36
»Kennst du Holly schon lange?« Lustlos stocherte ich in meinen Penne Bolognese herum, die furchtbar fad schmeckten und aus deren Soße mich große Fettaugen anplinkerten. Ted kochte einfach zu gut; was er abends so auftischte, hatte mich ebenso für das Essen in der Cafeteria der Schule verdorben wie die himmlischen Burger in Lori’s Diner.
Matt stellte seinen leeren Pastateller unter den kleineren Teller, auf dem nur noch eine Pfütze Dressing und einige Fransen von gehobelten Möhren ahnen ließen, dass dort vor ein paar Minuten noch ein Salathaufen existiert hatte. Und auch das Schälchen, das vorhin noch mit Apfel- und Orangenschnitzen gefüllt gewesen war, stand blank daneben.
»Lass mich überlegen«, murmelte er. »So an die zwei Jahre sind’s jetzt wohl. Ich bin beim Googeln auf ihre Website gestoßen, und weil ich nicht allzu weit von der Sutter Street weg wohne, bin ich mal bei ihr vorbeigegangen. Hab mich im Laden umgesehen und ein paar blöde Fragen gestellt, dann ein paar nicht ganz so blöde, und so haben wir uns nach und nach angefreundet.« Genüsslich widmete er sich der Quesadilla, dem zweiten Hauptgericht auf dem Speiseplan; in der Ecke seines Tabletts stapelte sich neben dem Trinkbecher ein Türmchen aus fünf handtellergroßen Schokoladencookies.
Seit wir vorgestern das erste Mal zusammen zum Essen gegangen waren, rätselte ich darüber, wo bei Matt die Mengen landeten, die er jeden Tag von seinem übervollen Tablett in sich hineinschaufelte. Wenn man genauer hinsah, wirkte er unter seinen Klamotten in XXL nämlich eher klapperdürr. Mittlerweile hatte ich ihm über vegetarischem Chili (Montag) und Hot Dog mit Baked Beans (Dienstag und sicher nie wieder) ein bisschen was von mir erzählt, und von ihm wusste ich, dass er Advanced-Placement-Kurse in Mathe und Computerwissenschaften besuchte und überhaupt ein ziemlicher IT- und Technik-Crack war.
»Schieß los«, forderte er mich grinsend auf, während er an dem gummiartigen gefüllten Fladen herumsäbelte. »Ich seh doch, dass dir was auf der Zunge liegt!«
Ich nahm mir einige Augenblicke Zeit und schaute mich in der Cafeteria um. Jetzt, um halb zwölf Uhr, herrschte hier Hochbetrieb; fast alle Plätze waren besetzt, um die Tische herum wuselte es, und von den Wänden hallten Besteckgeklingel und Tellergeklapper, Stimmen und Gelächter wider. Mein Blick fiel auf einen groß gewachsenen schwarzen Jungen, der mit geschmeidigen Schritten durch die Cafeteria ging. Unter seinem gelben T-Shirt zeichneten sich stramme Brustmuskeln und ein Sixpack ab und seine durchtrainierten Oberarme drohten jeden Moment die Ärmel zu sprengen. Neben ihm tippelte ein für die Verhältnisse an der Jefferson High extrem aufgebrezeltes asiatisches Mädchen einher, das ihm selbst mit den hohen Absätzen noch nicht einmal bis zur Schulter reichte. Unablässig strich sie sich eine Strähne ihres perfekt gestylten Haares hinters Ohr und flatterte dabei mit ihren getuschten Wimpern so heftig, als ob sie ein Staubkorn im Auge hätte. Ich löste meine Augen von Shane Diggs und seinem Groupie und sah Matt wieder an.
