35

Hinter dem Eingang um die Ecke des Backsteinhauses brachte uns ein altersschwacher Lift in den vierten Stock, und Holly schloss die Wohnungstür auf, von der die Farbe in dicken Spänen abblätterte.

Das Apartment war zwar nicht viel größer als eine Schuhschachtel, aber es wirkte irre gemütlich und gefiel mir; so was wollte ich später auch mal gern für mich. Auf der linken Seite des winzigen Flurs konnte ich in ein Zimmer schauen, dessen Wände in einer tollen Nuance irgendwo zwischen Gelb und Orange gestrichen waren; die halb zugezogenen pinkfarbenen Chiffonvorhänge mit viel Goldgeglitzer vor dem Fenster kamen davor super zur Geltung. Über die ganze Länge einer Wand zog sich ein dunkles Holzregal, in das neben allerlei Krimskrams jede Menge zerlesener Bücher gequetscht waren. Auf dem Boden um das mit rotem Satin bezogene und noch ungemachte Futonbett verteilten sich aufgeschlagene und übereinandergestapelte Bücher, und in einer Ecke lehnte eine zusammengerollte Yogamatte. Am Ende des Flurs quoll unter einem Vorhang mit schwarz-weißem Tigermuster ein wildes Durcheinander aus schrillem Schuhwerk hervor, und die Tür rechts davon führte wohl ins Badezimmer, während hinter der zweiten die Küche lag, in die uns Holly nun hineinbugsierte.

»Magst du auch einen Tee?« Als ich nickte, pfefferte sie Umhängetasche und Pulli mitten auf den abgeschabten Tisch und begann unter Geklapper mit dem Wasserkocher und diversen Blechdosen aus dem Regal über dem Herd zu hantieren. »Honey?«

Matt machte ein würgendes Geräusch »Bleib mir vom Leib mit deinem Kräutergesöff!« Er riss das knallrote Ungetüm von Kühlschrank unmittelbar hinter dem Türrahmen auf; die von bunten Magneten und bekritzelten Post-Its übersäte Kühlschranktür ragte dabei so weit in den Raum hinein, dass bis zur gegenüberliegenden Wand nicht mehr viel Platz blieb. Von Matt waren dahinter nur noch die Sneakers und ein Stück seiner Baggypants zu sehen, während er im Kühlschrank herumkramte. »Hast du eigentlich nie was Essbares da drin?«

»Hallo-ho! Sieht das hier etwa aus wie das Fairmont?«, gab Holly ungerührt zurück, goss das kochende Wasser in eine Keramikkanne und fügte halb patzig, halb zärtlich hinzu: »Geh doch zu Mami, wenn dir das hier nicht passt! Da kriegst du dein Chop Suey und eine Schüssel Reis dazu!«

Matt lachte und tauchte mit einer kleinen Flasche Cola wieder hinter der Kühlschranktür auf, die er kräftig zuschlug. Erst als er sich einen Stuhl heranzog und sich draufsetzte, ließ ich mich auf einen zweiten Stuhl gegenüber von ihm sinken.

»Hier, Süße.« Holly stellte mir einen dampfenden Becher Tee hin, bevor sie das Fenster aufriss, ihre eigene Tasse neben den Aschenbecher auf das Fensterbrett platzierte und sich dann mit einer Zigarettenschachtel in der Hand hinaufschwang. Ich sah ihr zu, wie sie sich eine Zigarette anzündete, genussvoll inhalierte und den Rauch zum Fenster hinausblies.

»Kannst du wirklich hellsehen?«, fragte ich leise.

Hollys Augen wurden noch größer und runder, als sie mich verblüfft ansah, dann lachte sie ihr raues, heiseres Lachen, das ganz tief unten aus ihrem flachen Bauch zu kommen schien. »Geeez, nein, Herzchen! Ich hab keinerlei übersinnliche Fähigkeiten. Nur eine verdammt gute Menschenkenntnis und Spaß an der Schauspielerei. Und ich verdiene damit wesentlich mehr, als wenn ich ungezogenen Bälgern die Haare schneide und ihren nervigen Müttern Strähnchen verpasse!«

»Trotzdem kenne ich niemanden, der so viel über diese Dinge weiß wie Holly.« Matt warf ihr einen warmen Blick zu, für den sie sich revanchierte, indem sie die Lippen spitzte und ihm ein schmatzendes Küsschen durch die Luft zuschickte, bevor sie wieder an ihrer Zigarette zog.

