26
Ihr so nahe zu sein, war Himmel und Hölle zugleich.
Ich musste meine ganze Kraft aufbieten, um sie nicht ständig anzustarren. Als sie sich zu mir umdrehte und sich aufstützte, klaffte der Stoff zwischen den Knöpfen ein wenig auf. Im Ausschnitt der Bluse lag eine kleine goldene Sonne auf ihrer Haut und die dünne Kette lenkte meinen Blick auf eine pochende Ader an ihrem Hals. Ich wollte meinen Mund auf ihre Haut pressen und ihren Pulsschlag spüren, wollte spüren, wie lebendig sie war, und ein Zittern durchlief mich.
Etwas an ihrem Gesicht war heute anders als sonst. Ihre Wimpern waren dunkler, dichter und länger und ließen ihre Augen, die funkelten wie Sonnenlicht auf dem Wasser, noch größer wirken. Ihre Wangen glühten, und ich konnte fühlen, wie es sie näher und näher zu mir zog. Wie etwas an ihr mich umschmeichelte, vorsichtig, beinahe scheu und dennoch beharrlich. Als ihr kleiner Finger sich auf meinen zubewegte, fuhr ich hoch und rutschte beiseite.
Ich spürte, wie sie versteinerte, und sah aus dem Augenwinkel, dass sie sich langsam aufsetzte. Sie saß nur da und starrte ins Leere, bevor sie dann hastig zu ihren Schuhen griff.
»Ich muss gehen«, flüsterte sie tonlos.
Ich konnte sie nicht anschauen; mit gesenktem Kopf stierte ich auf meine Hände, die sich ineinandergekrampft hatten. Sie tat ein paar Schritte, dann blieb sie stehen. Ich spürte, dass sie noch etwas sagen wollte, hin und her gerissen zwischen Verwirrung, Scham, Enttäuschung und Wut, aber dann drehte sie sich einfach um und ging wortlos davon.
Als ob mein Zustand nicht schon Strafe genug war. Mir aber noch ein hübsches Mädchen zu schicken, das mich vollkommen betörte, ohne dass ich jemals richtig mit ihr zusammen sein konnte – das war Folter.
Ich wälzte mich auf meinen Bauch, auf die Stelle der Decke, an der sie eben noch gelegen hatte. Ich wünschte, sie wäre noch hier und ich könnte mich zu ihr legen und sie küssen, ebenso heftig und ungestüm wie sanft und behutsam. Damit sie am ganzen Körper fühlte, was sie für mich war.
Ich krallte mich in den Stoff unter mir und jäh schoss flammender Zorn in mir hoch. Ich hörte das Knistern, als sich ihre Bücher aufblätterten. Eins nach dem anderen flog rauschend und zischend durch die Luft, eins nach dem anderen klatschte gegen die Wand, bevor es zu Boden polterte; ein Möbelstück fiel krachend um, dann irgendwo im Haus ein zweites.
Ich hatte sie nie angelogen und doch kam ich mir vor wie ein Betrüger. Was hätte ich ihr auch auf ihre Fragen antworten sollen? Nur an Bruchstücke meines früheren Lebens erinnerte ich mich noch. Der Rest war von dickem grauem Nebel zugekleistert, bis hin zu dem finsterschwarzen Nichts, aus dem ich danach hervorgekommen war. Und auch das Danach begann mehr und mehr zu verschwimmen nach all der Zeit. Wenn ich ihr die Wahrheit gesagt hätte, hätte sie mir kein Wort geglaubt. Oder wäre schreiend davongelaufen.
Und das zu Recht.