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Ich ertrank.
Da war diese endlose türkisgrüne Wasserfläche gewesen, still und friedlich, auf der unter einem klarblauen Himmel die Sonne glänzte. Wohin ich auch schaute, sah ich nichts als Meer und Himmel. Spielerisch hatte ich meine Zehen ins Wasser gestippt, das warm war und schmeichelnd wie Seide. Höher und höher war es an meinem Bein hinaufgestrichen, zärtlich und lockend, bis ich nicht anders gekonnt hatte, als mich fallen zu lassen und schwerelos unter die Oberfläche zu gleiten.
In den Lichtsprengseln unter Wasser wirbelte mein Haar um mich herum, während ich mich von der sanften Strömung schaukeln ließ. Vor mir blitzte es auf und ich lächelte. Aus blauen Schatten, von den einfallenden Sonnenstrahlen mit flirrenden Fünkchen übersät, streckte sich mir eine Hand entgegen, an deren Mittelfinger ein schwerer Silberring mit einem Türkis glänzte. Mams Ring. Mams Hand. Ich reckte den Arm vor und trieb auf sie zu. Unsere Fingerspitzen waren kurz davor, sich zu berühren, da schloss sich etwas hart um mein Bein und riss mich mit sich, hinab in die dunkle Tiefe. Ich schrie, ein Schrei, der Luftblasen aus meinem Mund sprudeln ließ, die mich in der Nase trafen, über meine Wangen hinwegfegten und dann davonstoben. Mam. Mam. Mein Brustkorb wurde zusammengequetscht, ich bekam keine Luft mehr. Mam. Mam. Ich versank immer tiefer in den schwarzen Wassern, die in meine Lunge strömten, und in meinen Ohren gellten die Schreie meines jüngeren Ichs. Mami. Mami.
»Amber! Heyhey, Amber! Wach auf!«
Kräftige Finger packten meine Schultern und rüttelten an mir; ich strampelte mit den Beinen und schlug mit den Fäusten um mich, boxte gegen irgendetwas.
Neben mir keuchte jemand auf und sofort wurde ich losgelassen.
Mit rasendem Puls fuhr ich hoch und schnappte immer noch krampfhaft nach Luft. Gehetzt jagte mein Blick durch das hell erleuchtete Zimmer und fand einen schlanken Mann, der in karierten Shorts und grauem T-Shirt auf meiner Bettkante hockte und sich die Rippen rieb. Ich brauchte einige Herzschläge, um Ted zu erkennen. Seine Haare waren zerwühlt und seine Augen ohne die großen Brillengläser davor blinzelten mich erschrocken an.
»Geht’s wieder?«, fragte er behutsam, und ich nickte mechanisch, obwohl mir vor Panik das Herz immer noch bis zum Hals schlug. Er streckte die Hand aus, um mir über die Haare zu streichen, und schnell bog ich den Kopf zurück.
Sein Mund spannte sich an, löste sich dann zu einem unsicheren Lächeln. »Soll ich dir ein Glas Wasser holen? Oder einen Tee machen?«
Ich schüttelte den Kopf und verkroch mich zitternd unter der Decke. Ted zögerte und stand dann auf. In der Tür blieb er stehen. »Ich lass hier auf und das Licht draußen im Flur an, okay?«
Als ich nicht reagierte, atmete er tief durch und knipste die Deckenlampe in meinem Zimmer aus; zurück blieb der Lichtkeil, der durch die halb geöffnete Tür hereinfiel. Der Holzboden knarzte, als Ted auf bloßen Füßen darübertappte und dann die Tür zu seinem Schlafzimmer sanft anlehnte.
Meine Augen wanderten zur Anzeige des Radioweckers. 12:13 AM. Dreizehn Minuten nach Mitternacht. Ich schmeckte Salz auf meinen Lippen und wischte mit dem Handrücken quer darüber. Meine Wangen waren nass. Als ob ich wirklich im Meer untergegangen wäre.
Oder als ob ich geweint hätte.
»Morgen«, murmelte ich, als ich in die Küche schlurfte, in der die Hängeleuchte einen blassgelben Schein verbreitete.
Es war kurz nach sechs, draußen war es noch dunkel. Das Radio lief und die übertrieben muntere Stimme des Moderators ging mir sofort auf die Nerven. Durch den Jetlag war meine innere Uhr zwar automatisch auf frühes Aufstehen programmiert, aber ich fühlte mich trotzdem komplett zerschlagen.