Sie blies den Rauch über ihre Schulter hinweg nach draußen, schaukelte mit den überkreuzten Springerstiefeln und musterte mich interessiert. »Du kannst also auch Geister sehen, ja?«

Ich wich ihrem Blick aus. »Ich … ich weiß es nicht.« Verlegen nippte ich an meinem Becher; der Tee schmeckte gut, ein bisschen nach Minze und nach getrockneten Blüten und Früchten.

»Ich war mir da lange auch nicht sicher«, sagte Matt zwischen zwei Schlucken seiner Cola. »Erstens, weil ich damals noch ziemlich klein war. Zweitens, weil es erst nicht so oft vorkam – und drittens, weil ich lange glaubte, ich hätte einfach nur eine Schraube locker.«

Ich versenkte meinen Blick tiefer in der Tasse.

»Warum sich letztlich dieses Tor in der Wahrnehmung öffnet«, meinte Holly und schnippte die Asche zum Fenster hinaus, »warum manche Menschen Geister sehen können und andere nicht, ist nicht ganz klar, darüber weiß man einfach zu wenig. Denn unbewusst die Anwesenheit von Geistern spüren, das können die meisten Menschen. Nicht umsonst gibt es Orte, von denen es heißt, dort würde es spuken.«

»Wie Alcatraz«, warf Matt grinsend ein. »Eine Million Touristen jedes Jahr können nicht irren!«

Holly schmunzelte, blickte dann aber wieder ernst drein. »Dass jemand mit dieser Gabe auf die Welt kommt, ist extrem selten, und auch, dass er sie erst im Erwachsenenalter entwickelt. Zum Glück, kann man da wohl nur sagen.« Ihre fein gezeichneten Brauen zogen sich zusammen. »Ich hatte mal einen Nachbarn, Ray, dem genau das passiert ist. Er hat’s nicht verkraftet und ist total abgestürzt. Hat dann auf der Straße gelebt und sich schließlich in ein Koma gesoffen, aus dem er nicht mehr aufgewacht ist.«

Tolle Aussichten, wirklich. Ich umklammerte den Becher in meiner Hand fester.

»Das war für mich der Auslöser, mich näher mit diesen Dingen zu beschäftigten.« Nachdenklich betrachtete Holly die Glut ihrer Zigarette. »Es scheint, als würden intensive Erfahrungen mit dem Tod das Bewusstsein schlagartig so schärfen, dass dieses Tor fast von einem Tag zum nächsten aufgeht.«

»Ein bisschen ist es dann so wie mit anderen Gaben«, fuhr Matt fort und kratzte mit dem Daumennagel an der Flasche herum. »Wie musikalisches oder künstlerisches Talent. Man muss sie entwickeln und üben. Zuerst merkt man vielleicht nicht mal den kühlen Luftzug, oder es ist einem nicht bewusst, was das bedeutet, wenn es einem kalt über den Rücken rinnt. Und die meisten Geister sehen auf den ersten bis dritten Blick ja nicht viel anders aus als unsereins. Wenn sie dann allerdings zeigen, was sie drauf haben …« Matt schüttelte sich, grinste dann aber, während es mir flau in der Magengegend wurde.

»Seit … seit wann kannst du …« Ich brachte es nicht über mich, es auszusprechen.

Matt kaute so heftig auf seiner Unterlippe herum, dass sich sein Goatee auffächerte, und drehte dabei den Deckel der Plastikflasche erst zu, dann wieder auf, dann wieder zu. »Ich weiß es gar nicht so genau. Als ich sechs war, lag ich eine Weile im Krankenhaus. Mit Leukämie. Sah überhaupt nicht gut aus für mich. Ich hab dann doch gerade noch so die Kurve gekriegt – und danach hat es irgendwann angefangen. Wie gesagt: Ich hab mir erst mal gar nicht so viel dabei gedacht.« Er grinste ironisch. »Aber meinen Eltern hab ich einen Riesenschrecken eingejagt, als ich davon erzählt habe. Bis ich gelernt hatte, solche Sachen für mich zu behalten, dachten Mom und Dad, die Chemo hätte mein Hirn weich gekocht. Der alte chinesische Geisterglaube ist in ihrer Generation irgendwie verloren gegangen, nur meine Granny glaubt noch an so was.« Er drehte den Deckel wieder ab, setzte die Flasche an und zwinkerte mir darüber hinweg zu. »Immerhin gibt’s aus dieser Zeit im Krankenhaus die denkbar geilsten Alien-Fotos von mir, mit kahlem Kopf, aufgeschwollenem Gesicht und Schläuchen überall.«

