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Die Finger in meinem Schoß umeinandergekrampft, starrte ich auf das Bücherregal von Dr. Katz. Das Insekt in seinem Gefängnis aus Bernstein war es, von dem ich heute meinen Blick nicht lösen konnte; wie unter einem Bann musste ich es immerzu betrachten.

»Was fällt dir dazu ein?«, hörte ich die leise Stimme von Dr. Katz aus dem Sessel gegenüber.

»Es ist ganz komisch«, erwiderte ich mit einem dünnen Auflachen. »Erst habe ich daran gedacht, dass mein Name ja Bernstein bedeutet. Dann, dass ich mir vorkomme wie dieses Insekt, genauso in etwas gefangen. In etwas Hartem, Transparentem, durch das mich die anderen sehen und ich sie, aber trotzdem ist da diese Wand dazwischen. Und dann dachte ich, dass ich dieses Insekt irgendwie beneide. Weil es konserviert ist. Weil es sich nicht verändert. Weil es … solide ist.« Beschämt schielte ich zu Dr. Katz hinüber. »Das macht nicht besonders viel Sinn, oder?«

Ein kleines Lächeln zeichnete sich auf dem Gesicht von Dr. Katz, heute in ihrer grellfarbigen Hibiskusblütenbluse, ab. »Für mich ergibt das durchaus Sinn, Amber. Was du erlebt hast, trennt dich von den anderen. Und du schottest dich auch auf eine ganz bestimmte Weise selbst von allem ab, weil du immer noch einen sehr großen Teil deiner Gefühle vor dir selbst versteckst. Jetzt kommst du schon so viele Monate zu mir, und wir haben noch immer nicht darüber gesprochen, wie es dir mit dem Tod deiner Mutter geht. Oder mit deinem Umzug hierher nach San Francisco.«

»Da gab es eben immer so viel anderes«, murmelte ich schuldbewusst und auch ein bisschen gereizt.

»Das dich wunderbar von dem ablenkt, was an Gefühlen in der Tiefe immer noch da ist, was du dir aber nicht anschauen willst. Da hast du deine transparente Wand, die du selbst in dir hochziehst.«

Bockig betrachtete ich meine ineinander verhakten Finger und zog die Unterlippe zwischen die Zähne.

»Und natürlich sehnst du dich danach, irgendwie konserviert zu sein«, fuhr sie fort. »Danach, dich nicht zu verändern. Dein ganzes Leben wurde von heute auf morgen auf den Kopf gestellt und das ist nicht so einfach zu verkraften. Schon gar nicht, wenn man so jung ist wie du.« Sie machte eine kleine Pause. »Fühlst du dich denn nicht solide?«, kam es dann sanft von ihr.

Ganz automatisch schüttelte ich den Kopf. Nachdem ich die letzten Wochen bei Dr. Katz damit verbracht hatte, entweder stumm meine fünfzig Minuten abzusitzen oder sie mit Kleinkram aus der Schule zuzutexten, brachte ich dafür jetzt nicht mehr die Kraft auf. »Ich bin dabei, mich aufzulösen«, rutschte es mir heiser heraus. »Und das macht mir furchtbare Angst.« Unwillkürlich atmete ich auf, weil es endlich raus war, und mir war in diesem Moment völlig egal, was Dr. Katz über mich dachte.

»Das verstehe ich sehr gut. Das ist auch etwas Schreckliches, Beängstigendes.«

Verblüfft sah ich sie an. »Sie verstehen das?«

Dr. Katz nickte. »Natürlich. Wie fühlt sich dieses Auflösen denn genau für dich an?«

»Als ob …« Ich zögerte. »Als ob mit jedem Tag weniger von mir da wäre. Als ob ich verblassen und langsam zu einem … zu einem Schatten werden würde.« Es irritierte mich, wie flott ihr Kugelschreiber über die Seiten auf dem Klemmbrett glitt und dabei viel mehr festzuhalten schien als die paar Worte, die ich gerade gesagt hatte. Und noch mehr irritierte es mich, dass Dr. Katz gleich darauf den Kugelschreiber auf das Klemmbrett legte und die Hände auf den beschriebenen Seiten faltete.

