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»Sorry, Fehlanzeige. Bis jetzt hab ich nichts herausgefunden.« Matt lehnte an meinem Schließfach und berichtete von seiner Recherche zu Nathaniel. »Aber ich versuch’s noch mal, versprochen. Weil du es bist.« Er zwinkerte mir zu, bevor sein Blick sich irgendwo hinter mir verlor. »Hey, schau mal, wen wir da schon wieder haben«, meinte er und ruckte mit dem Kinn auf einen Punkt hinter mir. Ich drehte mich um und sah, wie Goth-Girl in langem Rock, Schnürstiefeln und taillierter Bluse mit überlangen Ärmeln vor ihrem Schließfach stand; ein paar Bücher in den überkreuzten Armen an sich gepresst, schaute sie feindselig zu uns herüber. »Vielleicht ist sie nicht ganz so biestig, wenn du ohne mich auf sie zugehst. Mädchen unter sich und so.«
Ich dachte an meine allererste Begegnung mit ihr. »Glaub ich kaum.«
»Du kannst es ja wenigstens probieren. Vielleicht hast du mehr Glück als ich. Wenn ich sie noch mal anspreche«, sein Blick wanderte über meine Schulter wieder zu Goth-Girl, »kommt sie womöglich noch auf die Idee, dass ich was von ihr will.« Er rollte mit den Augen und grinste breit. »Bis nachher.« Ruppig, aber nicht allzu fest zog er an einer dicken Haarsträhne von mir und schulterte dann seinen Rucksack.
»Bis nachher«, rief ich ihm leise nach und wandte mich zu meinem Fach um. Goth-Girl kramte unterdessen energisch in ihrem Spind herum; fast wütend wirkte sie dabei. Als ich meinen Rucksack ein Stück herauszog, fiel mir etwas Flaches entgegen, das ich gerade noch so auffangen konnte, und ich betrachtete die Tafel Schweizer Schokolade in meiner Hand. Sie stammte aus dem Päckchen, das Gabi mir neulich geschickt hatte. Heiner hatte in Zürich zu tun gehabt, und Gabi hatte ihm vorher eine Liste der Sorten zugesteckt, die ich besonders mochte und die es hier in Amerika nicht gab. Da war doch tatsächlich noch eine Tafel weiße Vanille-Mousse, die ich eigentlich Matt mitbringen wollte, aber komplett vergessen hatte. Ich sollte wirklich dringend nachschauen, ab welchem Alter man Alzheimer bekommen konnte. Kurzerhand riss ich die Packung auf, knickte eine Rippe Schokolade um und steckte mir das erste Stück in den Mund. Ich schielte zu Goth-Girl hinüber, die in genau diesem Moment ebenfalls in meine Richtung schaute, und hastig sahen wir beide wieder weg. Na gut, einen letzten Versuch war’s wert. Entschlossen zerrte ich meinen Rucksack heraus, schulterte ihn und verschloss meinen Spind. Ich schlenderte an den Schließfachreihen vorbei.
»Hi«, nuschelte ich Goth-Girl total lässig entgegen, weitaus lässiger, als ich mich fühlte.
Mit finsterer Miene fuhr sie herum, sodass das schwere silberne Kreuz um ihren Hals heftig hin und her schaukelte. »Stalkst du mich oder was?!«, herrschte sie mich an.
So viel zum Thema mehr Glück.
Ich spürte, wie ich rot anlief, packte den Gurt meines Rucksacks fester und trat einen Schritt zurück.