»Was Matt in seiner unnachahmlich charmanten Art«, Holly warf ihm einen kessen Blick unter flatternden Wimpern zu und drückte den Zigarettenstummel im Aschenbecher aus, »eigentlich sagen wollte … Er war damals zweimal schon so gut wie über den Jordan und sie mussten ihn zurückholen.« Sie schob die Hände unter die Oberschenkel und baumelte sacht mit den Beinen. »Es ist selten, dass es schon in der Kindheit anfängt wie bei Matt. Bei den meisten, von denen ich gehört habe, hat sich diese Fähigkeit irgendwann zwischen dreizehn und achtzehn entwickelt, nach einem einschneidenden Erlebnis genau in dieser Zeit. Entweder durch eine eigene Nahtoderfahrung oder durch besonders große Nähe zu einem Todesfall. Vielleicht weil dieses Alter genauso der Übergang zwischen Kindheit und Erwachsenenalter ist wie die Geister im Übergang zwischen Diesseits und Jenseits festhängen. Und …«

»Ambers Mom ist vor einiger Zeit gestorben«, rief Matt dazwischen und ignorierte meinen wütenden Blick.

»Scheiße.« Holly sah mich mit aufrichtiger Bestürzung an. »Woran?«

»Hirntumor«, flüsterte ich. Hollys deftige Reaktion, ihre ganze direkte, unverblümte Art machte es mir irgendwie leichter, es auszusprechen, und ich fügte hinzu: »Glioblastom.«

»Scheiße«, wiederholte Holly mit gerunzelter Stirn und zuppelte eine weitere Zigarette aus der Schachtel.

Matt starrte mich unverhohlen neugierig an. »Warst du dabei, als sie starb?«

Das freundlich hergerichtete, aber trotzdem trostlose Zimmer im Krankenhaus. Der halb dumpfe, halb beißende Geruch nach Desinfektionsmitteln und Medikamenten. Mams Finger, die sich eisig in meiner Hand anfühlten. Mam, die gar nicht mehr so aussah wie meine Mam, nur noch gelbliche Haut und Knochen, ihr Gesicht scharf und spitz wie das eines Vogels. Ein stumpfer, erstickender Geruch nach Krankheit und Tod. Mams Atem, der unregelmäßig ging, dann in größeren Abständen kam und irgendwann gar nicht mehr. Gabi, die die Arme um mich legte und weinte, und Ted, seine Wangen nass und die Augen rot gerändert hinter der Brille, der mich an sich zog und festhielt. Das erste Mal seit langer Zeit, dass ich es ihm erlaubt hatte. Und das letzte Mal.

Meine Augen brannten plötzlich; mein Magen drehte und krümmte und wand sich, und ich schnappte nach Luft. Ich hustete und würgte und zitterte, versuchte krampfhaft, mich nicht in Hollys Küche zu übergeben.

»Fuck! Mensch, Matt!«, hörte ich sie rufen und vom Fensterbrett herunterspringen, dann irgendwo herumkramen; im nächsten Moment legte sich ein Arm um meine Schultern und ein scharfer, aber frischer Geruch stach mir in die Nase und prickelte bis weit hinter die Stirn hinauf.

