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Ich wurde nicht schlau aus Matt Chang.

Außer einem leisen Hi – ist Starbucks okay? hatte er keinen Ton zu mir gesagt, seit wir uns nach dem Unterricht im Foyer der Jefferson High getroffen hatten und mit dem Bus in die Stadt gefahren waren. Ich drehte meinen Becher in den Händen, den ich dank der Pappmanschette wenigstens anfassen konnte, während der Caffè Latte darin immer noch kochend heiß war, und musterte Matt aus dem Augenwinkel. Breitbeinig und mit wippenden Knien saß er da und starrte durch das große Fenster vor uns auf die weiße Fassade des Marriott. Seine dunklen, fast schwarzen Augen zuckten hin und her, wenn sie einem der vorüberfahrenden Autos folgten, und blieben manchmal an dem geschwungen Neonschriftzug von Lori’s Diner schräg gegenüber hängen, bevor sie zurück auf die Straße vor uns huschten. Entweder war er furchtbar schüchtern oder seltsam drauf. Aber hey, er hatte auch einen Iced Peppermint White Chocolate Mocha geordert, was für mich ziemlich pervers klang.

Ich löste meinen Blick von Matt, nippte vorsichtig an meinem Kaffee und schaute mich um. TAKE COMFORT IN RITUALS stand in weißen Buchstaben unter einer dampfenden Kaffeetasse auf der Eingangstür aus Glas, und diese Starbucks-Filiale schien sich tatsächlich Trost und Behaglichkeit verschrieben zu haben. Das dunkle, gediegene Holz der Tür- und Fensterrahmen, zwischen denen nostalgische Kugellampen angebracht waren, wiederholte sich in der Inneneinrichtung und ließ das Café sehr behaglich wirken. Eine Weile sah ich den Thekenkräften zu, die extrem gut gelaunt ihrer Arbeit nachgingen. Ich hatte mich gewundert, warum ich bei der Bestellung nach meinem Namen gefragt worden war, bis ich kurz darauf begriffen hatte, dass man hier die Becher damit beschriftete und man bei der Ausgabe aufgerufen wurde. Caffè Latte für Aaamber!

Auf die niedrigen Tische mit den gemütlichen Holzstühlen verteilte sich junges Publikum; ein paar Jungs und Mädchen saßen vor ihren Laptops und Netbooks herum, Studenten vielleicht oder Kreative; am Tisch hinter uns entdeckte ich ein Liebespaar, das sich immer wieder an den Händen fasste und dabei tief in die Augen sah. Ich sah schnell weg und fixierte lieber die Muffins unter Glas.

»Was hat dir gestern solche Angst gemacht?«

Mein Kopf flog herum, und ich starrte Matt an, der weiterhin auf die Straße hinausblickte.

»Ich … ach«, ich winkte fahrig ab, »ich hab mich nur erschrocken, das war alles.« Angestrengt schaute ich auf meinen Becher hinunter und senkte den Kopf noch tiefer, als ich Matts Augen auf mir spürte.

Seine Knie wippten heftiger. »Ich gehe gern in die Grace Cathedral. Ist ein guter Ort zum Nachdenken.« Er machte eine kleine Pause und fügte dann leiser hinzu: »Und ein Ort, an dem ich mich sicher fühlen kann.«

Ich spähte unter meinen Haaren hervor. »Wie, sicher? Wovor?«

Matt trank einen Schluck, dann drehte er sich auf dem Hocker zu mir um, sodass ich freien Blick auf Kurt Cobains zerknittertes Gesicht auf dem übergroßen T-Shirt unter der Kapuzenjacke bekam; mit den Fingern trommelte er einen flotten Beat gegen die Pappwand des Bechers. »Glaubst du an Übersinnliches?«

»N-nein«, stotterte ich und schob übermäßig heftig hinterher: »Natürlich nicht! Ist doch alles Quatsch!« Ich kippte einen großen Schluck Kaffee hinunter, der mir die Zunge und den Rachen verbrühte.

Seine Knie hielten plötzlich still und mit versteinerter Miene fixierte Matt den Becher in seinen Händen. Nur seine Brauen waren ständig in Bewegung, bis er mir zuraunte: »Du siehst sie auch, oder?«

Mir blieb der Mund offen stehen und Matt sah mir direkt in die Augen. Und wie seine Augen gleich darauf aufglänzten, zeigte mir, dass ich mich verraten hatte. Denn jeder andere hätte verständnislos Wen oder was sehen? zurückgefragt. Wie ein Losungswort hatte seine Frage geklungen, und mein Schweigen, vielleicht auch ein bestimmter Ausdruck auf meinem Gesicht, hatten mich sofort in einen Kreis aufgenommen, von dem ich wenige Sekunden vorher nicht einmal gewusst hatte, dass er existierte.

