herum und vergrub meine kalten Finger tiefer in den Jackentaschen. Jeden Nachmittag nach der Schule waren wir losgezogen, um mit dem Cable Car oder dem Bus kreuz und quer durch die Stadt zu fahren, irgendwo auszusteigen und dann bergauf und bergab zu laufen, immer auf der Suche nach einem Ort, einem Straßennamen, einem Haus oder auch nur einer Aussicht, an die Nathaniel sich erinnerte. Nur er und ich, darum hatte er gebeten, was ich gut verstehen konnte, denn schließlich betraf es auch nur uns beide. Und sobald mir unterwegs schwindelig wurde und ich in die Vergangenheit abdriftete, versuchte ich, Nathaniel so genau wie möglich zu beschreiben, was ich sah. Mir war es längst egal, wenn ich wieder zu mir kam und die irritierten bis belustigten Blicke der Passanten wahrnahm, weil ich geistesabwesend herumstand und scheinbar Selbstgespräche führte; sollten sie mich doch für verrückt halten. In einer Stadt wie San Francisco liefen genug schräge Gestalten herum. Da gab es diese schmale Frau mit dem braun gebrannten, wettergegerbten Gesicht und den sonnengebleichten Haaren, die immer mal wieder die Sutter Street hinaufmarschierte, bei Wind und Wetter in Jeans und Karohemd, barfuß und ihre Espadrilles in der Hand, und dabei mit rauer Stimme lautstark Gott, die Menschen und die ganze Welt verfluchte. Oder den schwarzen Jungen, der ab und zu mit glasigem Blick dort herumtänzelte, das Gesicht mit weißer Schminke angemalt und die kurz geschnitten Haare dottergelb gefärbt. Wer wusste denn schon, in was für Welten die zwei lebten, Welten, die für die meisten Leute ganz einfach nicht existierten, während sie für diese beiden greifbare Wirklichkeit waren. So wie die Welt der Geister für mich.

»Erinnerst du dich denn an gar nichts?«, fragte ich dann behutsam, bemüht, nicht allzu enttäuscht oder gar ungeduldig zu klingen.

»Es tut mir leid«, wiederholte er dürr, beinahe störrisch.

Vielleicht brauchte Nathaniel mehr Zeit, hatte ich mir überlegt, mehr Zeit als die wenigen Stunden nach Schulschluss und bevor ich in die Sacramento Street zurückmusste. Zeit, die uns langsam knapp wurde; nach unseren Streifzügen durch die Stadt war ich jedes Mal so erschöpft, dass ich fürchtete, irgendwo auf dem Weg nach Nob Hill zusammenzuklappen und nicht wieder auf die Beine zu kommen. Deshalb hatte ich heute einfach die Schule geschwänzt und war mit Nathaniel hierhergefahren, ans Ende der Market Street mit den glänzenden Fassaden der Banken, teuren Hotels und großen Firmen, um jenseits des stylishen Embarcadero-Komplexes mit der modernen Skulptur auf dem gepflegten Rasen und hinter dem Ferry Building mit seinen grauen Arkaden und dem schlanken weißen Turm am Wasser zu sitzen. Denn dass Nathaniel früher gern am Ufer der Bay gewesen war, daran erinnerte er sich noch.

»Ich habe Angst«, hörte ich ihn dann flüstern.

»Ich auch«, wisperte ich. »Schreckliche Angst.« Ich zog ein Knie zu mir herauf, rutschte auf der Bank herum und legte die Arme um seine nebelhafte Gestalt. »Weißt du noch, an dem Tag auf Alcatraz? Als ich auf diesem Sims stand und vor lauter Angst keinen noch so kleinen Schritt machen konnte?« Ohne den Blick vom Wasser zu lösen, nickte er. »Du hast die Arme um mich gelegt, mir fest in die Augen gesehen und mir gesagt, dass ich das kann. Dass ich das schaffe. Und ich hab es geschafft. Weil du bei mir warst. Und jetzt … jetzt bin ich bei dir.«

»Ich will nicht ohne dich sein«, kam es so leise von ihm, dass seine Worte beinahe vom Wind davongeblasen wurden.

