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Hollys winziges Apartment bebte unter der wilden Mischung aus Indie-Rock, Wave, Metal, Crossover und Emo, die der Ghettoblaster im Flur mit wummernden Boxen bis in den hintersten Winkel brüllte. Bis jetzt hatte noch kein Hausbewohner empört geklingelt oder die Polizei geholt – aber ich hatte sowieso das Gefühl, dass eine solche Fete in diesem Haus nicht nur ganz normal war, sondern sich dazu noch fast alle Nachbarn mit in die engen Räume drängelten. Zumindest hatte sie mir immer mal wieder beiläufig das eine oder andere der vielen fremden Gesichter als solchen vorgestellt. Wie die gazellenschlanke milchkaffeebraune Schönheit im weißen Jumpsuit, die ihre Dreadlocks zu einem skurrilen Gebilde auf ihrem Kopf aufgetürmt trug und gerade Shane um den Finger zu wickeln versuchte. Es war überhaupt ein extrem bunt gemischtes Völkchen, das sich hier versammelt hatte. Ein graubärtiger Mann in Karohemd und Jeans erinnerte mich an meinen Opa, nur dass der niemals einen Ohrstecker tragen würde. Und einen bulligen Riesen, den klotzigen Schädel kahl rasiert, in nietenbesetzter Lederhose, Motorradstiefeln und einer schwarzen Lederweste auf seinem stark behaarten, über und über mit ziemlich krassen Motiven tätowierten Oberkörper hatte ich zuerst für die amerikanische Variante eines Neonazis gehalten. Bis ich raffte, dass Chayan, der feingliedrige Thailänder in Skinny-Jeans, Rüschenhemd und dem sorgfältigen Make-up einer Tempeltänzerin, der Abby ausführliche Schminktipps gab, sein Lover war. Und dann war da noch der blondmähnige braun gebrannte Surfertyp mit dem Dreitagebart, der ständig damit beschäftigt war, Hollys Hintern in der zerfledderten Boyfriend-Jeans zu tätscheln.
Holly sah heute aber auch klasse aus; mit glitzerndem Lidschatten, viel Wimperntusche und dunklem Lippenstift wuselte sie in einem tief dekolletierten silberglänzenden Mini-Top strahlend, lachend und nach allen Seiten schäkernd zwischen den Gästen hindurch. Dass hier ein Arm um sie gelegt wurde, sich da ein Mund auf ihren Hals drückte, schien Matt genauso wenig zu stören wie die Rauchschwaden, die die ganze Bude vernebelten. Zumal sich Holly immer wieder für einen sehr langen Kuss an ihn schmiegte, bevor sie sich wieder um die anderen Gäste kümmerte. Außerdem war Matt ja schließlich die Hauptperson des Abends, an dem wir seinen achtzehnten Geburtstag feierten. Extrem lässig und mit breitem Grinsen auf dem Gesicht unter den stachelig gestylten blauen Haaren und in seinem brandneuen Californication-T-Shirt, Hollys Geburtstagsgeschenk, lehnte er mit einem Bier in der Hand am Küchentisch, auf dem sich die übrig gebliebenen Bagels, Sandwiches, Tapas und Cupcakes um den kläglichen Rest der Geburtstagstorte aus dem Café Madeleine verteilten, für die wir alle zusammengelegt hatten. Über die neueste Unheilig-CD, die ich für ihn im Internet bestellt hatte, hatte er sich ebenso gefreut wie über die zwei Alben von Rosenstolz, die ich ihm für Kuschelstunden mit Holly gebrannt hatte, und neugierig hatte er in dem von mir dazu gebastelten Booklet mit der Übersetzung der Lyrics geblättert, bevor er sich mit einer herzhaften Umarmung bei mir bedankte.
Ich schlängelte mich durch das Getümmel in der Küche und schob mich durch das bunte Partyvolk im Flur hindurch in Richtung Badezimmer. Obwohl ich schon so oft dort gewesen war, faszinierte mich das Sortiment an Haarfärbepackungen, Duschzeugs, Lotionen und Schminke immer noch. Das winzige Bad mit dem bunt schillernden Duschvorhang war außerdem so komplett vollgestellt mit diversen Schmuckkästchen, Kerzen, kleinen Götterfiguren und vor allem Dutzenden von Parfumflakons, dass ich nie wusste, wo ich zuerst hinschauen sollte, und jedes Mal noch etwas Neues entdeckte. Während ich mir schließlich vor dem runden Spiegel über dem Waschbecken die Hände wusch, schnupperte ich irritiert vor mich hin, schnappte mir dann eine Handvoll meiner Haare, hielt sie mir vor die Nase und verzog das Gesicht, und genauso, als ich gleich darauf am Ärmel meiner olivfarbenen Bluse roch. Keine Ahnung, wie Ted darauf reagieren würde, wenn ich nachher zurückkam und nicht nur nach Räucherstäbchen, sondern auch nach Zigarettenrauch und Gras roch; hoffentlich kippte jetzt nicht auch noch jemand sein Bier über mich.
