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Es gab Momente, in denen ich dachte: Es ist ein Wunder, nichts als ein Wunder. Nicht allein, dass sie mich sehen und hören konnte. Sondern dass sie bei mir sein wollte, sooft sie konnte. Wie eine heranwogende Meereswelle war es, wenn sie sich dem Haus näherte, ein tiefes, dunkles Rauschen, das in ein helles Schäumen und Sprudeln überging, und dann konnte ich meist schon hören, wie sie durch den Korridor rannte. Bis sie gleich darauf vor mir stand, atemlos, mit strahlenden Augen und einem Lachen auf dem Gesicht, bevor ich dann die Arme um sie schlang und ihr Mund sich auf meinen legte.

Nur wer wie ich zwischen Diesseits und Jenseits gebannt war, hätte zu verstehen vermocht, wie es für mich war, neben ihr auf dieser Decke zu liegen und sie nicht nur anzusehen, sondern auch zu berühren. Berührungen, die sie erwiderte, indem ihre Hände über meine Form wanderten und dann in mich einsanken, meine Kraft verwirbelten und mal wilder, mal ruhiger strömen ließen, bis ich völlig benommen war und keinen einzigen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Und wenn sie sich so eng an mich drückte, dass sie in mich eintauchte, wenn ihre Wärme mich irgendwo tief in mir umschmeichelte, zerging ich vor Glück.

Jede Nacht wartete ich ungeduldig darauf, durch die Straßen zu ihr zu jagen, wo sie hinter dem offenen Fenster ebenso ungeduldig auf mich wartete. Auf ihrem Bett schmiegte sie sich dann an mich, und obwohl ich spürte, wie sehr sie wach bleiben wollte, um jeden Augenblick auszukosten, klang ihr Murmeln irgendwann doch schläfrig, wurden ihre Lider doch irgendwann schwer. Ich betrachtete sie gern im Schlaf, wie sich ihre Brust hob und senkte, wie manchmal ein Zucken über ihr Gesicht lief, ein Lächeln aufschien oder sie ein kurzes, drolliges Schnarchen von sich gab. Funny Girl.

In den ersten Nächten ging immer irgendwann die Tür auf und ihr Vater steckte den Kopf herein. Für einige Momente schaute er zu, wie sie tief und fest schlief. Ich mochte ihn, er sah nett und freundlich aus, und ich hatte das Gefühl, er liebte seine Tochter sehr. Aber wer hätte Amber auch nicht lieben können?

Die Nächte bei ihr waren die Zeit, in der ich fast vergessen konnte, dass wir verschiedenen Sphären angehörten. Als ob die Grenze zwischen unseren Welten in der Nacht durchlässiger war als am Tag, vielleicht weil der Schlaf näher am Tod ist als das Wachen. Bis am Morgen der Wecker neben ihrem Bett aufdringlich zu piepen anfing und ein Ruck durch Amber ging, sie Grimassen schnitt und ungehalten vor sich hin brummte. Doch wenn sie dann blinzelnd die Augen öffnete, ihr Blick auf mich fiel und sie mich anstrahlte, ihr verschlafenes Guten Morgen murmelte und ihren Mund irgendwo zwischen meiner Wange und meinem Hals platzierte – dann war ich vollkommen versöhnt mit dem jähen Ende der Nacht.

Aber auch nur jemand wie ich hätte zu verstehen vermocht, wie quälend es war, in ihrer Nähe zu sein. Weil mir das, was wir hatten, so unendlich kostbar war – und doch war es nie genug. Mit ihr kam die Erinnerung daran zurück, wie es war, in einem Menschenkörper zu leben. Ich hungerte danach, ihre Haut auf meiner zu spüren, und danach, dass sich ihre Wärme mit meiner mischte. Ich sehnte mich nach einer echten Umarmung, wollte fühlen, wie sie mich mit ihren Armen umklammerte. Ich sehnte mich danach, ihr Gewicht auf mir zu spüren, und wie sich ihr Haar auf mein Gesicht legte. Und ich gierte nach Küssen, die länger dauerten als nur einen ihrer Atemzüge, weil meine Kraft ihr dabei unweigerlich die Luft aus den Lungen sog.

Was ich von ihr hatte, war nur ein schwaches Echo, nicht mehr als ein Schatten, ein flüchtiger Lufthauch. Und ich bekam den Gedanken nicht aus dem Kopf, wie lange ihr das noch genügen würde, einem Mädchen wie ihr, das nicht nur hübsch war, sondern auch voll stürmischer Lebenskraft.

»Nathaniel«, hörte ich sie flüstern und richtete den Blick auf sie, wie sie in meiner Armbeuge lag, ihr Haar über dem Blaugrün der Decke ausgebreitet wie ein Fächer aus Seide.

»Mh-hm?« Ich lächelte in mich hinein, als sie zum wiederholten Male ihre Fingerspitzen an meine stupste; sie wurde nicht müde, diesen Funkenzauber heraufzubeschwören, der kribbelnd durch mich hindurchrann.