Mein Magen krampfte sich zusammen, und meine Stimme klang mir selbst belegt in den Ohren, als ich erwiderte: »Ich auch nicht ohne dich. Aber wir werden uns so oder so verlieren. Wir … wir haben einfach keine Chance.« Ich schluckte und brauchte ein paar Sekunden, bis ich weitersprechen konnte. »Die einzige Chance, die uns noch bleibt, ist die, das wieder in Ordnung zu bringen, was wir angerichtet haben. Damit du deinen Frieden finden und auf die andere Seite gehen kannst. Und damit ich … vielleicht …« Ich brachte es nicht heraus. Damit ich vielleicht nicht noch weiter an Kraft verlor, bis mein Körper mir den Dienst versagte und ich sterben würde.

Ich sah ihm an, wie es in ihm arbeitete; sein ganzes Gesicht war in Bewegung und spannte sich dann an.

»Vertraust du mir?«, flüsterte ich.

Er zögerte, dann nickte er und umklammerte meinen Arm mit beiden Händen. Ein kühler Luftstrom drang durch meine Jacke und den Rolli hindurch bis auf meine Haut und ließ mich noch mehr frösteln. Als ob er tief ein- und wieder ausatmete, hob und senkte sich Nathaniels Brustkorb, wie vor einem Sprung in tiefes Wasser; er schloss die Augen und ich tat es ihm gleich.

Leise glucksten und rauschten die Wellen in der Bay gegen die Betonmauer vor uns; der Wind pfiff mir in den Ohren, sobald er auffrischte, und über mir kreischten die Möwen. Langsam, langsam dimmte sich die Geräuschkulisse herunter; hinter meinen Schläfen prickelte es und das Knirschen von Eisenrädern durch sandigen Boden drang zu mir hindurch.

Nathaniel! Die schrille Frauenstimme mit dem schweren, rollenden Akzent ließ mich zusammenzucken. Nathaniel! Ich war noch nicht fertig mit dir! Ich stand vor einer krummen Reihe von Holzhäuschen, so klein und schief zusammengezimmert, dass sie nicht mehr als einfache Hütten waren. Dahinter drängten sich weitere solche Häuschen aneinander, alle auf nacktem braunem Grund ohne das kleinste bisschen Grün; bei Regen verwandelte sich die Gegend sicher in eine einzige Schlammlandschaft. Die Tür eines der Häuschen flog auf und ein Junge in kurzer Hose und klobigen Schuhen rannte heraus. Zehn war er vielleicht, oder elf, und eine seiner Wangen glühte. Nathaniel! Im Türrahmen erschien eine Frau, das Gesicht unter dem simplen grau gesträhnten Haarknoten müde und verhärmt, aber auch zornesrot; über ihrem langärmligen Kleid trug sie eine schwarze Schürze, auf der einzelne weiße Fädchen hafteten. Wart nur, bis dein Vater nach Hause kommt! Dann kannst du was erleben! Der Junge rannte einfach weiter, mit fliegenden dunklen Locken, blitzenden grünen Augen und einem grimmigen Ausdruck auf dem Gesicht. Auf Höhe der Brust war sein staubverschmiertes Hemd ausgebeult; er hielt darin etwas versteckt, das er fest an sich presste. Ich folgte ihm über den braunen, trockenen Boden zwischen den Häusern, bis zu einer Lücke zwischen zwei der schiefen Hauswände aus Holzlatten, in die er sich schnaufend quetschte und auf sein Hinterteil fallen ließ. Er wartete nicht erst, bis er wieder Atem geholt hatte, sondern zog gleich seine Beute aus dem Hemd hervor: einen halben Laib Brot, in den er gierig die Zähne schlug.

Es berührte mich, Nathaniel als kleinen Jungen zu sehen; irgendwie gefiel es mir, dass er ein solcher Frechdachs gewesen war, und ich gluckste in mich hinein.