»Schön langsam atmen«, murmelte Holly neben meinem Gesicht. »Ein. Und aus. Ein. Und wieder aus. Und wieder ein. Besser?« Ich nickte; sie rieb mir über den Rücken und legte ihre Schläfe gegen meine, als sie mich kurz an sich drückte. Unter dem Zigarettenrauch roch sie gut, ein bisschen nach Vanille und Räucherstäbchen. »Armes Schnecklein«, raunte sie, rubbelte mir noch einmal über die Schulter und stand auf. Heftig setzte sie das Glasfläschchen, das sie mir unter die Nase gehalten hatte, auf dem Tisch ab und raufte Matt unsanft die ketchuproten Haare. »Manchmal bist du echt ein unsensibler Klotz!«

Treuherzig sah er sie von unten herauf an. »Aber nur manchmal!« Dann schickte er mir ein verlegenes Grinsen entgegen. »Sorry!«

Ich griff zu meinem Rucksack. »Ich … ich muss dann mal los. Danke für den Tee.«

»Ich bring dich nach Hause.« Matt sprang auf, aber Holly hielt ihn an einem Zipfel seiner Kapuzenjacke zurück.

»Nein, Honey! Du bleibst schön hier. Ich glaube, Amber muss jetzt ein bisschen allein sein. Oder nicht?« Ein warmer Glanz lag in ihren braunen Augen, der das Rosa ihrer Igelfrisur noch heller und fluffiger wirken ließ und ihr Gesicht mit der gepiercten Nase und den zigfach durchstochenen Ohrmuscheln weniger taff als vielmehr ganz weich und lieb, und ich nickte.

»Ja, okay.« Matt versenkte die Hände in den Taschen seiner Baggypants, »aber vielleicht … äh … magst du irgendwann mit mir in der Schule zu Mittag essen. Montag oder so?«

Meine Schulbücher und Mitschriften lagen immer noch unberührt vor mir auf dem Schreibtisch, genauso wie ich sie nach dem Abendessen hingelegt hatte. Untätig war ich trotzdem nicht gewesen; in den vergangenen Stunden hatte ich das Internet nach den Schlagwörtern Geist (laut Google Ungefähr 126.000.000 Ergebnisse, 0,14 Sekunden) und Geistersehen (Ungefähr 144.000.000 Ergebnisse, 0,28 Sekunden) durchforstet. Unendlich viele Websites und Foren existierten darüber im Netz, und ich hatte herausgefunden, dass es nicht nur bändeweise Literatur über Spukhäuser und Geistererscheinungen in den USA gab, sondern auch geführte Geistertouren in allen möglichen Städten – auch durch die Straßen von San Francisco. Das Haus in der Franklin Street war allerdings nicht bei den Geistertouren durch die Stadt dabei und auch sonst spuckte mir Google nichts darüber aus. Reality-TV-Sendungen wie Ghost Hunters hatte ich gefunden, in denen Geisterjäger paranormalen Aktivitäten auf den Grund gingen und diverse Magazine wie The Anomalist, Fortean Times oder Fate. Und natürlich eine Fülle an Filmen zum Thema. Allen voran The Sixth Sense und Ghost, klar. The Others. Echoes. The Ring. Ein paar davon hatte ich sogar gesehen und mich mal mehr, mal weniger dabei gegruselt. Und im Fernsehen liefen Serien mit großer Fangemeinde wie Supernatural oder Ghost Whisperer.

Warum hatte ich trotzdem das starke Gefühl, dass das alles rein gar nichts mit mir zu tun hatte? Warum kam ich mir trotzdem so vor, als würde etwas mit mir nicht stimmen?

Ich hatte lange über Matt nachgedacht. Über die ruppige, reichlich makabre Art, mit der er über die schwere Krankheit redete, die ihn als kleinen Jungen beinahe das Leben gekostet hatte; umso fester schien er mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen zu stehen. Holly und Matt hatten heute Nachmittag so normal geklungen, als hätten sie über ein physikalisches Phänomen gesprochen oder über die strittige Deutungsweise eines Shakespeare-Sonetts – und nicht über Geister. Als ob das für sie ganz selbstverständliche Realität wäre. Aber vielleicht hatten die beiden trotzdem einen Sprung in der Schüssel, und zwar ganz genau den gleichen wie ich.

Ich seufzte auf und rief zum wiederholten Mal den Wikipedia-Artikel Geist auf.

Beschreibungen von Geistererscheinungen variieren stark von einer unsichtbaren Präsenz über durchscheinende oder kaum sichtbare Formen bis hin zu realistischen, lebensechten Visionen.

