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Die Hände tief in den Taschen meiner Jeans, lungerte ich jetzt bestimmt schon eine Viertelstunde vor den Schaufenstern des China Bazaar mit seiner Eistorten-Fassade in Grün, Gelb und Pink herum und traute mich nicht hinein. Dabei hatte ich es heute Morgen noch für eine total gute Idee gehalten, nach meiner Sitzung bei Dr. Katz kurz nach Chinatown rüberzugehen und nachzusehen, ob Matt vielleicht den Rest der Ferien damit verbrachte, hier zu jobben.

Er hatte sich zwar vor ein paar Tagen mit einer SMS von seinem IT-Kurs in Berkeley zurückgemeldet, aber gesehen hatte ich ihn seither noch nicht. Die Handvoll Nachrichten und die zwei extrem kurzen Telefonate seitdem waren komisch gewesen, als ob er schwer beschäftigt war momentan und auch ein bisschen seltsam drauf. Aufgekratzt hatte er irgendwie geklungen, keine Ahnung, was mit ihm los war. Seit gestern sprang auch nur die Mailbox an, wenn ich ihn anrief, und zwar ohne dass er mich zurückgerufen oder mal kurz gesimst hätte.

Zum wiederholten Mal spähte ich durch die vollgestopften Auslagen hindurch ins Ladeninnere, über eine Reihe Kartons mit Zellophanfenstern hinweg, in denen Plastikbuddhas in Pink, Giftgrün und Lagunenblau im Lotussitz hockten, und zwischen Metallständern hindurch, von denen der eine alles an Haargummis und Spangen anbot, was das Kleinmädchenherz an Pink, Glitzer, Herzchen, Kätzchen, Röschen und Pünktchen begehrte, und der andere mit diesen Aloha-Ketten aus Stoffblüten in wirklich allen denkbaren Farben vollgehängt war. Matt jedoch konnte ich nirgends entdecken.

Ich gab mir einen Ruck, trat ein und sah mich zwischen den anderen Touristen um, die nach Drachen, Buddhas und Lampions, nach bemalten Essstäbchen, perlenbestickten Kosmetiktäschchen und passenden Brillenetuis als Mitbringsel stöberten, stellte mich schließlich auf die Zehenspitzen und reckte den Hals.

»Verzeihung – Miss?« Ich drehte mich um und schaute in das freundliche Gesicht eines Chinesen, nicht mehr ganz jung, noch nicht alt, die ersten Linien im eckigen Gesicht und das erste Grau im gepflegten Haarschnitt. In einem langärmligen tannengrünen Polohemd, Edeljeans und Lederloafers sah er mich über einen Karton voller Jadefigürchen hinweg an, die er aus dicken Schichten von Verpackungsmaterial befreite. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Äähmm«, begann ich zögerlich. »Ja, vielleicht. Arbeitet Matt Chang heute hier? Ich bin eine Freundin von ihm.«

Er verzog das Gesicht. »Oh, ich weiß leider nicht, ob er heute noch mal reinkommt. Ich hab ihn zumindest den ganzen Morgen noch nicht gesehen.« Ich hob die Brauen. Jobbte Matt hier nur, wenn er gerade Bock hatte, oder wie? Der Chinese, bei dem kein anderer Akzent zu hören war als der San Franciscos, zwinkerte mir zu. »Wir fragen mal die Chefin, die muss es schließlich wissen.«

Ich folgte ihm durch die kunterbunte Mischung aus Asia-Kitsch, Kunst und Kram aus Fernost zur Kasse, einem ausladenden antiken Tisch mit einer Platte und Seitenwänden aus Glas, in dem sehr teuer aussehende Schmuckstücke auslagen. »Betsy!«

Eine Chinesin mit lackschwarz glänzendem Haarknoten, die gerade für ein Touristenpärchen ein mehrseitiges Dokument ausfüllte, hob den Kopf. An ihren Ohren baumelten lange und üppig verschnörkelte Ohrhänger aus Silber. Sie war vielleicht so um die vierzig, sicher nicht größer als Abby, zierlich und ziemlich hübsch; die scharlachrote Seidenbluse mit den schwarzen Drachen darauf stand ihr sehr gut, genauso wie das tolle Make-up mit dem breiten, geschwungenen Lidstrich.

»Die junge Lady hier«, der Chinese deutete mit der flachen Hand auf mich, »ist auf der Suche nach Matthew. Weißt du, wo unser Junior gerade wieder steckt?«

Meine Brauen rutschten bis ganz hoch und ich schaute verblüfft zwischen ihnen hin und her. Das waren Matts Eltern?