Abrupt wandte sich Goth-Girl um und kramte wortlos in ihrem Schließfach herum, bis sie von einer Sekunde zur nächsten förmlich versteinerte. Genau dieselbe Sekunde, in der mir ein kühler Luftzug über den Nacken strich und ein kribbelnder Schauder den Rücken herunterlief. Ich drehte mich um und entdeckte den Jungen mit den veilchenblauen Augen, der mitten im Korridor stand, die Hände in den Hosentaschen, und uns mit einem spöttischen Zug auf dem mausigen Gesicht fixierte.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte ich mich bei Goth-Girl, als ich mich ihr wieder zuwandte. Obwohl ich klar erkennen konnte, dass bei ihr gar nichts in Ordnung war. Mit leicht geöffnetem Mund atmete sie nur noch flach, ihre Augen waren aufgerissen, und sie zitterte. Dann kapierte ich es und es war wie ein Schlag in die Magengegend.
»Er tut dir nichts«, raunte ich ihr zu. »Er will dir nur Angst einjagen, sonst nichts.«
Goth-Girl rührte sich einige Augenblicke lang nicht; dann drehte sie den Kopf in meine Richtung und starrte mich an. »Du kannst ihn auch sehen?«, hauchte sie. Ich nickte und ihre Augen glänzten nass auf. »Du … du kannst ihn wirklich sehen.« Sie schluchzte auf und legte eine schlackernde Hand vor den Mund; eine dicke Träne rollte über ihre Wange und hinterließ eine dunkle Spur in dem Puder auf ihrer Haut.
»Magst du ein Stück?« Ich hielt ihr die Schokolade hin. »Ich bin übrigens Amber.«
»Mhhh«, machte Abby mit vollem Mund und rollte genießerisch mit den Augen. »Die ist aber mal lecker!«
»Ich weiß«, nuschelte ich vergnügt, ebenfalls den Mund voll mit der zart knuspernden Japonais-Schokolade.
Seit Goth-Girl begriffen hatte, dass der Junge mit den veilchenblauen Augen nicht ihrer Einbildung entsprungen war, hatte sie nicht nur dankbar meine Schokolade angenommen, sondern auch begonnen, normal mit mir zu reden. Inzwischen wusste ich, dass sie Abby hieß – eigentlich Abha, Abha Ratnalikar – und als Freshman ein Jahr unter mir war. Ihre Eltern betrieben zwischen Union Square und Market Street, in einer kleinen Seitenstraße ganz in der Nähe des Cable Car Turnaround, ein indisches Restaurant, das (natürlich, wie auch sonst) Taj Mahal hieß, und ihr großer Bruder Manish studierte Mathe und Physik in Berkeley. Sie geriet ganz aus dem Häuschen, als ich ihr erzählte, dass ich aus Deutschland kam, weil sie ein großer Fan von Rammstein war und von Unheilig, die sie aus dem Netz kannte, und sie war enttäuscht, als ich gestehen musste, Den Grafen noch nie live erlebt zu haben. Genau wie ich mochte sie HIM, Evanescence und Nightwish und legte mir in Form einer gebrannten CD eine verdammt gute schwedische Metal-Band namens All Ends ans Herz. Trotzdem nickte sie mir mittags in der Cafeteria nur kurz zu und pickte sich zwischen den ganzen anderen Schülern einen Platz möglichst weit von dem Tisch entfernt heraus, an dem ich mit Matt und neuerdings auch mit Shane saß. Und jedes Mal wenn Matt mit breitem Grinsen auf uns zukam, schnappte in Abby etwas zu; hektisch stopfte sie dann ihre Sachen in die Schultertasche, schlug die Tür zu ihrem Spind zu und warf mir ein schnelles Bye hin, bevor sie das Weite suchte.
»Hast du nachher eigentlich noch was vor?«, fragte ich sie betont nebensächlich. Der Memorial Day, der Feiertag Ende Mai zum Gedenken an die für die Vereinigten Staaten gefallenen Soldaten, stand vor der Tür, und damit der Beginn der Sommerferien hier am Unified School District von San Francisco. Und ich fand es schade, dass ich Abby deshalb wahrscheinlich die kommenden dreieinhalb Monate gar nicht mehr sehen würde.
