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Ich hatte mich geirrt.
Das hier war das wahre Wunder, das hier mit Amber.
Die Tage bis Halloween waren pure Folter gewesen. Wie ein Irrer war ich im Haus umhergewandert, getrieben von der Vorstellung, ob sie gerade mit Shane zusammen war, er sie in den Armen hielt und sie küsste, vielleicht gar mehr. Und schlimmer noch war der Gedanke, dass sie dabei ihr Herz an ihn verlor, das ich mehr als alles andere an ihr für mich haben wollte. Gepeinigt war ich von der Angst, mir etwas vorzumachen. Dass ich mich vielleicht an Halloween anders fühlen würde, es aber für sie womöglich keinen Unterschied machte. Dass diese Nacht für uns nur eine ganz gewöhnliche sein würde, in der nichts anderes geschehen konnte, als zuvor schon geschehen war.
Und als es draußen dunkel wurde und ich spürte, wie sich meine Kraft zusammenzog und verdichtete, meine Gestalt schwerer wurde und der Boden unter meinen Füßen mir Widerstand bot, wagte ich nicht einmal den Versuch, ob ich noch durch Wände gehen konnte. Aus Angst, ich sei womöglich noch genau derselbe wie bei Tageslicht, nur mit einer anderen Wahrnehmung meiner selbst.
Dann kam sie auf das Haus zu, wie ein blaues Flämmchen, das leichtfüßig und leuchtend durch die Nacht tanzt, und ich musste lächeln, als ich spürte, wie es ihr ging. Alles an ihr schwang hoch und hell, als ob ihre Seele sang, mit kleinen, schiefen Noten darin wie von ein bisschen Furcht. Ihre Freude ließ mich unsicher werden; sie erwartete so viel und ich wollte sie nicht enttäuschen.
Für mich war sie immer hübsch gewesen, ganz gleich ob sie wachte oder schlief, ob sie mich anlächelte oder wütend auf mich war und gleich, was sie anhatte. Aber heute war sie das Schönste, was ich je gesehen hatte, in ihren blauen Sachen und mit diesem unglaublichen Strahlen in den Augen.
Und dann geschah dieses unmögliche, unfassbare Wunder, dass ich ihre Hände auf mir spürte. Ihre Haut konnte ich unter meinen Fingern fühlen, die so viel wärmer und zarter war, als ich es mir vorgestellt hatte, und ihren heftigen Pulsschlag darunter. Ihren weichen Mund und ihr Haar, das zwischen meinen Fingern wie aus reinster Seide war. Und ich schwöre bei meiner unsterblichen Seele, dass Amber nach grünen Äpfeln roch und schmeckte, nach denen mit der harten Schale, die erst frisch und ein bisschen herb sind und in denen dann doch eine unerwartete Süße steckt.
»Warte«, hörte ich sie wispern. Sie stemmte die Handflächen von unten gegen meine Brust, schob mich beiseite und setzte sich auf, bevor sie sich die Bluse über den Kopf zog und sich mir zuwandte, dann locker an meinem Hemd zupfte. »Kannst du das vielleicht auch ausziehen?«
Ich lächelte, nicht zuletzt über ihre Wangen, die so gerötet waren, dass ich es selbst im Kerzenschein sah. Ja, ich konnte, heute Nacht konnte ich dieses Hemd abstreifen, das sonst eins war mit meiner Erscheinung. Und weil ich schon dabei war, zog ich Schuhe und Strümpfe aus und zerging beinahe, als ich ihre nackten Fußrücken an meinen Sohlen spürte.
Erst wanderten ihre Augen über meine Brust, dann ihre Hände. Sie ließ sich zurück auf die Decke sinken, und ich betrachtete, wie sich ihr Haar hinter ihr auffächerte, wie ihre Augen funkelten, aufgeregt, aber ohne Angst, und wie hell ihre Haut leuchtete gegen das Blau der Spitze. Es machte mich verrückt, wie Amber erschauerte, als ich ihren Bauch küsste, wie sie sich wand und kicherte, wenn ich sie dabei unabsichtlich kitzelte.
Bebend tasteten ihre Hände nach dem Knopf an ihrer Hose; sie öffnete ihn und zog sie aus, schälte dann auch noch dieses bisschen Spitze von ihrer Haut.
Das wäre der Moment gewesen, in dem wir hätten aufhören sollen. Ab dem wir uns mit dem hätten zufrieden geben sollen, was uns bis jetzt, in dieser Nacht, geschenkt worden war. Aber ich konnte ihr in diesem Moment nicht widerstehen und ich wollte es auch nicht. Nicht Amber, meinem Funny Girl.
Ich sah ihr in die Augen, während ich mich vollends entkleidete, bereit, sogleich aufzuhören, falls ich ihr ansehen sollte, dass sie das nicht wollte. Aber sie hielt mich nicht auf, im Gegenteil.
Ihren Körper ganz an meinem zu spüren, war der Himmel. Und wenn ich dafür erst hatte sterben und über hundert Jahre lang als verlorene Seele umherwandern müssen, dann war das kein zu hoher Preis dafür gewesen. Zu spüren, wie unsere Seelen im selben Rhythmus zu schwingen begannen, war das alles wert gewesen. Und dennoch zögerte ich.
»Bist … bist du dir sicher, dass du das willst?«
»Ja«, hauchte sie. »Ich will. Ichwillichwill.«
Als ob ich oben auf einer Klippe stand, so war es für mich, und während der Wind verlockend über meine Haut strich und mir durch das Haar fuhr, breitete sich unter mir der Ozean aus. Ich ließ mich einfach fallen, in diesen Ozean, der Amber war. Und ich war kein Geist mehr, kein Sünder und keine verlorene Seele. Sondern nur Nathaniel.
Einfach Nathaniel.