Ein breites Grinsen dehnte sich auf seinem Gesicht aus; er hüpfte vom Hocker herunter und schnappte sich seinen Rucksack. »Komm mit! Es gibt da jemanden, den du unbedingt kennenlernen musst!«

»Wo gehen wir denn hin?!«, wollte ich nun schon zum ungefähr siebzehnten Mal von Matt wissen, als ich ihm die Sutter Street hinterherlief, die von hier aus leicht anstieg. Matt hatte zwar kürzere Beine als ich, aber auf denen war er verdammt schnell.

»Wirst du schon noch sehen!«, gab er darauf grinsend immer dieselbe Antwort.

Die dreispurige Einbahnstraße mit den mageren Bäumchen führte zwischen mehrstöckigen Häusern hindurch, über die sich die Zickzacklinien der Feuerleitern zogen; wie überall in der Stadt säumten weiß lackierte Hydranten in Abständen den Straßenrand und gurrende Tauben pickten in den achtlos weggeworfenen Abfällen herum. Mehrere Hotels mit klangvollen Namen reckten ihre Markisen und stoffbezogenen Vordächer bis an den Rand des Bürgersteigs hinaus. Parkhäuser wechselten sich mit winzigen Galerien, schick aussehenden Restaurants – chinesisch, japanisch, französisch, mehrfach italienisch – und Klamottenläden ab; auf der linken Seite konnte ich auf einem Schild und den schwarzen Markisen Academy of Art University lesen.

Die Namen der Querstraßen gaben mir zwar eine ungefähre Ahnung, auf welcher Breite wir uns bewegten, aber das sagte nichts über die Gegend aus; nicht in einer Stadt, in der die Straßen so lang waren, dass sie nicht selten von den Piers bis weit über Downtown hinausreichten oder von der Bay quer bis zum Presidio oder dem Golden Gate Park.

Hinter der Jones sah die Sutter Street nicht mehr ganz so nobel, sondern mehr nach Künstlerviertel oder gar Halbwelt aus, mit mehreren Pubs und Spirituosenläden. Gleich hinter einer weiteren Markise mit Academy of Art University waren die Fenster mit verblichen rotem Stoff verhängt und eine rote Leuchtreklame verkündete Sauna – Spa – Massage – Jacuzzi; die Ladenfront sah dabei aber kein bisschen nach klassischer Wellnessoase aus, sondern vielmehr reichlich verrucht. An einer Reinigung kamen wir vorbei und an einem etwas schäbig wirkenden Lebensmittelladen namens Alberto’s, dann blieb Matt endlich stehen, vor dem letzten Haus des Straßenblocks.

Im Erdgeschoss des Hauses aus messingfarbenen Backsteinen mit den lindgrünen, von ebenfalls messingbraunen Ornamenten und Bordüren verzierten Erkern zog sich ein Coffeehouse namens cup-a-joe um die Ecke; laut der Aufschrift auf den roten Markisen über den Tischen und Stühlen auf dem Bürgersteig gab es hier Panini, Bagels, Pasteten und zehn Sorten Bier auf der Karte. Und rechts davon verkündeten große Goldbuchstaben auf Blau PSYCHIC. Schwarz auf gold war der Service detaillierter aufgeführt: Handlesen. Kristallkugel. Tarot. Auralesen. Horoskope. Im linken der beiden Schaufenster mit den gelb angestrichenen Rahmen klebte ein handgemaltes Plakat, auf dem eine Wahrsagerin mit geheimnisvoller Mimik in ihre Glaskugel starrte; im rechten Fenster waren auf gelben Stoffbahnen verschiedene Esoterikbücher neben einer Glaskugel und Kristallpyramiden arrangiert. Die rot umrandete Glastür stand sperrangelweit nach innen auf; dahinter konnte ich einen dämmrigen Raum erahnen, aus dem sanfte Meditationsmusik herausplätscherte und die süß-pfeffrigen Schwaden von Räucherstäbchen auf die Straße quollen. Hilfe.

»Auf keinen Fall geh ich da mit rein«, zischte ich und wollte mich umdrehen, aber Matt packte mich grinsend beim Ärmel meiner Sweatjacke und zog mich über die Schwelle.

Innen war es heller, als es von draußen ausgesehen hatte; ein warmes, sanftes Licht flutete den kleinen Raum, dessen Wände mit purpurglänzendem Stoff bespannt waren. Links und rechts standen Regale, vollgestopft mit teils sehr alt aussehenden Büchern, und in einer Vitrine waren Edelsteine, Amulette und ähnlicher Esoterik-Hokuspokus-Kram auf rotem Samt ausgelegt. Vor dem schwarzseidenen Vorhang hinten im Raum stand ein alter, abgestoßener Schreibtisch mit Laptop und daran saß mit übereinandergeschlagenen Beinen eine junge Frau. Ihr kurz geschnittenes Haar war mit Gel und Haarspray zu einem wilden Igel gestylt und schillerte in einem sanften Rosa, das mich an Zuckerwatte erinnerte. Als wir eintraten, hob sie den Kopf von dem Buch auf ihrem Schoß und strahlte uns an.