Ted drehte sich um und seine Miene hellte sich auf. »Guten Morgen.«
In einem hellblauen, langärmligen Hemd, dunklen Jeans und blank polierten schwarzen Schuhen sah er so ganz anders aus als der Ted in T-Shirts und Sneakers, den ich bisher zu Gesicht bekommen hatte. Erwachsener irgendwie, auf jeden Fall seriöser. Fast ein bisschen spießig.
Ich setzte meinen Rucksack auf dem Boden neben dem gedeckten Tisch ab, wo bereits der von Ted stand, und ließ mich gähnend auf einen der Stühle fallen. Unter dem kreischenden Mahlwerk der Kaffeemaschine zuckte ich zusammen, dann gleich noch einmal vom Klacken des Toasters.
»Danke«, murmelte ich, als Ted mir einen Teller mit frischem Vollkorntoast und einen Becher Kaffee hinstellte, den ich mir mit viel Milch aus einem Plastikkanister verdünnte. Aus einem ganz ähnlichen Kanister goss Ted O-Saft in zwei Gläser und platzierte eines davon neben meinem Teller, bevor er sich mit dem anderen gegenüber von mir hinsetzte und die Zeitung aufschlug.
Ich konzentrierte mich ganz darauf, Butter auf meinen Toast zu streichen, ihn mit Bananenscheibchen zu belegen und Honig daraufzuträufeln. Eigentlich mein Lieblingsfrühstück, aber an diesem Morgen bekam ich kaum einen Bissen hinunter, und mein Magen krümmte sich immer wieder nervös zusammen. In rund eineinhalb Stunden begann für mich der erste Tag an der neuen Schule.
Während ich lustlos an meinem Toast herumknabberte, beobachtete ich verstohlen Ted, der sich unter Geraschel durch den San Francisco Chronicle blätterte und dabei abwechselnd an seinem Glas und an seinem Kaffeebecher nippte. So wie ich mich in den vergangenen Tagen daran zu gewöhnen versucht hatte, dass das Leitungswasser nach Chlor schmeckte, die Stecker meines Laptops, meines Föhns und des Ladegeräts für mein Handy nur mit Adapter in die sonderbar aussehenden Steckdosen passten und man die Tür des Badezimmers von innen durch das Drücken des Knopfs absperrte, aber durch Drehen des Knaufs wieder entriegelte, hatte ich ein paar Dinge über Ted gelernt. Dass er morgens schon in aller Frühe joggen ging zum Beispiel und danach allerhöchstens zehn Minuten unter der Dusche brauchte. Er trank seinen Kaffee schwarz und viele Becher davon über den Tag verteilt und konnte tatsächlich ein ziemlich gutes rotes und ein tierisch scharfes grünes Curry kochen.
»Ach so«, unterbrach Ted zwischen den letzten zwei Schluck Saft meine Gedanken. »Nicht dass ich das vergesse. Ich wollte dir noch Geld mitgeben.« Rasch stellte er das Glas ab, packte den Chronicle beiseite und zog stattdessen seinen Geldbeutel aus der Hosentasche, aus dem er mir einige labbrige grüne Scheine abzählte und dazu noch eine gute Handvoll silberner Münzen, fast genauso groß wie ein Euro, nur wesentlich dünner. »Das sind Quarters«, erklärte er mir. »Vierteldollars. Kann immer mal sein, dass du welche für einen Automaten brauchst. In der Schule bekommst du noch eine Karte für die Cafeteria. Da hab ich dir online schon ein Guthaben aufgeladen. Und die hier ist für alles andere, was du so brauchst.« Verblüfft starrte ich die Kreditkarte an, die er samt PIN-Briefchen danebenlegte und auf der mein Name stand; eine neue SIM-Karte für mein Handy und den Hausschlüssel hatte er mir schon gleich am zweiten Tag in die Hand gedrückt. »Du wirst sicher das eine oder andere an Schreibzeug und Büchern kaufen müssen«, ergänzte er. »Und natürlich auch mal was zum Anziehen – und ich fürchte«, schmunzelnd stand er auf, sein leeres Glas in der einen, seinen Kaffeebecher in der anderen Hand, »dabei bin ich dir keine große Hilfe. Davon habe ich einfach keine Ahnung.«
Ich sah ihm zu, wie er das Glas in die Spüle stellte und sich noch einen Kaffee rausließ. Seine Jeans wie sein Hemd waren gut geschnitten und sicher teuer gewesen, ich hatte den kleinen aufgestickten Polo-Spieler auf der Brusttasche entdeckt. Auch das dunkelblaue Sakko, das über der Stuhllehne hing, sah nicht gerade nach Billigladen aus. Die Vorstellung, dass es womöglich eine Frau in seinem Leben gab, die ihm diese Klamotten ausgesucht hatte und die er mir über kurz oder lang als meine zukünftige Stiefmutter vorstellen würde, schnürte mir den Magen gleich ganz ab.