Was erklären würde, warum ich bis zum buchstäblich letzten Augenblick nicht einmal geahnt hatte, wer oder was Nathaniel gewesen war. Ich erinnerte mich daran, wie sich seine breiten Schultern unter dem Hemd abgezeichnet hatten und Licht und Schatten die Konturen seines Körpers herausmodelliert hatten. Wie sich seine helle Haut über die kräftigen Knochen spannte und wie sich seine Locken verwuschelten und dann wieder zurückfielen, wenn er mit seinen Händen hindurchfuhr. Ich erinnerte mich daran, wie er mich mit seinen grünen Augen angesehen hatte, wie sich seine Brauen bewegten und wie er mich anlächelte. Sogar an seinen Geruch, moosig, holzig und ein bisschen rauchig, erinnerte ich mich und daran, wie das einfallende Licht aus den Fenstern seinen Schatten auf den Boden oder die Wände malte. Ich legte die verschränkten Unterarme auf den Schreibtisch und drückte das Gesicht dagegen. Ich sehnte mich so sehr danach, ihn zu sehen. Danach, dass er mich bei der Hand nahm und in seine Arme zog; danach, ihn zu spüren, ihn vielleicht sogar zu küssen. Konnte ich mir das wirklich alles eingebildet haben? War ich so einsam, so verzweifelt gewesen, dass mir mein krankes Hirn einen tollen Jungen vorgegaukelt hatte, der mich auch gut fand?

Sofort kehrte auch die Erinnerung daran zurück, wie er sich auf meiner Haut angefühlt hatte. Dieser schattenhafte Zustand zwischen einem festen Körper und dem Nichts, wie taugetränkte Spinnweben, und ein Schaudern durchfuhr mich.

Wie kann etwas, das dir offenbar solche Angst einjagt, nicht real sein?, fiel mir die Frage von Dr. Katz gestern wieder ein. Ich stützte die Ellenbogen auf und vergrub die Finger in meinen Haaren. Irgendwie drehten sich meine Gedanken andauernd im Kreis. Meine Augen wanderten zurück zum Bildschirm und blieben auf der Artikelübersicht hängen.

2 Typologie – 2.1 Anthropologischer Kontext.

Ich nagte auf meiner Unterlippe herum, dann schob ich den Stuhl zurück und tapste auf Socken hinüber ins Arbeitszimmer.

»Hey.«

Teds Kopf ruckte vom Computerbildschirm hoch. »Hey.« Er lächelte müde, dann warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. »Du bist noch nicht im Bett?« Ich drückte mich beschämt gegen den Türrahmen und der Ausdruck auf seinem Gesicht wurde weich. »Heute Nacht schläfst du bestimmt besser!« Er klang nicht sonderlich überzeugt.

»Tut mir leid, dass ich eine solche Plage bin«, flüsterte ich; irgendwie war ich heute weniger auf Krawall gebürstet als sonst.

Er blinzelte mich durch seine Brille hindurch an. »Du bist doch keine Plage! Das ist ein bisschen so wie damals, als du gerade geboren warst und uns nachts ganz schön auf Trab gehalten hast.«

Meine Augenbrauen rutschten hoch.

Ein zerknirschtes Grinsen deutete sich auf seinem Gesicht an. »Schlechter Vergleich?«

Ich musste schmunzeln. »Ziemlich.« Mein Fußballen rieb über den Holzboden. »Sag mal, hast du unter deinen ganzen Büchern vielleicht auch welche über … hm … Geister?«

»Ja, sicher.« Er stand auf und ging zu einem der Regale. »Für die Schule?« Ich brummelte etwas in mich hinein, das zustimmend klingen sollte. »Spannendes Thema. Was Allgemeines oder was Spezielles?«

»Öhm. Vielleicht erst mal allgemein?«

Ich folgte ihm und ließ verstohlen meine Augen über die bizarren Statuen und die Glasbehältnisse in den Vitrinen wandern, über die Pfeilspitzen und die Tontöpfe. Die Amulette, die mich an diejenigen in Hollys Laden erinnerten. Ich wandte mich wieder Ted zu und beobachtete, wie er mit schräg gelegtem Kopf seine Finger über die Buchrücken wandern ließ.

