24
Ich verstummte und starrte in den Raum vor mir, in dem ein sanfter grauer Hauch lag, von blassen bläulichen und violetten Schlieren durchzogen. Ein zarter Rest von Licht, der auf dieser Seite des Buntglasfensters hereinsickerte, während draußen eine blasse Sonne gegen den Märznebel ankämpfte. Ich umschlang meine Knie mit einem Arm, während meine andere Hand unruhig Fäden aus dem zerfledderten Saum meiner Schlagjeans rupfte.
»Das tut mir leid«, hörte ich Nathaniel schließlich leise sagen.
Ich sah ihn nicht an. Ich wusste auch so, dass er in fast derselben Haltung dasaß wie ich, mit dem Rücken an die Wand unter dem Fenster gelehnt und die Knie angezogen. Ein Stückchen abseits der Decke, auf der ich hockte, und jenseits des Bücherstapels, den ich die ganzen letzten Nachmittage nicht mehr angerührt hatte.
»Ja, mir auch«, flüsterte ich rau.
Ich wusste nicht, warum ich ihm von Mam erzählt hatte. Vielleicht weil ich das Gefühl hatte, dass er sich wirklich für mich interessierte, wo ich herkam, wie ich lebte und wer ich war. Vielleicht weil er mir zuhörte und mir das Gefühl gab, dass er mich verstand, wenigstens ein bisschen. Weil ich ahnte, dass er nicht mit betretener Miene zu Boden starren und schnell das Thema wechseln oder mich bestürzt ansehen und dann hastig irgendwelche Floskeln hervorstoßen würde, nur um danach mit sichtbarer Erleichterung wiederum über was anderes zu reden.
»Wann hast du es erfahren – dass sie sterben wird?«
In meinem Gesicht zitterte es; ich senkte den Kopf und zupfte an der Zehennaht meiner Socke herum. »Gleich ziemlich am Anfang.«
Natürlich hatte ich es komisch gefunden, dass Gabi mich an jenem Nachmittag von der Schule abholte, um mit mir Eis essen und danach noch ins Kino zu gehen. Aber in der letzten Zeit war manches bei uns komisch gewesen. Mam hatte sich nicht gut gefühlt und auch nicht gut ausgesehen, und oft musste ich ihr alles zwei- oder dreimal erzählen, weil sie mit den Gedanken ganz woanders gewesen war. Genau wie Gabi an diesem Nachmittag, und im Kino hatte sie bei jeder nur ein klein wenig rührseligen Szene losgeheult und ein Tempotaschentuch nach dem anderen vollgeschnieft.
Danach waren wir noch bei McDo gewesen, und als Gabi mich nach Hause brachte, war es schon fast Schlafenszeit gewesen. Aber obwohl sie und Mam hinter der geschlossenen Glastür zum Wohnzimmer nur flüsterten, konnte ich nicht einschlafen. Kurz nachdem Gabi gegangen war, hatte das Telefon geklingelt. So spät rief bei uns nur einer an: Ted. Ich war schnell aus dem Bett geschlüpft und über den Flur geschlichen und hatte die Ohren gespitzt. … kein Problem, ich war eh noch wach. Danke, dass du so schnell zurückgerufen hast. – Nein, nicht gut. Genau wie befürchtet. Dann hatte Mam ein paarmal schwer durchgeatmet. Unser Mädchen wird dich bald brauchen, Ted. Ich weiß noch gar nicht, wie ich’s ihr sagen soll …
Ich hatte es nicht mehr ausgehalten und die Tür aufgerissen. Was sagen, Mam? In meinem Kopf purzelten alle möglichen Gedanken durcheinander; einige Augenblicke lang hoffte ich mit einem Hüpfen im Bauch sogar, Mam und Ted würden wieder zusammenkommen. Aber die Art, wie Mam mich vom Sofa aus ansah, als würde sie sich nur mühsam zusammenhalten und könnte jeden Augenblick in Stücke gehen, ließ mir übel werden vor Angst. Mam! Was sagen? Heiser hatte sie in den Hörer geflüstert, dass sie später zurückrufen würde, und aufgelegt. Ich hatte mich in ihre ausgebreiteten Arme geschmissen, und während sie mich festhielt und mir über die Haare strich, hatte sie mir von dem Tumor in ihrem Kopf erzählt, von CTs und MRTs, von der bevorstehenden OP, von Bestrahlungen und Chemos und dass wir nur noch maximal ein halbes Jahr zusammen haben würden. Und die ganze Zeit, während ich versuchte, irgendwie zu begreifen, was sie mir da erzählte, brannten Tränen hinter meinen Augen.
Von denen keine einzige je hervorkam. Nie. Als wären sie dort eingefroren, irgendwo hinter meiner Stirn.