»Angenommen«, flüsterte ich schließlich, »nur angenommen, ich könnte tatsächlich Geister sehen …« Das ironische Grinsen, das auf Matts Gesicht aufblitzte, bevor er sich die nächste Ladung Quesadilla in den Mund schob, überging ich einfach. »Wenn ich mich im Internet so umschaue, scheint die Beschäftigung mit dem Übersinnlichen hier in Amerika ja fast schon ein stinknormales Hobby zu sein. Warum«, ich legte die Gabel hin und stocherte stattdessen mit dem Trinkhalm in meinem Rest Cola light herum, »warum fällt es mir dann so schwer, einfach zu glauben, dass ich es tatsächlich könnte?«
Matt warf mir einen schnellen Blick zu, bevor er die Quesadilla weiter malträtierte. »Weil du eine engstirnige und unspaßige Deutsche bist?« Seine Brauen zuckten belustigt hoch, und ich zeigte ihm meine Zungenspitze, worauf er ein meckerndes Lachen von sich gab, bevor er wieder ernst wurde. »Ohne Scheiß jetzt, Amber – das ging mir früher genauso! Ich hab mich das auch lange gefragt. Inzwischen denke ich, solange das alles nur Theorie ist, solange man nur Lichtphänomene knipst, Schwingungen misst oder Geräusche aufzeichnet, ist alles unheimlich cool und aufregend.« Er machte eine kleine Pause, während er auf dem nächsten Fladenstück herumkaute. »So lange kann man auch dazu stehen – weil es einem selbst nicht wirklich passiert«, fügte er mit halb vollem Mund hinzu. »Du merkst es einfach, ob jemand sich nur einredet, Geister zu sehen oder ob er es tatsächlich kann. Wer nur einfach mit dem Verstand von der Geisterwelt überzeugt ist, der hat diese Lust am Kick in den Augen. Diesen fiebrigen Glanz. Und der prahlt auch stolz damit. Weil er ganz tief drin genau weiß, dass es nicht echt ist. Die, die wirklich Geister sehen – die haben eine ganz bestimmte Furcht im Blick. Weil sie wissen, dass sie Kontakt zu einer anderen, einer unkontrollierbaren Sphäre haben, und fürchten, dass man sie für verrückt hält.« Er sah mich über den Tisch hinweg an. »So hab ich es auch bei dir gemerkt.«
Ich wurde rot, griff wieder zu meiner Gabel und arrangierte die kalt gewordenen Penne auf meinem Teller zu einem symmetrischen Muster. »Kennst du noch mehr Leute, die … hm …«
»Yapp. Ich hab übers Netz Kontakt zu zwei Jungs in New Orleans. Übrigens die Stadt mit der höchsten Geisterdichte in den Staaten. Zumindest laut Statistik – wenn man diesen Statistiken glauben kann. Muss wohl daran liegen, dass in New Orleans früher viel Voodoo-Zauber betrieben wurde. Und ich chatte ab und zu mit einem Typen in New York, einem in Moskau und einem in Mexico City. Dort soll es übrigens geistertechnisch auch echt heftig zugehen.«
»Und hier in San Francisco? Hier müsste es doch auch Leute geben, die … na ja …?« Ich hörte selbst, wie hoffnungsvoll ich klang.
»Hmm«, Matt sog an seinem Trinkhalm und stellte den Becher zurück aufs Tablett, »bin mir nicht sicher. Geredet hab ich auf jeden Fall noch mit niemandem darüber.« Er griff sich einen der Kekse und zwinkerte mir zu. »Du siehst also – du bist etwas Besonderes.«
Ein verlegenes Lächeln zuckte um meinen Mund, und meine gerade wieder entfärbten Wangen fühlten sich schon wieder heiß an, als ich aus dem Augenwinkel drei Mädchen sah, die auf uns zusteuerten.
»Hiii«, zwitscherten Sharon und Felicia im Duett, die beide pünktlich zu Beginn des Monats Mai auf kurze Flatterröckchen, dünne Blüschen und Ballerinas umgestiegen waren, ihren jeweiligen Kaschmirpulli schmeichlerisch um die Hüften gebunden oder locker über die Schultern gelegt. Nur Danielle, die versetzt hinter den beiden stand und zur Begrüßung mit der flachen Hand wedelte, war bei einer Jeans geblieben, zu der sie eine locker fallende Tunika in Kirschrot trug.
»Hi«, entgegnete ich schuldbewusst. Ich hatte seit jenem Stadtbummel im Februar einen möglichst großen Bogen um die drei gemacht, sie immer nur aus der Entfernung gegrüßt und dann so getan, als hätte ich es megaeilig oder wäre schwer beschäftigt.
»Lang nicht mehr gesehen«, kam es prompt mit vorwurfsvollem Ton von Felicia, während sie Matt kritisch beäugte, der sich breitbeinig und mit wippenden Knien zurückgelehnt hatte, die Hände gemütlich vor der Brust seines Rage-Against-The-Machine-Shirts gefaltet, und am Rest des zweiten Cookies kaute.
»Ja. Sorry«, murmelte ich und spießte ein Nudelröhrchen nach dem anderen auf und streifte sie dann wieder am Tellerrand von den Zinken. »Ich … ich hatte ziemlich viel um die Ohren.«
»Macht ja nichts«, erwiderte Sharon und warf den Kopf zurück, dass ihre glänzenden Haare schwungvoll über ihre Schultern fegten. »Meine Eltern sind übers Wochenende verreist und Jeff und ich lassen Samstag eine Fete steigen. Magst du vielleicht auch kommen?«
»Kannst ja deinen … Geek-Freund auch mitbringen.« Felicia musterte Matt von Kopf bis Fuß, was er mit einem erheiterten Grinsen quittierte.
»Ich …«, setzte ich an, aber Felicia sprach gleich weiter.