Betsy – demnach Mrs Chang – schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Er hat bei einem Freund übernachtet, ich hab ihn heute noch gar nicht gesehen. – Hast du seine Handynummer?«, fügte sie in perfektem Oxford-Englisch hinzu.

»Ja, die hab ich. Danke«, sprudelte ich schnell hervor, nickte den beiden zu und schlängelte mich durch den bunt gemixten Asia-Overload wieder nach draußen, wo ich kopfschüttelnd in mich hineingrinste.

»Hast du Besuch?«, flüsterte ich erschrocken, als Holly mit einem herzhaften Gähnen die Tür öffnete. Die Tür zu ihrem Schlafzimmer war nämlich zum ersten Mal, seit ich hierherkam, zugezogen, und dahinter glaubte ich leise Schnarchlaute zu hören. Männliche.

»Sozusagen«, gab Holly mit einem weiteren Gähnen zur Antwort, wuschelte sich durch die lilafarbenen Haare, die teils abstanden, teils platt gedrückt waren, und tapste barfuß in die Küche.

»Sorry«, murmelte ich betreten. Mit Holly zu reden, schien mir die zweitbeste Alternative nach Matt zu sein, und da ihr Laden noch nicht geöffnet gewesen war, hatte ich einfach am Eingang um die Ecke auf die mit H. Kowalski beschriftete Türklingel gedrückt. Durch die Sprechanlange hatte sie zwar ein bisschen verschlafen geklungen, aber gesagt, ich solle raufkommen.

»Ach was«, widersprach sie, winkte ab und reckte sich so weit nach der Kaffeedose im Regal hinauf, dass das übergroße, löchrige Greenpeace-T-Shirt hochrutschte und ihren perfekten Po in einem spitzengesäumten Slip mit Tigermuster enthüllte. »Der pennt erst mal tief und fest. Ist glaub ganz schön geschafft von letzter Nacht.« Die Zungenspitze keck in den Mundwinkel geklemmt, zwinkerte sie mir über die Schulter hinweg zu. »Auch einen Kaffee für dich, Cutie Pie? Und dann erzählst du mir, was du auf dem Herzen hast.«

»Puuuhhh«, machte Holly neben mir auf dem Fensterbrett und blies den Rauch aus dem geöffneten Fenster. »Heftige Geschichte.«

Ich nickte und rubbelte mit der Spitze meines Sneakers an der Kante des Spülschranks vor mir entlang. »Was würdest du tun an meiner Stelle?«

»Musst du dich denn entscheiden?« Holly zwinkerte mir über den Rand ihrer geblümten Uromatasse hinweg zu. »Ist doch perfekt: den Seelenverwandten fürs Herz und den leckeren Muskelprotz fürs Bett. So einen tollen Doppelwhopper kriegst du sicher nie wieder vom Leben vor die Füße gelegt!«

Ich gluckste in mich hinein. »Das meinte ich doch gar nicht. Mir ging’s um Halloween.«

»Tja«, Holly schnickte die Asche in den Innenhof hinunter, »wenn ich ehrlich bin, hab ich noch nie etwas davon gehört, dass verlorene Seelen da wieder greifbare Gestalt annehmen. Was natürlich nichts heißen muss, ich bin mir sicher, dass es noch sehr, sehr viel mehr über das Leben und den Tod und die Dinge dazwischen gibt, von denen wir nichts wissen. Es würde für mich trotzdem absolut Sinn machen, dass in dieser Nacht so was möglich ist. Eigentlich ist ja Allerseelen einen Tag später der Tag der Toten, aber ich kenne es eben auch so, dass man am ersten November besonders an die Verstorbenen denkt. Totentag, hat meine Grandma ihn immer genannt. Und die Mexikaner und andere Latinos feiern ja genau an diesen Tagen ihren Día de los Muertos, an dem die Seelen der Verstorbenen ihre Familien besuchen. Mit diesen bunten Zuckertotenschädeln und all dem schrillen Zeug.« Sie drückte ihren Zigarettenstummel im Aschenbecher aus und umschloss ihre Tasse mit beiden Händen. »Ob du’s jetzt glaubst oder nicht – ich hab Halloween nie gemocht. Ich bin sonst für jeden Spaß zu haben und immer vorne mit dabei, wenn’s irgendwo eine Party gibt – aber an Halloween verkriech ich mich in meinen vier Wänden. Ich hab nichts gegen die Kostüme, gegen die Streiche der Kids, gegen dieses So-tun-als-ob, das ist schon okay. Aber für mich hat diese Nacht etwas Unheimliches, Ungutes. Da ist eine gewaltige, finstere Macht am Werk.« Schwach lächelte sie mich an. »Ich bin echt kein Angsthase, aber Halloween lässt es mir kalt den Rücken runterlaufen. Diese Nacht übersteh ich immer nur eingekuschelt in meinem Bett, mit viel Tee, einer Schachtel Pralinen und einem rosaroten Wohlfühlbuch, auf dessen Seiten alles zuckersüß und watteweich ist und rein gar nichts Schlimmes passiert.«