Ihre Augen weiteten sich. »Wieso?«
»Ich treff mich gleich noch mit Matt«, erklärte ich. »Magst du vielleicht mitkommen? Auf einen Kaffee oder so?«
Abbys Augen wurden schmal. »Lass mal. Triff du dich mit deinem Freund, wir sehen uns ja morgen wieder.«
Verblüfft starrte ich sie an. Sie hatte boyfriend gesagt, womöglich dachte die halbe Schule inzwischen, Matt und ich wären zusammen.
»Matt ist nicht mein boyfriend. Wir sind nur Kumpels. Und Shane Diggs kommt wahrscheinlich auch noch mit.«
Sie biss sich auf die Lippen und senkte rasch den Kopf, dass ihr die schwarzen Haare vors Gesicht fielen. Dann blinzelte sie mich darunter hervor an und mit einem kaum sichtbaren Lächeln um den Mund nickte sie schließlich.
Bis auf ein, zwei über ihre Laptops gebeugte Nerds war das Foyer der Jefferson High leer und verlassen; nach Ende des Unterrichts drängten zurzeit alle Schüler hinaus ins Freie, um bei diesem Traumwetter schon mal am Wasser oder irgendwo in der Stadt einen Vorgeschmack auf die bevorstehenden Ferien auszukosten.
Als würden sie sich schon ewig kennen, lungerten Matt und Shane auf den grauen und roten Sitzelementen unten im Foyer herum. Sicher redeten sie mal wieder über Baseball im Allgemeinen und die Giants im Besonderen. Oder über die Vorzüge und Nachteile jeweils von Apple und Microsoft, die neuesten Apps und das Tunen von Hardware. Als Shane mich entdeckte, winkte er mir zu und erhob sich zu seiner ganzen stattlichen Größe in Jeans und feuerrotem T-Shirt mit dem Logo der Jefferson High, und auch Matt drehte sich um. »Maannn, was hat denn da bei dir so lange gedau…« Er stutzte, dann grinste er übers ganze Gesicht und sprang auf. »Hi! Wen haben wir denn da? Du hast dich also doch dazu durchgerungen, mit uns zu reden?«
»Das ist Abby«, sagte ich und zögerte. »Ich hab euch ja schon von ihr erzählt.«
»Hi, Abby!«, kam es von Shane.
Die ganze Zeit über hatte Abby mit gesenktem Kopf und verschränkten Armen nur auf den Boden gestarrt, und auch jetzt richtete sie mit dünner, fast fiepender Stimme das Wort an ihre Schuhspitzen. »Hi.«
»Also, ich weiß nicht, wie’s euch geht«, Matt reckte sich ächzend in alle Richtungen und dehnte dabei Kurt Cobains Portrait auf seinem T-Shirt zu einer Grimasse, »aber ich könnt was zu essen vertragen.«
»Oh ja, bitte«, erwiderte ich mit einem Seufzen. Trotz der Schokolade gerade eben knurrte mein Magen so verrückt, dass mir die Zeit bis zum Abendessen mit Ted noch ganz schön lang werden würde. Der Cheeseburger mit den Baked Beans heute Mittag war nämlich keine wirklich gute Alternative zu Maccaroni’n’Cheese gewesen; ich war heilfroh, dass ich über den Sommer von der Küche der Cafeteria verschont bleiben würde. »Lori’s Diner?«, schlug ich hoffnungsvoll vor.
»Gute Idee«, bescheinigte mir Matt grinsend. »Aber ich glaub, ich weiß was Besseres.«
Mit einem zufriedenen Aufseufzen lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück. Totale Tourifalle, aber lecker!, hatte Matt geschwärmt, als er uns zum Pier 39 führte, Shane hatte dieses Urteil mit anerkennendem Blick und hochgerecktem Daumen bestätigt, und pappsatt konnte ich ihnen jetzt nur zustimmen.