»Das war kein bisschen lustig«, brummte Nathaniel, aber ich konnte förmlich hören, wie es dabei um seinen Mund zuckte. »Das Brot hätte das Abendessen für uns alle sein sollen und ich habe am Abend von meinem Vater tüchtig Prügel dafür bezogen.« Ernst klang er, als er hinzufügte: »Wir sind nicht verhungert, aber mir hat dennoch immer der Magen geknurrt. Es war einfach nie genug für uns alle da, obwohl Pa im Hafen schuftete und Ma mit Näharbeiten was dazuverdiente.«

Wie zum Trost schmiegte ich mich enger an ihn und blinzelte über seine Schulter hinweg in den Nebel hinein, bis mich das nächste Schwindelgefühl überfiel.

Ich stand im dämmrigen Licht eines Holzschuppens und schaute durch das weit geöffnete Tor hinaus. Vor dem Backsteinbau auf der linken Seite waren auf einem Steg über viele Meter hinweg Baumstämme aufgestapelt; rechts drängten sich Holzhäuser aneinander, die mich ein bisschen an das Szenenbild eines Westernfilms erinnerten, und neugierig trat ich vor das Tor.

Vor mir erstreckte sich ein Kai ins Wasser, an dem zu beiden Seiten große Dreimaster, kleinere Lastkähne und einfache Boote vertäut waren. Dahinter kreuzten auf den sanft gekräuselten Wellen weitere Segelschiffe und zwei Schaufelraddampfer, die aus ihren dünnen Schornsteinen Rauchfähnchen zum Himmel hinaufpusteten. Nach Qualm und Ruß roch es hier, nach feuchtem Eisen und frischer Farbe und ein bisschen nach Meer. Lastkarren standen bereit und Männer eilten geschäftig hin und her. Einer davon, bullig und rotgesichtig, ein Rest von blondem Flaum auf dem sonst kahlen Kopf und die Ärmel seines gestreiften Hemdes hochgekrempelt, marschierte energisch an mir vorbei.

O’Reilly! He, O’Reilly! Hast du Bohnen in den Ohren?! Ich wandte den Kopf, und mein Herz zuckte auf, als ich Nathaniel sah, der gerade einen prallvollen Sack von einem Lastkarren herunterhievte. Schnaufend setzte er ihn ab und fuhr sich mit dem Unterarm über die schweißnasse Stirn. Sorry, Sir. Sein Gesicht war noch jungenhaft weich, er konnte nicht viel älter als dreizehn oder vierzehn sein, wirkte aber schon stärker, erwachsener. Er trug nur eine lange Hose und feste Schuhe und arbeitete mit nacktem Oberkörper; unter seiner Haut zeichneten sich die starken Knochen und festen Muskeln ab. Wieso bist du da immer noch dran? Hinten wartet noch eine Fuhre auf dich, also beeil dich mal lieber, sonst zieh ich’s dir vom Lohn ab! Nathaniel biss die Zähne zusammen und quetschte ein kurzes Jawohl, Sir! dahinter hervor, bevor er in die Knie ging und den Sack schulterte. Keuchend und schwankend unter seiner Last stand er wieder auf und schleppte sie an mir vorbei in den Schuppen, ohne mich zu sehen. Und mit einem wehen Gefühl im Herzen sah ich, wie seine Knie schon vor Erschöpfung zitterten.

»Nathaniel O’Reilly«, flüsterte ich und streichelte ihm über den Rücken. »Nathaniel O’Reilly.« Es bedeutete mir ungeheuer viel, endlich seinen vollen Namen zu kennen. Als ob ihm das mehr an Kontur, mehr Körperlichkeit verlieh. Ihn wirklicher und greifbarer machte.

Ich wollte noch etwas sagen, aber im nächsten Moment überrollte mich noch einmal ein taumeliges Gefühl. Stärker als ich es gewohnt war, mit einer Heftigkeit, die mich nach Luft schnappen ließ und mir Angst machte.

»Hör auf«, wisperte ich. »Das reicht für heute! Hör auf!«

»Ich … ich kann nicht«, stieß Nathaniel heiser hervor. Ich hörte am scharfen Klang seiner Stimme, dass er ebenfalls Angst hatte und sich mit aller Kraft dagegen wehrte, weitere Erinnerungen zuzulassen. »Ich kann nicht aufhören! Es ist stärker als ich!« Ich spürte, in welchem Aufruhr er war; in ihm tobte und wirbelte es in alle Richtungen, als würde er von einem gewaltigen Sog gepackt und mitgerissen. Und ich gleich mit.