»Ich denke, du bist erwachsen genug, um vernünftig mit der Kreditkarte umgehen zu können, ohne jeden Monat das Limit zu sprengen«, setzte er hinzu und pustete auf den heißen Kaffee, dessen Dampf ihm die Brillengläser beschlug. »Wir versuchen das jetzt einfach mal.«
Einerseits machte es mich ein bisschen stolz, dass er so über mich dachte, andererseits aber kam es mir so vor, als wollte er einfach so wenig Mühe mit mir haben wie möglich. Mit zusammengezogenen Brauen und verkniffenem Mund bückte ich mich, um meinen Geldbeutel aus dem Rucksack zu holen und Geld und Karte einzustecken. Ich spürte, wie er mir dabei zuschaute, und duckte mich noch tiefer unter seinem eindringlichen Blick.
»Hör mal, Amber«, fing er leise wieder an und räusperte sich. »Ist heute Morgen sicher nicht der optimale Zeitpunkt, es anzusprechen … Aber ich halte es für zu wichtig, um es noch länger rauszuschieben.« Er räusperte sich noch einmal. »Ich habe mir überlegt, ob es nicht sinnvoll wäre, wenn wir professionelle Hilfe für dich in Anspruch nehmen. Ich würde gern für dich einen Termin bei einer Therapeutin vereinbaren.« Ich erstarrte in meiner gebückten Haltung. »Nicht nur wegen deiner Albträume.« Meine Wangen wurden heiß, und ich senkte den Kopf, sodass mir die Haare vors Gesicht fielen; irgendwie hatte ich gehofft, Ted hätte am folgenden Morgen immer schon vergessen, dass ich ihn nachts regelmäßig mit meinem Geschrei aufschreckte. Zumindest hatte er bis jetzt die vergangenen Nächte mit keiner Silbe erwähnt. »Sondern überhaupt wegen deiner ganzen … Situation momentan.«
»Kein Bedarf«, grummelte ich, zerrte den Reißverschluss meines Rucksacks zu und trank einen großen Schluck von meinem Milchkaffee, ohne Ted dabei anzusehen.
»Ich denke schon«, entgegnete er ruhig. »Du hast eine Menge durchgemacht in den letzten Monaten. Karens Krankheit und … und jetzt der Ortswechsel. Das geht nicht spurlos an einem vorüber. Vor allem nicht in deinem Alter.«
»Mit mir ist alles in Ordnung!«, fauchte ich. Ich hatte doch keine Schraube locker! Das Einzige, was mir fehlte, war Mam – und Gabi und Julia und meine anderen Freunde und meine kleine Heimatstadt am See. Und daran würde auch eine Psycho-Tante nichts ändern können.
»Sieh mal, Amber …« Ted stellte seinen Becher hinter sich auf die Arbeitsplatte. »Das ist hier nicht so wie bei euch in Deutschland. Hier muss einem das nicht peinlich sein, wenn man zu einem Shrink geht. Ich kenne Leute, die wegen weitaus kleinerer Probleme …«
Ich knallte meinen halb leeren Becher auf den Tisch, sodass der hellbraune Kaffee darin am Rand hochschwappte. »Ich hab doch gerade gesagt – kein Bedarf!«
Ted seufzte und verschränkte die Arme vor der Brust. »Mir geht es auch darum, dass du eine Vertrauensperson hast. Eine weibliche. Mit der du über irgendwelche … Frauendinge reden kannst, über die du mit mir nicht …«
Mein Kopf ruckte hoch. »Die hab ich! Gabi! Aber du musstest mich ja unbedingt von ihr fortholen!« Ich erschrak selbst darüber, wie zittrig meine Stimme klang.
Sein ohnehin schmaler Mund wurde noch schmaler, und er massierte sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel unter dem Steg seiner Brille, bevor er mich wieder ansah. »Schau, Amber, ich will doch nur …«
Ich schnappte mir meinen Rucksack und sprang auf. »Können wir jetzt endlich los?« In langen Schritten stürmte ich an Ted vorbei, auf den Flur hinaus, und schleuderte ihm über die Schulter hinweg zu: »Ich nämlich will nicht gleich am ersten Tag zu spät kommen!«