Das Wipeout gegenüber vom Hard Rock Café und dem Aquarium of the Bay war ein ziemlich schräger Laden. Schräg – aber verdammt cool, komplett im Surfer-Style eingerichtet, angefangen bei der Terrasse unter einer rot-weißen Markise über den mit Surfbrettern und Meeresdeko gespickten Innenraum mit den bunten Wänden bis zur Beschallung mit Crossover auf Disco-Lautstärke; auf Flatscreens vor der Bar lief eine Surfer-Doku mit spektakulären Wellenbildern. An den beiden Eingängen präsentierten ein lebensgroßer Muskelprotz aus Plastik und sein weibliches Gegenstück à la Pam Anderson im Bikini auf ihren Surfbrettern das Tagesmenü, und von der Decke hing ein Plastikhai, der mindestens so lang war wie Abby groß. Mit Absätzen. Ich entdeckte sogar eine Schiefertafel mit den jüngsten Haiangriffen und eine, auf der mit Kreide der Daily Surf Report notiert wurde: die Gezeiten von heute, die Wellenhöhe, Temperatur und Wetterlage für Santa Monica, La Jolla, Santa Barbara und weiteren Hotspots für Surfer entlang der Küste. Welcome to California. Hannes wäre geplatzt vor Neid.
Mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt, dass man in Amerika am Eingang eines Restaurants warten musste, bis man einen Platz zugewiesen bekam; um einen Tisch für fünf hatte Matt den Typen in Shorts, Hawaiihemd und Basecap gebeten, den er ganz gut zu kennen schien, denn Holly wollte nachkommen, sobald sie in ihrem Laden Feierabend machen konnte.
»Magst du das nicht mehr?«, fragte Matt neben mir und zeigte auf meinen roten Plastikteller, der noch mehr als halb voll war, weil ich den Berg Fish’n’Chips nach dem extrem leckeren Coleslaw-Salat mit Ananas einfach nicht mehr ganz geschafft hatte; die riesigen Portionen in Amerika machten mich noch fertig. Ich linste zu dem Mega-Burger vor Matt hinüber; seinen Coleslaw, die Zwiebelringe und die Chicken Wings hatte er natürlich schon verputzt, während er, Shane und ich mal jeder einzeln, mal wild durcheinander Abby ein bisschen was über uns erzählten. Bissige Bemerkungen von Matt in Bezug auf Nathaniel inklusive.
»Da drin ist noch viel Platz«, versicherte Matt jetzt auf meinen irritierten Blick hin und rieb sich über den Bauch, und glucksend schob ich meinen Teller näher zu ihm.
Shane, der sich nach Chili Cheese Fries und House Salad ebenfalls einen überdimensionierten Burger vornahm, lachte, während Abby in ihrem Salat mit gegrilltem Lachs herumstocherte und uns reihum finstere Blicke unter zusammengezogenen Brauen zuwarf.
»Also«, nuschelte Matt gemütlich mit halb vollem Mund, während er an einem Stück frittierten Fisch auf meinem Teller herumsäbelte, und schaute Abby an, die ihm gegenübersaß, »unsere Geschichten hast du gehört. Was ist deine?« Ein Bündel Pommes verschwand längs in seinem Mund.
Abby legte ihre Gabel auf den Teller mit kaum angerührtem Salat und ließ sich mit vor dem Kreuz auf ihrer Brust verschränkten Armen in den Stuhl zurückfallen. Ihre Miene verfinsterte sich immer weiter, je länger sie schwieg, und Matt, Shane und ich wechselten fragende bis verunsicherte Blicke.