»Erzähl mir von ihr.«
In meinem Gesicht gab etwas nach, und ich spürte, wie sich ein Lächeln darauf ausbreitete. »Mam … Mam war einfach klasse. Ich konnte über alles mit ihr reden, sie fand nie etwas albern oder seltsam oder dumm, was mich beschäftigte. Es war nicht so, dass ich automatisch alles bei ihr durfte, aber wenn sie mir was verboten hat, hat sie mir den Grund erklärt, damit ich auch verstand, warum das nicht ging. Sie war klug und witzig und eigentlich immer gut gelaunt.« Das Lächeln auf meinem Gesicht dehnte sich weiter aus, und mir kitzelte es irgendwo hinter dem Brustbein, als ich Mam vor mir sah, in den ramponierten Jeans und den mit Logos oder witzigen Slogans bedruckten Longsleeves, die sie zu Hause trug, die langen Haare zum Pferdeschwanz hochgebunden oder mit einer großen Klammer hochgewurschtelt, ungeschminkt und meistens barfuß. »Mit ihr zusammen hat alles Spaß gemacht, sogar so simple Dinge wie im Supermarkt einkaufen zu gehen. Sie fand immer etwas, wozu sie eine lustige Bemerkung machen konnte, über die wir uns dann kaputtlachten. Und beim Putzen hat sie immer die Musik voll aufgedreht und laut mitgesungen.« Das Kinn vorgeschoben, nickte ich vor mich hin. »Sie war echt eine tolle Mam.«
»Klingt nach jemandem, den ich gerne kennengelernt hätte.«
Ich wandte den Kopf. Einen scheuen, fast schon weichen Zug um den Mund, sah Nathaniel mich an, den Ellenbogen auf dem Bein aufgestützt und die Finger in seinen Haaren vergraben. Ich fragte mich, wie sich diese dicken Kringel und Wellen wohl unter meinen Händen anfühlten, und hastig richtete ich den Blick wieder auf meine Socke, die ich mir inzwischen halb vom Fuß gezerrt hatte.
»Ich glaube, jeder mochte sie«, sagte ich leise und drehte den Sockenzipfel um den Zeigefinger. »Wenn sie freitags oder samstags mit ihrer Ausrüstung losgezogen ist, um Brautpaare zu fotografieren, kam sie oft mit einem riesigen Pappteller voller Kuchen wieder nach Hause, und manchmal hat sie hinterher eine nette Karte mit Trinkgeld zugeschickt bekommen. Sie konnte einfach gut mit Menschen. Sie ist immer ganz offen auf alle zugegangen.«
Ob das auch für Nathaniel gegolten hätte? Ich versuchte mir vorzustellen, was Mam dazu sagen würde, dass ich mich mit einem Obdachlosen angefreundet hatte. Hätte sie Nathaniel gemocht? Hätte ich ihn vielleicht mal mit nach Hause bringen dürfen? Oder wäre da selbst ihre sonst so tolerante Einstellung an Grenzen gestoßen?
Aus dem Augenwinkel schielte ich zu ihm hin. Er trug jeden Tag dieselben Klamotten, und ich rieb beschämt das Kinn an meiner Schulter, als ich daran dachte, wie ich die ersten Male, die er hier neben mir gesessen war, verstohlen in seine Richtung geschnuppert hatte. Aber außer einem schwachen Duft, der mich an frisches grünes Moos erinnerte und ein bisschen an in der Sonne getrocknetes Treibholz, ein Duft, der genauso gut von dem vielen alten Holz in diesem Raum hier hätte stammen können, hatte ich nichts gerochen. Ich hatte schon daran gedacht, ein T-Shirt oder einen Sweater von Ted zu mopsen und Nathaniel mitzubringen; war ja gut möglich, dass das eine oder andere Kleidungsstück mal irgendwo in den Maschinen und Trocknern von Lewey/Dewey verschüttging. Ihm ein bisschen Geld zu geben, war mir auch schon in den Sinn gekommen, aber ich hatte mich dann doch nicht getraut. Ich wollte ihn nicht kränken, wo er schon jedes Mal abwehrte, wenn ich ihm von meiner Cola light und meinen Keksen anbot.
Ich ließ mich mit dem Rücken gegen die Wand fallen und sah Nathaniel von der Seite her an. »Wir reden immer nur über mich«, wisperte ich. »Nie über dich.«
Er löste die Finger aus seinen Locken und richtete sich auf; die Hände locker umeinandergelegt und die Unterarme auf den Knien, rieb er mit der Ferse seines Schnürschuhs über den Boden. »Da gibt es auch nichts groß zu erzählen.«
»Hast du denn keine Familie? Eltern oder – oder Geschwister?«
Seine Brauen zogen sich zusammen. »Ich hatte einmal so was wie Familie. Ist lange her.« Trocken klang seine Stimme dabei, fast schon spröde.
