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Ich stand oben auf einem Hügel, der zu meinen Füßen steil abfiel, und schaute hinunter auf die Stadt. Ihren Puls konnte ich hier oben fühlen, der schnell war und stolz, kräftig und ungeheuer lebendig und durchwoben vom Klappern der Pferdehufe und Räderknirschen, vom Rattern und Bimmeln der Cable Cars und der Straßenbahnen. Von den dröhnenden Motoren der ersten Automobile und ihren quäkenden Hupen, dem Schnaufen und Pfeifen der Dampfloks und den dröhnenden Hörnern der Dampfschiffe draußen im großen Hafen. Bezaubernd sah die Stadt aus dieser Perspektive aus, verspielt und beinahe gewichtslos, wie sich all die zierlichen, verschnörkelten Häuser bergauf und bergab entlang der akkurat quer und längs verlaufenden Straßen aneinanderreihten. Häuser, die fast kleine Schlösser waren, nüchterne, zweckmäßige Backsteinblöcke und die ersten Hochhäuser, die Vorboten einer neuen Ära. Dahinter erstreckte sich ein weites Feld aus flachen Dächern, das sich bis zu dem blauen Band ausdehnte, in dem sich die Wasser des Pazifiks und der Bay mischten. Und vor den braunen Hügeln am Horizont, rings um Alcatraz und um Angel Island war das Blau von den weißen Segeln der Mehrmaster hell getupft.

Fasziniert sah ich den Menschen zu, die an mir vorübergingen, den bärtigen Männern in den dunklen Anzügen, den Frauen in ihren leichten Kleidern mit der schmalen Taille und den ausladenden, mit Stoffblüten oder Federn geschmückten Hüten, für die ich alle komplett unsichtbar war. Ein kleines Mädchen in einem weißen Rüschenkleid, dunklen Strümpfen und Schnürstiefeln, große Schleifen in den Zöpfen, hüpfte direkt auf mich zu; ich wollte ihm ausweichen, war aber eine Spur zu langsam, und erschauerte, als es mit der Schulter und einem tanzenden Zopf durch mich hindurchstrich.

»Amber?« Aus weiter Ferne hörte ich eine Stimme. »Bist du so gut und richtest deine Aufmerksamkeit wieder auf die Russische Revolution? Hast du mich nicht gehört, Amber? Ein gewisses Maß an Respekt gegenüber meinem Unterricht finde ich nun wirklich nicht zu viel verl…«

Ich blinzelte in die Sonne, die hinter der gegenüberliegenden Küste unterging, und staunte über die Lichter, die sich nach und nach in den Häusern und entlang der Straßen der Stadt entzündeten. Lichter, von denen immer mehr aufglommen, je schwärzer sich die Nacht herabsenkte, bis das Panorama der Stadt wie eine Spiegelung der Milchstraße in einem dunklen See aussah. Bevor eines nach dem anderen verlosch und nur ein schwacher Schein übrig blieb in der tiefen, tiefen Nacht.

»Amber? Ist alles in Ordnung mit dir?« Hinter mir hörte ich Kichern und Tuscheln.

Ein leises Grollen rollte in der Finsternis heran wie das eines Donners, nur tiefer und über den Boden heranpolternd statt durch die Luft. Die Erde zu meinen Füßen erzitterte und schwankte, begann dann heftig zu vibrieren, schließlich zu schütteln; ich ließ mich auf die Knie fallen und warf schützend die Arme über meinen Kopf. Um mich herum, durch mich hindurch rannten Menschen in heller Panik durch die Straßen, schrien und brüllten und weinten, Kinder plärrten und kreischten hoch und schrill.

»Was ist denn mit dir, Amber? Seid mal bitte ruhig da hinten! Fünf Minuten Pause für den gesamten Kurs. Um halb seid ihr alle wieder hier, keine Minute früher und keine später. Und jetzt raus mit euch!« Scharrend wurden Stühle zurückgeschoben; Gummisohlen quietschten, Absätze klackerten über den Boden, und aufgeregtes Flüstern entfernte sich von mir. Dann klappte eine Tür. »Amber? Kannst du mich hören? Amber?«

Verbrannt roch es, ein beizender, ätzender Geruch nach Feuer und Rauch, der mir die Luft zum Atmen nahm, mir die Kehle verätzte und mich würgen ließ. Vorsichtig hob ich den Kopf, in ein schmutziggraues Dämmerlicht hinein, und stand dann langsam auf. Fassungslos blickte ich über die Stadt, die in eine dicke schwärzliche Wolke aus Qualm und Ruß eingehüllt war. Ein dichter Schleier aus Rauch verhüllte den Himmel und verdunkelte die Sonne. Wohin ich auch schaute, sah ich Skelette aus Mauerresten, verbogenen Stahlträgern und verkohltem Holz; nur wenige Häuser standen noch, und in der Ferne nahm ich den Schein lodernder Feuer wahr. San Francisco lag in Trümmern, in Schutt und Asche und brannte immer noch.

