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Bäuchlings lag ich auf der türkisfarbenen Decke, die ich auf dem Rasen hinter dem Haus ausgebreitet hatte, knabberte an einem grünen Apfel und blätterte lustlos in einem der Bücher herum, die neben meinem Rucksack und meinen braunen Flipflops vor mir ausgebreitet lagen. Eigentlich hatte ich ein bisschen was für die Schule machen wollen, die in etwas mehr als zwei Wochen wieder anfing, aber meine Gedanken liefen ständig ins Leere; zum Lernen war dieser Nachmittag, einer der ersten des Monats September, einfach zu schön. Und auch die Flyer der Neigungsgruppen für das kommende Schuljahr übten so gar keinen Reiz auf mich aus; woher sollte ich jetzt schon wissen, ob ich in den nächsten Monaten im Chor singen, beim Schultheater mitmachen oder irgendeinen der Tanzkurse besuchen wollte? Töpfern fand ich doof, und Forensik oder Kreatives Schreiben wären zwar bestimmt ganz spannend, aber so wirklich begeistern konnte ich mich heute auch nicht dafür.

Die tiefgoldene Sonne machte mich mit ihrer Wärme dösig im Kopf, und ich genoss es, wie ein leichter Wind durch meine zum Pferdeschwanz hochgezurrten Haare blies und über meine nackten Beine und Füße strich. Der Luftstrom auf meiner Haut wurde kräftiger; ich giggelte vergnügt, als es auf meinen Waden, in meinen Kniekehlen kitzelte und der Saum meines kurzen olivgrünen Hängerkleidchens aufflatterte, und ich schloss selig die Augen, als sich Nathaniels fließende, luftige Gestalt auf mich legte.

»In meiner Vorstellung riechst du immer nach grünen Äpfeln«, murmelte er in meinen Nacken und drückte wirbelnde Küsse auf meine Schultern. »Ich mag dieses Kleid«, fügte er hinzu, und ein Lächeln tanzte um meinen Mund, als er erst den breiten Träger des Kleides herabstreifte, dann auch den meines BHs und mit seinen Fingern, seinen Küssen wohlige Schauder über meine Haut rinnen ließ.

»Ich muss lernen«, wisperte ich in dem halbherzigen Versuch, ihm zu widerstehen. Ein kehliger Laut kam aus meinem Mund, als Nathaniels Hand über meinen Oberschenkel aufwärtsglitt. Das letzte bisschen Widerstand in mir erlahmte, der Apfel kullerte aus meiner Hand ins Gras, und ich schmiegte mich von Kopf bis Fuß gegen die Decke unter mir, während ich überall auf meiner Haut Nathaniel spürte. Als würde ich zerfließen, so fühlte es sich an, als würde ich selbst zu einem strömenden, wirbelnden Nebel und nur noch aus Luft und Wind bestehen, in dessen Mitte sich eine Wärme ausbreitete, die dann zu glühen begann.

Fester und fester presste ich mich gegen die Decke, gegen das Gras und den Boden darunter, um diese Hitze in meinem Bauch zum Verstummen zu bringen. Diesen Hunger danach, Nathaniels Schultern zu packen und ihn zu küssen, bis auch ihm der Atem wegblieb und nicht nur mir. Danach, warme Haut und Muskeln unter meinen Händen zu haben und nicht nur bewegte Luft; nach der Schwere eines Körpers verlangte es mich und nach dem Duft von Haut und Haaren. Stattdessen krallte ich meine Finger in den weichen Stoff der Decke, bohrte meine Ellenbogen und Hüftknochen hinein, jeder Muskel, jede Sehne meines Körpers angespannt.

»Hör auf«, rutschte es mir heraus, als ich es nicht länger ertrug. »Hör auf. Hör auf!«

Ich schluchzte auf, als Nathaniel sich von mir löste; plötzlich war mir trotz der Wärme der Sonne kalt und ich zitterte. »Es tut mir leid«, flüsterte ich heiser; wie unter Krämpfen bewegte ich mich unruhig auf der Decke, als sich meine Muskeln nach und nach lockerten. »Es tut mir leid.«

Einige Herzschläge lang blieb es still.

»Nein«, hörte ich Nathaniel dann rau sagen. »Mir tut es leid. Dass ich nicht mehr für dich sein kann als das.«

Ich blinzelte; dann rollte ich mich langsam auf die Seite und sah ihn an.

Eine Hand hinter sich aufgestützt und ein Knie angezogen, saß er neben mir und starrte vor sich hin. Ich hatte schon den Mund aufgemacht, um ihm zu sagen, dass es mir genügte, was er war, dass ich nichts anderes wollte, nichts anderes begehrte, aber das wäre gelogen gewesen, und der kurze Blick, den er mir zuwarf, verriet mir, dass er spürte, was in mir vorging. Wann hatte es nur angefangen, so schwierig zu werden zwischen uns?

Ich streckte die Hand nach ihm aus, wie entschuldigend oder zum Trost, aber er langte hinter sich, griff sich eines der Bücher und hielt es mir hin. »Liest du mir vor?«

Er blätterte immer nur kurz durch meine Bücher und meistens, wenn er glaubte, ich würde es nicht bemerken, aber er mochte es, wenn ich ihm daraus vorlas. Mit geschlossenen Augen saß oder lag er dann neben mir und streichelte im Rhythmus der Worte aus meinem Mund über meinen Arm oder mein Bein. Und ich mochte den konzentrierten, dabei aber entspannten und fast andächtigen Ausdruck, den ich auf seinem Gesicht entdecken konnte, wenn ich zwischendurch von den Seiten aufblickte.