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte; verlegen drehte ich Mams Armbanduhr um mein Handgelenk und mein Blick fiel auf das Zifferblatt. Kurz vor sieben. Halb sieben war für freitags ausgemacht. »Oh Shit! Shit!«
Hektisch kramte ich mein Smartphone aus dem Rucksack. Immerhin hatte Ted noch nicht angerufen oder gesimst, wo ich denn blieb; ich konnte nur hoffen, dass er noch an der Uni zu tun hatte. Hastig tippte ich eine Nachricht, dass ich unterwegs war, stopfte das Handy zurück in die Seitentasche, zerrte meine Socke hoch und zog mir die Sneakers an, bevor ich aufsprang. »Ich muss leider los!«
Nathaniel war schon vor mir aufgestanden. »Sehen wir uns morgen?«
»Klar!« Ich schulterte den Rucksack, dann ballte sich meine Hand zur Faust. »Mist. Morgen ist Samstag, da kann ich nicht.« Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich auch die Wochenenden hier verbracht, aber ich wollte Ted nicht misstrauisch machen. Außerdem gab er sich solche Mühe, mir die Stadt zu zeigen. »Montag wieder?«
Nathaniel nickte und schob die Hände in die Hosentaschen.
Bye, wollte ich mich von ihm verabschieden, aber es blieb mir im Hals stecken. Sein Blick, den er mir mit leicht gesenktem Kopf zuwarf, halb enttäuscht, halb sehnsüchtig, ging mir durch und durch. Eine wellige Haarsträhne, die sich verzwirbelt hatte, fiel zurück an ihren Platz, während er mit der Kante seines Schuhs über den Boden fuhr. Nur schwer konnte ich mich von seinem Anblick losreißen und ihm noch ein flattriges Lächeln schenken, während mein Magen Achterbahn fuhr.
Mit Looping.
Die Wohnungstür war nicht abgeschlossen und dahinter empfing mich der hell erleuchtete Flur. Neben dem Sideboard stand Teds Rucksack; obendrauf lagen sein Sakko und nachlässig hingeworfene und teils geöffnete Briefe. In der Küche, in der Ted sonst um diese Zeit schon mit den Vorbereitungen für das Abendessen beschäftigt war, brannte kein Licht. Ich schnitt eine Grimasse, schlüpfte aus Rucksackgurt und Sweatjacke und holte ein paarmal tief Luft; Ted sollte möglichst nicht merken, dass ich von der Franklin Street bis hierher gerannt war, anstatt irgendwo an einer Ecke aus einem haltenden Auto ausgestiegen zu sein.
»Bin da-haa«, rief ich in die Wohnung hinein, und als keine Antwort kam, fügte ich fragend hinzu: »Ted?«
»Im Arbeitszimmer«, ertönte es aus der hinteren Ecke der Wohnung, und während ich den Flur entlangging, suchte ich fieberhaft nach einer glaubhaften Ausrede.
»Tut mir total leid, dass ich zu spät bin«, sprudelte ich schon heraus, noch bevor ich am Türrahmen anlangte. »Ich – wir … Ups.«
Der Boden des Arbeitszimmers war übersät mit aufgeklappten Ordnern und ausgebreiteten Unterlagen. Noch in seinen Uniklamotten, kniete Ted mittendrin und blinzelte mich hinter seinen Brillengläsern an. Mit dem Zeigefinger schob er die Manschette seines blassrosa Hemdes hoch, um auf die Uhr zu schauen, und seufzte auf. »Ich bin ein solcher Rabenvater! Ich merk’s nicht mal, wenn du zu spät nach Hause kommst, und mit dem Kochen hab ich auch noch nicht angefangen.«
»Ich kann ja schon ein bisschen was machen«, schlug ich vor, erleichtert, dass ich wohl ohne Ermahnung davonkommen würde.