»Sofern er sich nicht zu fein dafür ist«, gab sie spitz von sich. »Für Sport und andere soziale Aktivitäten hat er ja nicht viel übrig.«
Matts Grinsen vertiefte sich. »Das hast du klar erkannt! Ich hab echt Wichtigeres zu tun, als über den Sportplatz zu hecheln oder mich durch die versiffte Turnhalle scheuchen zu lassen. Außerdem hänge ich an jedem Fitzelchen meiner großzügigen Ausstattung an Hirnmasse.« Mit einem halb angriffslustigen, halb vergnügten Funkeln richteten sich seine Augen auf Sharon. »Und wie schnell die weg ist, wenn man nur oft genug einen Ball an den Schädel kriegt, könnt ihr euch ja leibhaftig bei deinem großen Bruder angucken!«
Sharon sah ihn nur blasiert an. »Kannst es dir ja noch überlegen«, sagte sie leichthin. »Bye!«
»Bye«, nuschelte ich in mich hinein, während die drei davonstolzierten.
»Sorry«, Matt zuckte mit einer Schulter, griff sich seinen Trinkbecher und ließ sich wieder zurückfallen. »Ich kann diese hirnlosen Hühner nicht ertragen. Und Jeff ist schlicht und ergreifend der größte Hohlblock hier an der Jefferson High.«
Mir rutschte ein kleines Kichern heraus und Matt grinste.
»Gehst du echt nicht zum Sport?«, wollte ich dann wissen.
»Nope.« Matt kaute auf seinem Trinkhalm herum »Ich bin aus gesundheitlichen Gründen befreit. Die Chemo hat nicht nur alle Krebszellen in meinem Körper gekillt, sondern auch sonst ganz schön gewütet. Da hat ziemlich viel was abgekriegt, vor allem das Herz. Deshalb war ich letzte Woche auch nicht in Geschichte – ich musste mal wieder zum halbjährlichen Kundendienst in die Klinik.« Seine Brauen zuckten aufwärts. »Ich hab ungefähr die gleiche Lebenserwartung wie ein kettenrauchender Junkie.«
Mein Hals war wie zugeschnürt. Ich zermatschte mit der Gabel die Nudeln in der langsam zu Gelee erstarrenden Soße und schielte dabei immer wieder beklommen zu Matt hinüber.
»Mann, jetzt schau doch nicht so belämmert!« Sein Mund zog sich in die Breite. »Noch gibt’s mich ja! Ohne die Chemo hätte ich nicht mal mehr meinen siebten Geburtstag erlebt und im Oktober kann ich schon meinen achtzehnten feiern!« Überrascht sah ich ihn an; irgendwie hatte ich die ganze Zeit gedacht, er wäre jünger als ich, vielleicht weil er so schmal war und seine Gesichtszüge noch so jungenhaft, dabei war er ein ganzes Jahr älter.
»Außerdem«, er setzte sich auf und nickte nach links und rechts, »glaubst du denn, die werden alle automatisch so viel älter als ich? Die denken alle, sie würden ewig leben. Genauso gut kann jemand von denen irgendwann in den nächsten Jahren einen schweren Unfall haben oder eine schwere Krankheit oder einen Herzinfarkt bekommen, bevor er vierzig ist.«
Am Ende des Tischs trafen sich meine Augen mit den haselnussbraunen, kajalgeschwärzten eines Mädchens mit langen dunklen Haaren, das zu uns herüberstarrte. Goth-Girl, die nie etwas anderes anhatte als verschiedene Varianten von schwarzen Klamotten. Hastig senkte sie das blass gepuderte Gesicht wieder auf ihr Tablett.
»Aber daran denken die jetzt nicht. Und erst wenn was passiert, merken sie, dass es vielleicht wichtigere Dinge gibt als den Schulsport«, raunte er mir zu. »Wie viel Zeit sie zum Fenster hinausgeschmissen haben.« Um seinen Mund zuckte es, und er begann, den Trinkhalm zu einer Ziehharmonika zusammenzufalten. »Ich weiß, dass ich vermutlich nicht besonders alt werde, und deshalb will ich so viel aus meinem Leben rausholen, wie’s nur geht. Mal Club der toten Dichter gesehen?« Er warf mir einen raschen Blick zu, und als ich nickte, grinste er. »Genauso mach ich’s auch. Carpe diem.«
Ich spürte, wie sich mein Mund zu einem Lächeln verzog. Ted hatte recht: Matt Chang war echt ein guter Typ.
Er warf den Trinkhalm auf das Tablett und schlüpfte in seine Kapuzenjacke, bevor er seinen Rucksack nahm und aufstand.
»Wie sieht’s aus: Kommst du nach der Schule mit zu Holly? Das würde sie mächtig freuen, sie mag dich nämlich total gern.« Er stapelte die leeren Teller zusammen, nahm die restlichen Kekse in die eine Hand und das Tablett in die andere. »Und ich find dich auch ganz okay«, setzte er mit einem Zwinkern hinzu.
Yapp. Ein verdammt guter Typ.