»Was ist denn mit dir, hm? Geht’s dir nicht gut?« Eine weiche Hand legte sich auf meine Schulter; ich zuckte zusammen und wandte blinzelnd den Kopf. In einem langen Jeansrock und einer gelbgrünen Tunika mit perlenbesticktem Saum hockte Mrs Jankovich auf der Tischkante und sah mich mitfühlend an. Daneben, die Hände tief in die Taschen seiner schwarzen Kapuzenjacke geschoben und das zu wilden Stacheln gegelte Haar leuchtend blau, stand Matt; unter zusammengezogenen Brauen formte sein Mund ein stummes Was ist los?.

Ich deutete ein Kopfschütteln an und wich seinem bohrenden Blick aus.

Matt räusperte sich. »Der Todestag von Ambers Mutter jährt sich in ein paar Wochen zum ersten Mal. – Stimmt doch, oder, Amber?« Man musste Matt schon ziemlich gut kennen, um die Schärfe in seinen letzten Worten herauszuhören. Ich nickte mechanisch.

»Das belastet dich sicher sehr«, sagte Mrs Jankovich leise und umfasste meine Schulter fester. »Möchtest du nach Hause gehen?« Ich nickte wieder, genauso mechanisch wie gerade eben. »Matt, würdest du so nett sein und …«

»Klar, Mrs Jankovich.« Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Matt sich meinen Rucksack schnappte und mein Schreibzeug und das Geschichtsbuch hineinstopfte. »Ich bring dich nach Hause – ja?!«

Es klang nicht fragend oder wie ein Vorschlag, sondern eher wie ein Befehl. Gehorsam stand ich auf und stakste hinter Matt zur Tür hinaus, an den anderen Schülern des Geschichtskurses vorbei, die vor dem Unterrichtsraum herumlungerten und mich neugierig anstarrten. Allen voran Sharon und Danielle, die eifrig miteinander tuschelten.

»Was ist denn eigentlich mit dir los?!«, fauchte Matt mich in dem leeren und stillen Korridor vor meinem Schließfach an und warf mir den Rucksack entgegen, den ich gerade noch so auffangen konnte. »Du bist schon die ganzen letzten Tage so krass drauf!«

»Nichts ist los«, flüsterte ich; ich konnte ihm dabei nicht in die Augen sehen, sondern bückte mich, um den Rucksack abzustellen, und drillte dann mühselig das Zahlenschloss an meinem Spind auf.

»Red keinen Schwachsinn! Ich merk doch, dass mit dir was nicht stimmt!« Er klang stinksauer, aber auch ziemlich besorgt.

Schweigend und mit schleppenden Bewegungen packte ich meine Sachen in den Rucksack. Ich war müde, so unendlich müde; schwach fühlte ich mich und ausgelaugt. Als ob mein Körper einfach schlappmachte, mit jedem Tag ein bisschen mehr.

»Du kommst auf der Stelle mit mir mit! Und zwar zu Holly – und wenn ich dich an den Haaren dorthinschleifen muss!«

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie seine Hand vorschnellte, um mich beim Arm zu packen, und hastig riss ich meine Schulter zurück. Seine Brauen zogen sich zusammen, seine Augen verdunkelten sich, und ich merkte, dass er nicht nur wütend auf mich war, sondern auch gekränkt. Und bei dem Gedanken, ich könnte jetzt womöglich auch noch unsere Freundschaft kaputt machen, fühlte ich mich gleich noch elender.

Auf meinem Platz in Hollys Küche starrte ich unter halb bockigem, halb erschöpftem Schweigen in die geblümte Uroma-Tasse, in der der Kräutertee langsam kalt wurde. Ich spürte, wie Matt mich von gegenüber genauso eindringlich musterte wie Holly, die mit Tee und Zigarette auf dem Fensterbrett hockte. Ich starrte so angestrengt auf die Tasse vor mir, dass meine Augen brannten, und mir wurde schwummrig.