»Das klingt alles ganz schön heftig«, fing sie dann mit spröder Stimme an. »Aber wie man sich in einen Geist vergucken kann«, ihre braunen Augen funkelten mich zornig an, beinahe hasserfüllt, »tut mir echt leid, aber da fehlt mir jedes Verständnis. Ihr habt ja keine Ahnung, wie es ist, wenn man eines Morgens aufwacht und hier«, sie tippte sich an die Schläfe, »hier drin hat sich über Nacht jemand breitgemacht. Jemand, der dir Horrorvorstellungen ins Hirn pflanzt, die dir Tag und Nacht Panik durchs Blut schießen lassen. Der mit deinem Körper spielt wie mit einer Marionette und dich zwingt, grausige Dinge zu tun und zu sagen. Und du kannst nichts« – widerwillig wischte sie ein paar Tränen aus den Augen und verschmierte damit einen Teil ihres großzügigen dunklen Augen-Make-ups – »einfach gar nichts dagegen tun. Du bist komplett machtlos, während du merkst, wie es dich von innen her auffrisst. Egal wie viel Willenskraft du aufbietest – du bist und bleibst einfach machtlos dagegen. Und das Schlimmste dabei ist, dass dir keiner glaubt, was gerade mit dir passiert, bis du selbst nicht mehr weißt, ob du besessen bist oder einfach nur verrückt. Dann sitzt du irgendwann einem Doc nach dem anderen gegenüber, die mit ihren Diagnosen und Ratschlägen völlig danebenliegen und dich mit Medis vollpumpen, unter denen du aufgehst wie ein Hefeteig und nur noch benommen durch die Gegend torkelst, während der andere in dir tobt und wütet und dich innerlich zerfleischt. So lange, bis deine eigenen Eltern dich in die Klapse einweisen lassen und du nur noch eine Möglichkeit siehst.«
Entschlossen zerrte sie die langen Ärmel ihrer Bluse und des schwarzen Rollis herauf und knallte ihren Arm auf den Tisch, die Innenseite nach oben. Geschockt starrten wir auf die Narbe, die sich vom Handgelenk bis auf die Hälfte des Unterarms hinaufzog. »Erst wenn ihr dort gewesen seid, wo ich war, wisst ihr, was ein echtes Problem ist.«
Einige Augenblicke war es still am Tisch, und die Drums und die Gitarrenriffs der Red Hot Chili Peppers, die Stimmen der anderen Gäste waren plötzlich so laut, dass sie uns komplett überrollten.
»Sag mal«, sagte Matt dann und schubste sich in aller Seelenruhe ein paar Streifen fluffiges Pizzabrot auf seinen Burgerteller, »bist du eigentlich sicher, dass du den Geist damit wirklich losgeworden bist? Ab und zu klingst du, als hätte er dich immer noch ziemlich fest im Griff.«
Abbys Miene zog sich zusammen, als hätte sie herzhaft in eine Zitrone gebissen und würde Matt am liebsten ins Gesicht springen. Er grinste und schob ihr augenzwinkernd den Teller mit dem restlichen Pizzabrot zu. »Da, nimm. Du hast fast noch nichts gegessen. Meine Granny sagt immer, Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen.«
In Abbys Gesicht zitterte es; das Verbissene, Angriffslustige darin schmolz, und mit flatternden Wimpernbögen schenkte sie Matt ein schüchternes Lächeln.
»Juch-huuu«, trällerte es hinter uns. Sämtliche Köpfe im Wipeout verdrehten sich nach Holly, die auf lilafarbenen Sandalen mit schwindelerregend hohen Plateausohlen hereinstöckelte, und definitiv alle männlichen Wesen im Raum starrten auf ihren Hintern in den knallengen Jeanshotpants. »Na, ihr Zuckerschnuten?« Sie wuschelte erst Matt durch die brandroten Haare und beugte sich dann zu mir herunter, um mir einen Schmatzer auf die Wange zu drücken, wobei ihr fast der Busen aus dem violetten Spitzen-BH unter dem orangefarbenen Batiktop fiel, bevor sie um den Tisch herumging, Shane über die breite Schulter rieb und schließlich Abby ihre Rechte hinhielt. »Hi, ich bin Holly!«
Hastig hatte Abby ihren Arm vom Tisch genommen und die Ärmel wieder heruntergezerrt, doch noch während sie zu einem gemurmelten Gruß ansetzte, fiel ihr Holly ins Wort. »Du, Süße, nimm’s mir bitte nicht übel, wenn ich so mit der Tür ins Haus falle – aber was um alles in der Welt ist denn mit deinem Make-up passiert? Du siehst ja aus wie geradewegs von den Toten auferstanden!«
Eigentlich war das nicht komisch. Überhaupt nicht komisch. Normalerweise.