Nachdenklich ließ ich meinen Blick über die verschiedenfarbigen Rückseiten der anderen Häuser mit ihren Feuerleitern schweifen. »Du kannst es dir also auch vorstellen, dass Nathaniel und ich da …« Ich brach ab und kaute stattdessen auf meiner Unterlippe herum, und unter Hollys prüfendem Blick begannen meine Wangen zu glühen.

»Klar kann ich mir das vorstellen, Herzchen. Mir macht nur Sorgen, was ich in deinem Gesicht zu diesem Thema lese und was ich in deinen Augen erkennen kann. Ich weiß nur zu gut, wie es ist, wenn einem ein toller Typ die Sicherungen durchbrennen lässt und man nur noch an Sex denkt.« Meine Wangen wurden noch heißer. »Aber genauso gut weiß ich auch, dass es scharfe Typen gibt, von denen man besser die Finger lässt, weil man sie sich zwangsläufig an ihnen verbrennt.«

»Nathaniel ist nicht böse«, flüsterte ich.

»Das meine ich damit nicht mal.« Holly zündete sich eine neue Zigarette an. »Du hast keine Ahnung, was passieren kann, wenn du ihm in dieser Nacht körperlich nahe kommst.«

Mein ganzes Gesicht stand in Flammen. »Ich bin aufgeklärt, danke«, schnappte ich zurück.

Holly sah mich durch den Rauch ihrer Zigarette hindurch an, und zum ersten Mal, seit ich sie kannte, wirkte sie todernst und viel älter als sechsundzwanzig; wie eine uralte, weise Frau, eine Seherin sah sie in diesem Moment aus. »Du denkst falsch. Ich rede nicht davon, dass er dir ein Kind macht, und auch nicht von kontaminierten Körperflüssigkeiten. Er mag sich für dich in dieser Nacht vielleicht lebendig anfühlen, aber er wird es nicht sein, das ist unmöglich. Er ist, was er ist: ein Wesen aus purer, konzentrierter Energie. Wenn diese Energie sich noch weiter verdichtet und mit deiner lebendigen Seelenenergie zusammentrifft – puh.« Energisch blies sie den Rauch aus. »So was bleibt nicht ohne Folgen, für keinen von euch.«

Bockig starrte ich zum Fenster hinaus.

»Lass die Finger davon«, hörte ich Holly leise sagen. »Lass es einfach und nimm den Footballspieler. Shane ist ein feiner Kerl, und wenn ich mir so anschaue, was für Hände er hat und wie er sich bewegt, dann wirst du mit ihm ein erstes Mal erleben, wie es nur ganz wenigen Mädchen vergönnt ist.«

Ich hatte keine Ahnung, woher Holly wissen konnte, dass ich das erste Mal noch vor mir hatte, und halb beschämt, halb wütend setzte ich zu einer bissigen Erwiderung an, aber das klatschende Geräusch von Flipflops, ein lautes Gähnen und das Aufgehen der Kühlschranktür lenkte mich ab.

Neugierig auf Hollys nächtlichen Besucher beugte ich mich vor und musterte die schwarzen Flipflops und die spindeldürren, spärlich behaarten Beine darüber; hinter der Kühlschranktür hörte ich es zischen, dann gluckern, und als sie wieder zufiel, sackte mir die Kinnlade herunter.

Nur mit einer riesigen Boxershorts bekleidet, die tief auf den scharfkantigen Hüftknochen hing und auf deren orangefarbenem Untergrund Pinguine tanzten, stand Matt in der Küche. Den Kopf mit geschlossenen Augen in den Nacken gelegt, trank er so gierig aus seiner Colaflasche, als hätte er soeben die Mojave-Wüste durchquert. Seine zerwühlten Haare waren blau. Leuchtdiodenblau. So blau wie ein radioaktiver Schlumpf. Und an seinem Hals prangte ein deutlich sichtbarer Knutschfleck.

»Morgen, Honey«, säuselte Holly neben mir. »Willst du dich nicht zu Amber und mir setzen?«

Matts Augendeckel klappten auf; den Mund voll mit Cola, fuhr sein Kopf zu mir herum. Er gab ein ersticktes Husten von sich, dann noch eins; seine Backen blähten sich auf und eine flammende Röte kroch seinen Hals hinauf.