Unter meinen Sneakers knirschten Sandkörner, trockene Erdklumpen und Steinchen, während ich die schnurgerade Straße entlangging. Zersplitterte Holzbalken lagen herum, ein Haufen abgesägter Äste und dazwischen Müll, den ich mir nicht genau betrachten mochte. Zu beiden Seiten drängten sich zweistöckige Häuser aus Stein aneinander und Holzhäuser unter Giebeldächern, manchmal mit abenteuerlich verwinkelten oder gekrümmten Treppen an ihren Fassaden. Gaslaternen säumten die Bürgersteige aus grob zusammengezimmerten Holzlatten; kleine Kutschen waren vor den Häusern geparkt, manchmal mit einem oder zwei Pferden davor, oft jedoch abgeschirrt und die Deichsel auf der unbefestigten Straße ruhend. Eine Handvoll Kinder tobte johlend und kreischend über die Straße hinweg, kleine Mädchen in hellen, staubverschmierten Kleidchen und Jungs in Stoffhosen und gestreiften Hemdchen, Schiebermützen auf den Köpfen.

»Siehst du das? Siehst du’s?!« Wie durch Watte hörte ich Matts aufgeregte Stimme. »Genau das meinte ich vorhin! Genau das passiert jetzt immer öfter – dass sie diesen glasigen Blick bekommt und irgendwie gar nicht mehr richtig da ist! Abby und Shane ist es auch schon aufgefallen!«

Ich blieb stehen. Der steile Hügel auf der linken Seite war kahlbraun bis auf lang gezogene Mäuerchen, die sich darüberschlängelten, und einzelnen Häuschen, die sich darauf verstreuten. Die Straße vor mir schien an ihrem Ende nahtlos ins Wasser überzugehen, aus dem sich eine nackte braune Insel erhob, und Dunstschleier trieben vom Ufer her auf mich zu, ein kühler, feuchter Hauch, der für mich etwas Verlockendes hatte.

»Herzchen, was ist denn los mit dir?«

Ich blinzelte verwirrt Holly an, die in zerrissenen Jeans und superengem, tief ausgeschnittenem Longsleeve mit Tarnmuster in Pink und Grün neben mir kniete und mich mit ihren warmen braunen Augen besorgt ansah. Ich hatte keine Ahnung, wie ich ihr oder Matt erklären sollte, was gerade mit mir passierte. Immer häufiger driftete ich in eine fremde Welt ab, in der mir alles greifbar real schien, in der ich aber nicht wirklich existierte. Nicht wie in einem lebhaften Tagtraum, sondern viel intensiver. Wie in einer Parallelwelt. Als ob ich immer wieder aus Zeit und Raum herausfiel, wanderte ich ziellos und unsichtbar durch das San Francisco der Vergangenheit. Ganz genau wie eine verlorene Seele.

»Sag doch bitte was, Cutie Pie! Du bist ja ganz blass und hast Ringe unter den Augen! Hast du Kummer? Ist irgendwas zwischen dir und Nathaniel …« Hollys Augen wurden groß. »Sag mir jetzt nicht, dass du es tatsächlich getan hast!«

»Was getan?«, warf Matt genauso knurrig wie neugierig dazwischen.

Ich biss mir auf die Lippen und starrte wieder auf die Tasse vor mir.

»Bitte, Amber, Süße, sag mir, dass das nicht wahr ist!« In Hollys Stimme mischten sich Zorn und Panik.

Matt knallte seine Colaflasche so heftig auf den Tisch, dass ihr Inhalt herausschwappte, sprang auf und fegte um den Tisch herum. »Was hat der Dreckskerl mit dir gemacht? Was?! Nun sag schon!« Seine dünnen Finger bohrten sich in meine Schulter und er schüttelte mich.

Hollys Hand umfasste meine, und die Art, wie sie erschrocken den Atem einsog, wie sie meine Finger, die eisig und schlaff in ihren lagen, vergeblich warm zu reiben versuchte, verriet mir, dass sie ahnte, was mit mir los war.

»Ist … Ist das seit Halloween so?«, fragte sie mit heiserer Stimme, und ich nickte beschämt.

Hollys Augen füllten sich mit Tränen; sie legte die Arme um mich und drückte mich fest an sich. »Du dummes, dummes Häschen, du!«, schluchzte sie gegen meine Schulter.

»Kann mir endlich mal jemand sagen, was los ist?!«, kam es beißend von Matt.