Als ich aus dem Badezimmer kam, wäre ich beinahe in ein Pärchen hineingerannt, das sich gegen den Türrahmen drückte und dabei wild herumknutschte: die Gazelle mit den Dreadlocks und ein extrem blondes Beach-Babe, deren Busen unter dem taillenkurzen roten Longsleeve so aufgepumpt aussah, dass er garantiert nicht echt sein konnte, und die gerade mit beiden Händen den Hintern der Gazelle knetete. Und in dem Winkel vor Hollys Kleiderregal lehnte Shane mit einer Cola in der Hand, weil er unser Fahrer war, und schaute den beiden gebannt zu.
»Die hat aber schnell aufgegeben!«, rief ich ihm über den Musikradau hinweg zu, als ich mich neben ihn stellte.
»Nicht so ganz«, gab Shane in ähnlicher Lautstärke zurück. »Sie hat mich gefragt, ob ich mitmachen und nachher noch mit ihnen mitkommen will!«
Ich tat gespielt schockiert, um mir nicht anmerken zu lassen, wie krass ich das tatsächlich fand. »Nein! – Und worauf wartest du noch?!«, setzte ich mit einem Ellenbogenstupser zwischen Shanes Rippen dazu.
»Ah«, machte Shane grinsend und rieb sich mit den Fingerknöcheln unter dem Kinn, bevor er sich zu mir herunterbeugte und mir ins Ohr sagte: »Da bin ich eher spießig. Ich widme mich lieber nur einem Mädchen zur selben Zeit – und zwar nur einem, das ich so richtig gern hab.«
Mir stieg das Blut ins Gesicht und ich vergrub die Hände in den Hosentaschen. Dass die Gazelle Shane vorhin so schamlos angeflirtet hatte, hatte mir erstaunlich wenig ausgemacht. Was mir zu denken geben sollte, und trotzdem ließ Shane mich nicht völlig kalt. Auch wenn wir uns seit jenem Nachmittag bei ihm nicht mehr auch nur ansatzweise so nahe gekommen waren, nur ab und zu zusammen in den Golden Gate Park oder an der Uferpromenade joggen gingen oder uns mit den anderen trafen, war mir die Erinnerung an seine Küsse, an seinen Körper an meinem geblieben. Wenn ich ihm manchmal beim Footballtraining oder bei einem Spiel der Eagles in dem kleinen Stadion der Jefferson High zusah, konnte ich nicht aufhören, ihn mit einem sehnsüchtigen Ziehen im Bauch anzustarren, wie er in den engen Hosen und durch das Gestell unter dem Trikot grotesk verbreiterten Schultern über das Feld rannte, gegnerischen Spielern geschickt auswich, sie anrempelte oder umschubste. Und wenn er nach einem gewonnenen Spiel gegen die Mannschaft einer anderen High School in der Bay Area die erwartungsvoll dreinblickenden Cheerleader wie Sharon und Felicia in ihren kurzen Faltenröcken und bauchfreien Tops links liegen ließ und direkt auf mich zukam, ich in sein verschwitztes, lachendes Gesicht mit den aufgemalten schwarzen Balken unter den Augen sah und er mich dann unter einem Jubelruf kräftig umarmte, wurden meine Knie weich. Denn vor allem mochte ich Shane wirklich sehr gern; auf eine andere Weise stand er mir ebenso nah wie Matt und beinahe so nah wie Nathaniel. Aber eben nur beinahe.
Ein Mädchen, das leicht angetrunken aus der Küche stolperte und sich suchend umblickte, riss mich aus meinen Gedanken. Es war Abby, in einem langen, glänzenden Rock und schwarz glänzender Paisleybluse, ihren schwarzen Mantel und die Tasche in der Hand. Ihre Augen waren feucht, erste Tränenspuren zogen sich durch ihr neues dezentes Make-up, und ein Schluchzer nach dem anderen ruckte durch sie hindurch. Shane und ich wechselten einen kurzen Blick, dann waren wir auch schon bei ihr.
»Hey, Abby!« Ich nahm sie beim Arm. »Was ist denn los?«
Sie sah mich nur an, dann ließ sie sich gegen mich fallen. »Ist … ist das jetzt doch was Ernstes?«, schniefte sie mir ins Ohr. »Das mit Matt und Holly?« Sie war wirklich ziemlich beschwipst.
»Keine Ahnung«, gab ich zurück, drückte sie an mich und überlegte. »Ich weiß nicht mal, ob das überhaupt irgendwas ist.« Shit. Jetzt hatte ich es erst gerafft. »Du magst ihn sehr, oder?«
»Jaaahh«, schluchzte Abby jämmerlich los und fing an meiner Schulter laut zu heulen an.