Aber was bei uns war schon normal?
Während Abby noch betreten zu Holly hinaufschielte, zuckte es bereits um ihren Mund, und wir glucksten alle in uns hinein. Und als Holly uns mit großen Kulleraugen reihum ansah und mit einem heiseren Lachen fragte: »Hey – hab ich was verpasst?!«, war alles zu spät, und wir brachen in schallendes, fast ein bisschen hysterisches Gelächter aus.
Danach drehten wir noch eine Runde durch das Getümmel auf dem Pier. Vorbei an einem Hot-Dog-Wagen vor einem zweistöckigen Shop mit Fanartikeln der San Francisco Giants und Forty-Niners und anderen Clubs der National Football League und der Major League Baseball, einem Büdchen mit bestimmt dreißig verschiedenen Sorten handtellergroßen Cookies in der Glasvitrine und einem Stand mit regenbogenbuntem Badesalz in großen Holzfässern, die einen penetranten Seifengeruch verströmten. Diverse Souvenirgeschäfte und Schmuckläden reihten sich auf zwei Ebenen in den sommerlichen Holzhäuschen aneinander; einen irischen Laden gab es, und einen, der Buddhas und anderen Esoterikkram führte und dementsprechend Enlightenment, »Erleuchtung«, hieß, und irgendwo hinter dem riesigen nostalgischen Karussell, das richtig gut in die Welt von Alice im Wunderland gepasst hätte, gab es ein absolutes Süßkramparadies, in dem wir uns aus hüfthohen Holzfässern eine Tüte bunt gemischter Bonbons und Toffees zusammenstellten.
Auf der Rückseite des Wipeout drängten wir uns zwischen die Trauben von Touristen an die Kaimauer, um den Seelöwen zuzuschauen. Kein Wunder, dass ihr tiefes, sattes Örrk-Örrk-Öörrk-Örrk-Öörkk schon von Weitem zu hören war; es mussten mehrere Hundert sein, die sich dicht an dicht auf den schwimmenden Pontons in der Sonne aalten.
Lange standen wir dort, mit Blick auf Alcatraz weit draußen im Meer und auf das Restaurant von Forbes Island mit seinem kleinen Turm neben hohen Palmen direkt vor uns, und wir konnten nicht genug davon bekommen, den dicken, prallen Seelöwen zuzugucken. Mit glänzendem Fell lagen sie faul herum, dösten und grunzten zufrieden, robbten übereinander weg, schnappten nacheinander und röhrten sich empört an. Dann wieder ließen sie sich schwerfällig über die Kante hinweg ins Wasser plumpsen, wo sie verblüffend elegant herumschwammen. Mit den Augen verfolgten wir die Pelikane, die sich durch die Luft gleiten ließen, um dann im Sturzflug ins Wasser zu tauchen und wieder daraus aufzusteigen. Über uns zogen kreischend die riesigen Möwen San Franciscos ihre Runden und auf dem Wasser kreuzten Ausflugsschiffe, Kutter und Frachter umher. Nach Fisch und Tang roch es, nach Wasser und Wind und ein bisschen nach Freiheit und Sorglosigkeit.
Ich glaube, ich war nicht die Einzige, die irgendwann vergaß, worüber wir beim Essen geredet hatten. Für den Rest des Tages waren wir einfach ein paar Freunde, die Spaß hatten. Und ich glaube auch, ich war an diesem Tag nicht die Einzige, die sich wünschte, dass es noch mehr solche Tage geben würde, an denen unser Leben ganz einfach war. Wenigstens ein paar Stunden lang.