»Wie lange ist es her, dass du … Seit wann bist du ein … hm … Geist?«

Nachdenklich rieb ich das Kinn an meiner Schulter. »Ich weiß es nicht genau.«

»Auch nicht so ungefähr? Fünfzig Jahre vielleicht?«

Ich schüttelte den Kopf und tippte ihre Fingerkuppen mit meinen an. »Länger.«

Ihre Augen wurden groß. »Hundert Jahre?«

Meine Schultern hoben sich. »So in etwa, ja. Glaube ich.«

Ihre Augen wurden noch größer. »Erinnerst du dich denn an gar nichts mehr?«

Ich dachte an die blassen Bilder, den Nachhall von Gefühlen und Empfindungen, die mir geblieben waren. Wie es roch, wenn meine Mutter Eintopf kochte, und wie sie mich als kleinen Jungen auf dem Arm gehalten hatte. Die Backpfeifen, die sie austeilte, und wie mein Vater mir den Hintern versohlte, wenn ich wieder irgendetwas angestellt hatte. Aber auch daran, wie er manchmal seine Fiedel auspackte und darauf spielte, die Lieder, die er aus seiner Heimat mit nach Amerika gebracht hatte. An das Rattern und Bimmeln eines Cable Cars und die niedrigen Holzhäuser entlang der Straßen dachte ich und wie es einmal in der Nachbarschaft einen Brand gegeben hatte. An Pferdewagen und an die Segelschiffe im Hafen. Ich hatte es immer gern gemocht, im Hafen zu sein und den Möwen und Pelikanen zuzuschauen. Ein Mädchen fiel mir ein, das ich einmal an einer dunklen Straßenecke küsste und das erste, mit dem ich im Bett war. Nur schemenhafte Erinnerungen waren mir daran geblieben, weil ich die Gesichter, die Namen längst vergessen hatte. So wie meine Erinnerungen an die Stadt nach und nach von den Bildern überlagert worden waren, die sich später in meinem Gedächtnis festgesetzt hatten. Eine transparente Schicht nach der anderen, bis ich unsicher war, was aus der Zeit stammte, bevor ich starb, und was aus der so viel längeren danach.

Wie ich mit meinen Brüdern unter Johlen und Lachen einen kaputten Gummiball durch die staubigen Straßen kickte und mit ihnen raufte, daran erinnerte ich mich noch. An Casey. Tiernan. Brian. Henry. Und … und … an den Jüngsten von uns, den Nachzügler, den ich nicht mehr lange genug gekannt hatte, um seinen Namen im Gedächtnis zu behalten. Erinnerungen, an jedem einzelnen Tag meines Lebens aus so vielen Fäden gewoben, die sich abgenutzt hatten und brüchig geworden waren, bis das Gewebe fast nur noch aus Löchern bestand; bald würde es wohl gänzlich zu Staub zerfallen.

»An nicht besonders viel, nein.«

Sie rollte sich auf die Seite, stützte sich auf dem Ellenbogen auf und lehnte das Kinn gegen die Faust. »Erinnerst du dich noch daran, wann du geboren bist?«

Ich starrte vor mich hin und versuchte verzweifelt, die Erinnerung daran heraufzubeschwören. Doch in mir herrschte Leere. Bis sich mein Mund von selbst öffnete. »Acht …«, kam es zögerlich heraus. »Acht-achtzehn … acht … acht … achtundfünfzig.« Wie ein Schluchzen lief es durch mich hindurch, als ich mich daran erinnerte.

Ihr Mund blieb offen stehen. »Achtzehnhundertachtundfünfzig?«, wiederholte sie heiser.

»Im November«, schoss es aus mir heraus, und unsicher setzte ich hinzu: »Glaube ich.«

Ihre Augäpfel ruckten in den Höhlen hin und her; ich sah ihr an, wie sie nachrechnete. »Wow – dann bist du rund einhundertvierzig Jahre älter als ich!« Ihr Mund krümmte sich zu einem kecken Lächeln und in ihren Augen blinzelte es schelmisch auf. »Dann verbringe ich ja meine Zeit hier mit einem richtig alten, gesetzten Herrn. Merkt man dir gar nicht an.« Sie wurde wieder ernst. »Und wie alt warst du, als du … als du gestorben bist?«

»Neunzehn?«, gab ich so unsicher von mir, dass es wie eine Frage klang. »Neunzehn … oder – oder zwanzig?«

»Achtzehnhundertsiebenundsiebzig oder -achtundsiebzig«, hörte ich sie grüblerisch murmeln, dann hefteten sich ihre Augen auf mich. Die Erschütterung in ihrer Stimme verwirrte mich, weil Zeit schon lange keine Bedeutung mehr für mich besaß. Nur noch die Zeit mit ihr.

»Mehr als einhundertdreißig Jahre …« Ihre Augen schimmerten auf, als würden Tränen darinstehen, und sacht fuhren ihre Finger über meine Wange. Ihre Brauen, ihr Mund waren in Bewegung und spiegelten wider, was in ihr vorging. Als versuchte sie nachzuempfinden, wie das für mich sein musste, und mehr als alles andere an ihr war es das, weswegen ich in diesem Moment endgültig mein Herz an sie verlor.