»Spuck’s in die Spüle oder schluck’s runter«, empfahl Holly ihm vergnügt. »Aber mach mir bloß keine Sauerei in der Küche.«

Matt hüpfte auf einem Bein durch die Küche und wedelte dabei mit der freien Hand, bis er sein Cola hinuntergezwungen hatte. Er hustete ein paarmal, keuchte und japste und herrschte mich dann schwer atmend an: »Was zum Henker machst du denn hier?!«

»Ähm … Kaffee trinken und reden?«, gab ich zurück, hob meine Tasse an und konnte mir dann nicht verkneifen, herausfordernd unschuldig hinzuzufügen: »Und du?«

Matt wurde glutrot und machte auf dem Absatz kehrt. »Ich geh duschen«, bellte er über seine Schulter hinweg, und kaum dass er die Badezimmertür hinter sich zugeknallt hatte, brachen Holly und ich in Lachen aus, bis wir krampfhaft nach Luft schnappten.

Verstohlen schielte ich immer wieder zu Matt hin, der in Baggypants und den üblichen zwei Shirts übereinander neben mir die Sutter Street entlangmarschierte. Sein Totenkopftuch um den Hals und den Rucksack über der Schulter, schien er es sehr eilig zu haben. Oder wollte mich unterwegs abschütteln. Die ganze Zeit über versuchte ich, mir Holly und Matt nicht beim Sex vorzustellen, aber das war genau dieselbe Sache wie mit dem blauen Elefanten, die wir im Psychologiekurs gehabt hatten: Je mehr ich versuchte, nicht daran zu denken, desto lebhafter hatte ich Bilder von sexy Holly und Matt zusammen im Bett im Kopf, der in Boxershorts so schmächtig und jungenhaft aussah wie ein Vierzehnjähriger.

»Coole Farbe«, sagte ich irgendwann leise, um wenigstens irgendwas von mir zu geben. »Wie heißt die?«

»Atomic Blue«, knurrte er.

Ich zögerte. »Wie lange geht das schon mit Holly und …«

»Klappe!« Er hatte definitiv eine Scheißlaune.

»Ich war heute im China Bazaar«, versuchte ich noch einmal, ein Gespräch mit ihm in Gang zu bringen. »Du hast echt nette Eltern!«

Jäh blieb Matt stehen. »Spionierst du mir hinterher oder was?! Hast du kein eigenes Privatleben?!«

»Was tickst du denn gleich so aus?«, schoss ich zurück. »Womit genau hast du ein Problem, hm?!« Matt sank in sich zusammen und ließ den Kopf hängen, und sanft berührte ich ihn am Arm. »Wir sind doch Freunde – oder … oder nicht?«

»Jaaah, schon«, brummte Matt und kaute dann energisch auf seiner Unterlippe herum. »Es … es ist mir eben peinlich«, murmelte er schließlich vor sich hin. »Dieser ganze … Asia-Kitsch.« Er lachte trocken auf. »Kannst du dir vorstellen – Mom und Dad haben beide einen Abschluss in Berkeley gemacht, Mom in Literatur und Dad in Biologie, aber das große Geld kam erst mit dem Laden, den sie damals als winzige Bude von meiner Granny und meinem Grampa übernommen haben. Und … und es ist mir peinlich, dass es mir peinlich ist, weil ihnen viel an dem Laden liegt. Weil sie durch den Laden meine ganzen Behandlungen zahlen konnten, und auch bessere, als ich sonst wohl gekriegt hätte. Wir leben mehr als gut davon, und ich muss mir keine Sorgen machen, wo später die Kohle für die Uni herkommt. Aber trotzdem …« Er legte den Kopf schräg und sah mich an. »Verstehst du, was ich meine?«

»Ja, versteh ich.« Ich lächelte ihn an und stupste ihn in den Oberarm. »Mich freut’s übrigens, dass du jetzt mit Holly zusammen bist.«

Matt zuckte heftig mit den Schultern. »Wir sind nicht zusammen. Nicht so richtig. Das ist nur so ein … ein Bett-Dings«, grummelte er vor sich hin und kickte einen nicht vorhandenen Stein mit seinem Sneaker beiseite.

Verblüfft sah ich ihn an. »Und das ist okay für dich?«

Er warf den Kopf zurück und grinste breit. »Klar ist das okay! Aber hallo, und wie das okay ist!«

Ich glaubte ihm kein Wort, und während ich stumm neben ihm auf der Sutter Street weiterging, in Richtung von Lori’s Diner, wo wir uns mit Caesar Salad, einem Burger oder einem Moon Doggie vollstopfen wollten, dachte ich darüber nach, wie unglaublich kompliziert das Leben in dem Moment werden konnte, in dem man sein Herz an jemanden verlor.