»Oder wir lassen uns was liefern«, ergänzte Ted beiläufig, während er schon wieder in einem der Ordner herumblätterte und vor sich hin brummelte. »Irgendwo hier muss doch …«
Ich lehnte mich gegen den Türrahmen. »Steuererklärung?«
»Nein, leider nicht.« Er grinste schief, während er weiter den Ordner durchsuchte. »Ich hab heute Post aus Deutschland bekommen. Ich muss nachweisen, dass ich ein anständiger Bürger der Vereinigten Staaten bin und weder Haftstrafen verbüßt habe noch von den Behörden wegen irgendeines Delikts gesucht werde. Dass ich über ein geregeltes Einkommen verfüge, dir ein Dach über dem Kopf bieten und auch sonst für dich sorgen kann. Ah, da ist es ja!« Triumphierend hielt er ein mehrseitiges Dokument in die Höhe, ließ es aber gleich darauf sinken und sah mich an, die Brauen zusammengezogen und einen bekümmerten Zug um den schmalen Mund. »Hast du davon gewusst, dass die Seemanns die Sorgerechtserklärung zwischen Karen und mir anfechten wollen?«
Mein Magen klumpte sich zusammen; ich wich Teds Blick aus und rubbelte mit dem Daumen über den Türrahmen. »Kann sein, dass Opa mal so was erwähnt hat«, murmelte ich und schielte dann schuldbewusst wieder zu Ted.
Er starrte einige Augenblicke vor sich hin, dann hockte er sich seufzend auf den einzigen freien Fleck am Boden und fuhr sich durch die Haare. Traurig sah er aus, als er den Kopf hob und mich anschaute. »Ist es für dich wirklich so schrecklich, hier bei mir zu sein?« Ich kam mir ziemlich mies vor.
Der Klumpen in meinem Bauch entspannte sich etwas, als ich an Nathaniel dachte. Und mir fiel ein, dass ich gar nicht mehr zu meinem Notizbuch gegriffen und die Tage abgestrichen hatte, die ich noch hier in San Francisco verbringen musste. Die letzten paar Wochen waren alles in allem wirklich ganz okay gewesen, aber …
»Es ist nicht mein Zuhause«, erwiderte ich schließlich langsam.
Der Ausdruck auf Teds Gesicht wurde weich. »Nein, das ist es nicht. Das Zuhause, das du kanntest, gibt es leider nicht mehr. Nirgends. Weil Karen nicht mehr da ist. Und das tut doppelt weh.«
Ich schluckte und mein Mund verkrampfte sich.
Ted atmete tief durch, nahm seine Brille ab und rieb sich über das Gesicht. »Aber ich werde alles tun, damit du dich irgendwann wieder zu Hause fühlen kannst. So ein bisschen kenne ich das aus eigener Erfahrung. Ich war acht, als sich meine Eltern scheiden ließen. Danach war auch nichts mehr wie vorher.« Er setzte seine Brille wieder auf und sah mich an. »Damals hatte ich mir geschworen, dass ich es mal besser machen würde. Ich wünschte, ich hätte es besser hinbekommen.«
Ich kaute auf meiner Unterlippe herum. »Wo sind deine Eltern jetzt?«, fragte ich dann vorsichtig.
Ted klappte einen Ordner nach dem anderen zu. »Mein Vater ist gestorben, kurz bevor ich nach Deutschland gegangen bin. Meine Mutter lebt schon lange in Palm Springs mit ihrem dritten – nein, vierten Ehemann.«
Ich hatte nie etwas von einer Oma in Amerika gehört. »Weiß sie, dass es mich gibt?«
Ted warf mir einen kurzen Blick zu. »Ja. Ich habe ihr immer wieder Fotos von dir geschickt.« Er seufzte. »Das hat sie leider nie besonders interessiert. Sie hat’s nicht so mit Kindern. Auch nicht mit ihren eigenen.«
»Du hast noch eine Schwester, richtig?«
»Tracy, ja.« Grinsend stapelte Ted die Ordner aufeinander. »Die froh ist, wenn sie in ihrem beschaulichen Vorort in New Jersey nichts von mir hört oder sieht. Sie ist acht Jahre älter als ich und trägt es mir bis heute nach, dass sie sich nach der Scheidung unserer Eltern viel um mich kümmern musste.« Er stand auf und schob einen Ordner nach dem anderen ins Regal. »Ich nehme an, dass sie deshalb nie Kinder wollte.«
Ich sah ihm zu, wie er nach und nach die Unterlagen einsammelte und wieder an ihrem Platz verstaute; dann nahm ich meinen ganzen Mut zusammen. »Erzählst du mir mehr? Von dir – von früher?« Meine Stimme war kaum zu hören.
Ted drehte sich um und sah mich überrascht an. »Natürlich. Gerne sogar. Wenn du magst, können wir auch Fotos anschauen.« Er deutete auf den Turm aus Schuhkartons neben dem Ledersessel in der Ecke, die als Einzige noch nicht ihren Platz gefunden hatten; sonst waren alle Kisten und Kartons ausgeräumt und ihr Inhalt in die Regale und Vitrinen gewandert. Aus dem halb fertigen Apartment war eine richtige Wohnung geworden. Als ich nickte, schien ein Lächeln auf Teds Gesicht auf.
»Ich bin hier gleich fertig. Bestell doch so lange schon mal Pizza für uns zwei.«