Hilfe suchend schielte ich zu Shane hoch, der mir zunickte. »Ich sag Matt und Holly nur schnell Bescheid, dass ich euch heimbringe.«
In der Sacramento Street hielt Shane neben den parkenden Autos und stellte den Motor ab. Ich war heilfroh, dass Abbys Eltern noch im Restaurant gewesen waren und nicht mitbekamen, wie ich ihrer angeschickerten, verweinten und inzwischen heftig hicksenden Tochter den Schlüssel aus der Tasche kramte, sie die Treppen hinauf und in die Wohnung bugsierte, wo ich sie auf der Stelle ins Bett verfrachtete, während Shane unten auf mich wartete.
»Ist gerade alles nicht so leicht, was?«, fragte Shane jetzt leise.
»Nein«, flüsterte ich. Die eng verschworene Gemeinschaft, die wir alle zu Beginn der Sommerferien gewesen waren, schien mit dem neuen Schuljahr auseinanderzudriften, obwohl wir weiterhin gemeinsam in der Cafeteria zu Mittag aßen und uns auch außerhalb der Schule trafen. Matt hatte nur noch Augen und Zeit für Holly, weshalb Abby nun unter Liebeskummer litt; Shane und ich eierten zwischen Vertrautheit, gegenseitiger Anziehung und Befangenheit herum, während Nathaniel sich in sein Schneckenhaus zurückgezogen hatte. Ich verstand ihn sogar; für ihn war es sicher nicht leicht, Holly und Matt beim Turteln und Knutschen zuzuschauen und genau zu wissen, dass wir beide nur den Hauch einer Chance hatten, so etwas auch einmal zu erleben. Noch viel schwerer musste es ihm fallen, Shane und mich zusammen zu sehen, ohne in jedem Blick, jedem Wort und jeder Geste einen Hinweis darauf zu wittern, dass ich mich letztlich doch noch für Shane entscheiden würde. Und obwohl Nathaniel nach wie vor die Nächte bei mir verbrachte, wollte er nicht mehr, dass ich zu ihm in die Franklin Street kam. Nicht vor Halloween. Als machte er sich dafür bereit, sich an ein Dasein ohne mich zu gewöhnen, und jedes Mal wenn ich daran dachte, würgte es mich im Hals. Es knirschte im Gebälk, zwischen uns allen, und das, was uns zu Beginn des Sommers zusammengehalten hatte, schien mit dem Beginn des Herbsts wegzubröckeln wie morscher Zement.
»Du, Shane«, fing ich dann leise an, den Blick auf das Handschuhfach vor mir geheftet. »Da ist was, das ich dir sagen wollte. Vielleicht … vielleicht gibt es einen Weg für Nathaniel und mich, zusammen zu sein. Richtig zusammen zu sein, meine ich. Für eine Nacht. Das …« Ich atmete tief durch. »Das wollte ich dir nur sagen. Nicht dass du denkst, ich wollte mir dich nur warmhalten, für den Fall, dass es doch nicht klappt mit Nathaniel und mir.« Wirklich logisch klang das in meinen Ohren nicht, was ich da gerade von mir gegeben hatte, aber mir war es wichtig gewesen, es Shane zu sagen. Beides.
»Das denke ich bestimmt nicht«, erwiderte er ebenso leise. »Ich hab viel nachgedacht, seit wir uns an dem Nachmittag auf meinem Zimmer geküsst haben.« Ich sah aus dem Augenwinkel, wie er sich mir zuwandte und mich ansah. »Ich mag dich wirklich sehr gern, Amber. Und wenn ich mir vorstellen kann, noch mal mit jemandem zusammen zu sein – dann mit dir. Aber ich merke trotzdem, wie viel Raum Lauren immer noch in meinem Herzen einnimmt.« Unwillkürlich zuckte es um meine Mundwinkel, als mir auffiel, dass Shane wohl der einzige Junge war, den ich kannte, der solche Worte verwendete und bei dem sie auch überhaupt nicht schmalzig klangen, sondern ganz natürlich rüberkamen. »Das wollte ich dir nämlich auch sagen. Damit du dich nicht als Notnagel fühlst oder dir wie zweite Wahl vorkommst.«
Ich lächelte vor mich hin. »Bestimmt nicht.« Das schabende Geräusch von Stoff auf Stoff ließ mich den Kopf wenden. Shane hatte sich zu mir rübergereckt, legte dann den Arm um mich und küsste mich auf den Mund, behutsam und sanft.
»Wir müssen nichts überstürzen, Amber«, raunte er mir dann zu, und ein helles Lächeln schien auf seinem Gesicht auf. »Wir haben doch alle Zeit der Welt.«