»Hallo, Licht meiner dunklen Tage«, rief Matt vergnügt.

»Heyyy«, rief sie, sprang auf und fiel Matt mit einem Lachen um den Hals, das rau und ein bisschen dreckig klang, bevor sie ihn herzhaft auf beide Wangen küsste. »Wie schön, dich zu sehen, Honey!« Ihre Sprechstimme klang genauso heiser wie ihr Lachen – und verdammt sexy.

Ich starrte sie nur an. Sie war ein bisschen größer als Matt, aber kleiner als ich und hatte eine enorm gute Figur. Das knappe, poppig-bunte Tanktop präsentierte stolz ihr Dekolleté und darunter blitzte ein pinkfarbener Spitzen-BH hervor. Ein Tattoo in Form einer üppigen Blütenranke zog sich über ihr Schulterblatt; aus den Blumen und Blättern flatterten kleine Schmetterlinge über ihren rechten Arm und ihren Nacken hinauf. Die abgeschnittene und ausgefranste Jeans betonte ihre schmalen Hüften; die muskulösen, aber schlanken Beine steckten in Netzstrumpfhosen und regenbogenfarbig geringelten Overknees, und wadenhohe, zerschrammte Springerstiefel mit giftgrünen Schnürsenkeln vervollständigten das schrille Outfit. Whoa. P!nk meets Pippi Langstrumpf.

»Lass mal sehen.« Mit gespreizten Fingern fuhr sie durch Matts Schopf und besah sich die flammend roten Strähnen genauer. »Ich will mich nicht selber loben, aber das hab ich gut hingekriegt!«

Lachend bog Matt den Kopf zurück und nickte in meine Richtung. »Ich möchte dir jemanden vorstellen.«

Die Arme um Matts Schultern gelegt, musterte sie mich neugierig. »Wie jetzt – du hast neuerdings eine Freundin und sagst mir nichts davon?«

Matt lief rot an. Knallrot. Genau wie ich.

»Quatsch«, knurrte er verlegen. »Das ist Amber. Sie geht auf meine Schule, und sie hat«, wie ein Zauberer in einem Theaterstück machte er mit flatternden Fingern einer Hand Kreisbewegungen durch die Luft und gab seiner Stimme mehr Tiefe und etwas Ironisch-Geheimnisvolles, »uh-huh-huuuhh … die Gaaa-bee

»Sag bloß!« In ihren braunen Kulleraugen blitzte es. Sie war einiges älter als Matt und ich, bestimmt Mitte zwanzig, vielleicht sogar schon fast dreißig – und sehr hübsch mit ihrer Stupsnase und dem großzügig geschwungenen Mund. Abgesehen von viel schwarzer Wimperntusche hatte sie kein Make-up in ihrem leicht sonnengetönten Gesicht, aber zahllose kleine Silberringe reihten sich entlang ihrer Ohrmuscheln auf; an ihrem Nasenflügel klemmte ein weiterer Ring, und als sie Matt losließ und mir lachend die Hand entgegenstreckte, blinkte auch in ihrer Zunge eine winzige Metallkugel auf. »Hi, ich bin Holly.«

»Hi«, murmelte ich und starrte abwechselnd auf den tätowierten Sternchenregen, der sich über ihre andere Schulter zog und auf das Stück nackter Haut zwischen Tanktop und Hosenbund, auf dem sich das eintätowierte Ende eines Drachenschwanzes um den mit einem Glitzerstein gepiercten Nabel ringelte; der Rest des Drachens musste sich wohl irgendwo auf ihrem Rücken verstecken. Sie hatte etwas von einer Elfe auf Ecstasy und versprühte dabei so viel Sex-Appeal, dass ich mir daneben wie eine blässliche Zehnjährige vorkam. Im Matrosenkleidchen.

»Sollen wir gleich hochgehen?« Holly reckte sich über den Schreibtisch, fuhr den Laptop herunter und schnappte sich von der Stuhllehne einen schwarzen Pulli, der so unregelmäßig und grob gestrickt war, dass er mehr aus Löchern als aus Garn bestand. »Heute kommt sicher ohnehin keiner mehr.« Sie warf sich eine Umhängetasche aus verwittertem braunem Leder über die Schulter, aus der sie einen großen Schlüsselbund angelte, bevor sie die Meditationsmusik aus dem Ghettoblaster neben dem Schreibtisch abstellte, indem sie mit der Kappe des Springerstiefels dagegenkickte. »Dann können wir in Ruhe reden.«