»Siehst du, Amber – wenn man so große, mächtige Gefühle irgendwo tief in sich begräbt, kostet das Kraft. Manchmal sogar so viel Kraft, dass es einen von innen her auffrisst. Dass es einen komplett leer saugt, bis wirklich nur noch ein Schatten von einem selbst übrig bleibt. Und ich verstehe sehr, sehr gut, dass du bis heute davor zurückscheust, dich mit deinen Gefühlen, was deine Mutter angeht, auseinanderzusetzen. Du musstest sie die ganze Zeit verdrängen, um ihre Krankheit und ihren Tod überstehen zu können. Das war für dich eine Frage des seelischen Überlebens.«

Als hätte Dr. Katz den Verband einer Wunde abgerissen, so fühlte es sich an, eine Wunde, bei der sich Mullbinde und Heftpflaster mit dem Schorf verklebt hatten, und es tat scheußlich weh. Hinter meiner Nasenwurzel prickelte es; plötzlich brannten meine Augen, und bevor ich es verhindern konnte, rollte eine Träne über meine Wange.

»Du bist hier in Sicherheit, Amber«, fügte sie weich hinzu. »Hier bei mir, in diesen vier Wänden, geschieht dir nichts, das verspreche ich dir.«

Ich schüttelte den Kopf. Auch Dr. Katz konnte nicht verhindern, was gerade mit mir passierte, niemand konnte das. Und trotzdem machten mir ihre Worte Mut, und leise sagte ich: »Mir macht auch Angst, dass ich immer wieder in die Vergangenheit abtauche.« Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Dr. Katz zu ihrem Kugelschreiber griff und sich eilig ein paar Notizen machte.

»Wundert dich das?«, warf sie dabei kurz ein. »Du hast nichts von dem verarbeitet, was dir im vergangenen Jahr widerfahren ist.«

»Es ist nicht meine Vergangenheit, in die ich da hinüberrutsche!«, blaffte ich und schaute Dr. Katz herausfordernd an.

Gelassen hielt sie meinem Blick nicht nur stand, sondern lächelte sogar und legte ihren Kugelschreiber wieder beiseite. »Die menschliche Seele hat eine eigene, sehr alte Sprache, Amber. Sehr viel älter als unser Denken von heute. Deshalb verstehen wir Menschen von heute oft nicht, was uns unsere Seele sagen will. Und deine Seele versucht dir offenbar gerade zu sagen, dass der Weg für dich da heraus«, sie deutete auf das im Bernstein eingeschlossene Insekt, »und gleichzeitig zurück zu einer soliden Amber über die Vergangenheit führt.«

Dr. Katz konnte unmöglich von Nathaniel und mir wissen, das hatte ich ihr immer verschwiegen, und trotzdem kam es mir so vor, als hätte sie mir gerade die Antwort auf eine Frage gegeben, die mich in den letzten Tagen verfolgte. Seitdem Holly, Abby, Matt, Shane und ich in jeder freien Minute Bücher und Artikel durchstöberten und versuchten, in wildem Brainstorming und hitzigen Diskussionen eine Erklärung zu finden und – vielleicht – Hilfe für Nathaniel und mich.

»Und wenn …« Ich schluckte nur schon bei dem Gedanken daran. »Und wenn ich dadurch etwas … oder jemanden verlieren sollte, der mir … mir alles bedeutet?« Eine weitere Träne rann mir übers Gesicht.

In den grauen Augen von Dr. Katz schimmerte es warm auf. »Sollte das wirklich unausweichlich sein … dann werde ich für dich da sein und dir helfen, damit zurechtzukommen und damit zu leben.«