Mit einem Nicken nahm ich das Buch und legte mich auf der Decke zurecht. Ich hatte es gerade aufgeschlagen, als in meinem Rucksack harte Elektrobeats losschepperten, die in das schmissige Intro von Navy CIS: L. A. übergingen; ich erstarrte und rührte mich nicht.

»Dein Handy«, wies mich Nathaniel überflüssigerweise darauf hin, und unter seinem irritierten Blick zog ich es dann doch aus der Seitentasche. Ich musste gar nicht erst auf das Display schauen; Navy CIS: L. A. war der Klingelton für Shane, den wir immer damit aufzogen, dass er uns ein bisschen an L. L. Cool J erinnerte.

»Hey«, sagte ich gedehnt in das Smartphone hinein. Lässig hatte ich klingen wollen, aber es kam angestrengt heraus.

»Hey, Amber!«, hörte ich Shane mit einem Auflachen sagen, bevor er mit einem besorgten Unterton fragte: »Ist alles okay bei dir? Du klingst so komisch.«

»Yupp, alles okay.« Ich wich Nathaniels Blick aus und rubbelte über einen Mückenstich auf meinem gebräunten Unterschenkel, obwohl er im Augenblick gar nicht juckte.

»Ich wollt mich nur kurz melden und sagen, dass ich seit heute Morgen wieder im Lande bin.«

»Wie war’s in Stanford?«, erkundigte ich mich, als ob er mir nicht die ganze Zeit über per Mail oder am Telefon schon immer mal wieder ein bisschen was erzählt hätte.

»Ganz okay. Ich hab sogar einiges gelernt – war also nicht nur für den Lebenslauf gut. Bist du in der Franklin Street?«

»Yupp.« Ich streckte die Hand aus und rupfte einzelne Grashalme aus dem Boden.

»Magst du nachher noch bei mir zu Hause vorbeischauen? Auf eine Cola oder so? Dann erzähl ich dir genauer, wie’s war.«

Ich kaute auf der Unterlippe herum. Während ich noch überlegte, hörte ich am anderen Ende der Verbindung im Hintergrund zwei aufgeregt kieksende Mädchenstimmen; es klang, als ob sie stritten, und prompt kreischte die eine schrill auf: Mom! Mom! Moooom!

»Sorry, Amber – hattest du was gesagt? Die beiden Nervensägen liefern sich hier wieder einen Krieg durchs ganze Haus.«

Um meinen Mund zuckte es, während irgendwo hinter Shane eine dunkle Frauenstimme liebevoll, aber sehr entschieden zwischen den beiden zankenden Mädchen vermittelte. Vielleicht konnte ich mit Shane darüber reden, was mich beschäftigte; wenn mich jemand verstehen konnte, dann bestimmt er, dem der Tod seine große Liebe entrissen hatte. »Ja, okay. Gern.«

»Super! Komm einfach vorbei, wann du magst. Ich werd sicher mit den Jungs den ganzen Nachmittag draußen sein, das hab ich über der ganzen Hockerei in Stanford ordentlich vermisst. Und hier ist’s gerade echt nicht zum Aushal … Ey, Kayla!« Ich zuckte zusammen, als er mir aus Versehen ins Ohr brüllte. »Leg das sofort wieder hin! Dir gehört nicht automatisch alles, was du in die Finger kriegst! – Sorry«, wandte sich Shane lachend wieder an mich. »Ich musste meine kleine Schwester gerade davon abhalten, aus meinen Stanford-Unterlagen Origami zu falten, das ist gerade ihre Lieblingsbeschäftigung. Also, komm einfach vorbei. Linie 6, Waller Street eins-drei-drei-vier. Das blaue Haus – Blaulila – oder so ähnlich.«

Ich schmunzelte in mich hinein. »Okay. Bis später.«

»Bis später, Amber.« Er machte eine kurze Pause und fügte leiser hinzu: »Ich freu mich auf dich.« Dann legte er auf.

Bemüht sorgfältig verstaute ich das Smartphone wieder in der Seitentasche; die ganze Zeit über hatte ich Nathaniels Augen auf mir gespürt, und es kostete mich ein bisschen Überwindung, ihn anzuschauen. »Ich geh später noch bei Shane vorbei. Magst du mitkommen?«

Nathaniel schüttelte den Kopf. Kam es mir nur so vor oder zog er sich wirklich mehr und mehr von uns allen zurück? Vielleicht lag es daran, dass Matt und Shane die letzten Wochen nicht da gewesen waren, nur Abby, die Nathaniel zwar mochte, aber zugegeben hatte, dass sie noch immer höllische Angst vor ihm hatte. Ein flaues Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit.

»Ist … ist zwischen uns noch alles gut?«, fragte ich zögerlich.

Ein kleines Lächeln schien auf Nathaniels Gesicht auf und er strich mir über die Wange. »Natürlich.« Er hob das Buch von der Decke auf und hielt es mir hin. »Hast du noch ein bisschen Zeit?«

»Natürlich«, wiederholte ich automatisch, nahm ihm das Buch ab und kuschelte mich eng an ihn.

Und während ich ihm vorlas und er über meinen Arm strich, die Augen geschlossen und seine Miene entspannt, da war es wirklich wieder wie früher. Bevor das zwischen uns so schwierig geworden war.