Eigentlich wusste ich gar nicht so genau, was er als Anthropologe machte; Mam hatte es mir zwar ein paarmal erklärt, aber erst war ich noch zu klein gewesen, und später hatte es mich nicht mehr wirklich interessiert. Ich hatte immerhin mitbekommen, dass er das Alltagsleben der Völker auf dieser Welt erforschte und dokumentierte, mit den Menschen Interviews führte, in denen er sie nach ihren Gedanken, Gefühlen und Überzeugungen befragte, und das Ganze mit anderen Völkern verglich, um zu erforschen und zu verstehen, wie sich einzelne Kulturen, aber auch die gesamte Menschheit entwickelt hatten.

Als er mir das erste Buch reichte, fiel mein Blick auf das Wandstück zwischen der Regalkante und dem Fenster. Ted hatte neulich im Supermarkt einen ganzen Stapel Bilderrahmen gekauft und inzwischen noch mehr Fotos gerahmt und aufgehängt; Bilder, die ihn in tropischen Landschaften und vor Eingeborenendörfern zeigten. Auf einem Foto war er auf einem Waldboden vor einem dunkelgrünen Zelt in die Knie gegangen und hatte den Arm um eine sehr schöne Frau gelegt. Ihre kupferroten Krissellocken lässig im Nacken zusammengenommen, strahlte sie mit den hellgrünen Augen in ihrem milchweißen, sommersprossigen Gesicht in die Kamera. Wie selbstverständlich ihre Hand auf Teds Oberschenkel lag, versetzte mir einen Stich.

»Wer ist das da auf dem Foto?«, fragte ich, als Ted mir das nächste Buch gab.

»Das da? Das ist Maggie. Maggie MacGinnis. Wir waren im selben Forscherteam auf Borneo. Sie lehrt heute an der New York University.«

Ich knabberte auf meiner Unterlippe herum und nahm das nächste Buch entgegen. »Wart ihr mal zusammen?«

Ted warf mir einen überraschten Seitenblick zu, bevor er in sich hineingrinste. »Wir haben uns tatsächlich einmal geküsst. Ungefähr fünfzehn Sekunden lang. Dann hat Maggie mir die Schulter getätschelt und gemeint, sie wüsste jetzt sicher, dass sie nicht auf Männer steht.« Er schnitt eine Grimasse. »War natürlich ein herber Schlag für mein Ego.«

Ich gluckste vor mich hin und auch Ted lachte leise.

Ich hätte ihn gern noch mehr gefragt, aber ich traute mich nicht. Obwohl wir jetzt ganze vier Monate unter einem Dach lebten, er mir ein bisschen was aus seiner Kindheit und Jugend erzählt und ich vergilbte Fotos von ihm als Knirps und als Teenie in meinem Alter gesehen hatte, war er mir immer noch schrecklich fremd.

Ich starrte auf die Bücher in meinen Händen. »Glaubst du an Geister?«, fragte ich ihn zögerlich.

»Nicht im klassischen übernatürlichen Sinne«, murmelte er, während er mit Blicken das Regal absuchte, »obwohl so ziemlich alle Kulturen Geister oder ähnliche Gestalten in der einen oder anderen Form kennen. Aber als Ausdruck unbewusster psychologischer Prozesse schon. Als Sinnbild für die Urängste der menschlichen Seele. Als ein ewig gültiges Symbol für Vergangenes, das einen so lange immer wieder heimsucht, bis man es verarbeitet hat.« Mit einem wehmütigen Lächeln reichte er mir noch ein Buch. »Und das kenne ich tatsächlich aus eigener Erfahrung.« Er tippte auf das oberste der Bücher. »Damit kannst du vielleicht fürs Erste was anfangen. Wenn du noch mehr haben willst oder Fragen hast – nur zu!«

»Danke.« Ich presste den Bücherstapel an mich. »Gibt’s – gibt’s was Neues aus Deutschland? Von Oma und Opa?«

»Bis jetzt noch nicht. Ich hab alle angeforderten Unterlagen hingeschickt. Jetzt heißt es abwarten.«

Ich nickte. Mein Kopf senkte sich immer tiefer über die Bücher in meinen Armen, je länger ich Teds Blick auf mir spürte.

»Es ist schön, dass du da bist«, sagte er dann leise.

Aus meiner Magengegend blubberte etwas herauf, blieb aber irgendwo auf halber Höhe hängen. »Danke noch mal«, war das Einzige, was ich mit einem verwackelten Lächeln herausbrachte. »Nacht.«

Ich hab dich so sehr vermisst. Ich schaute in Nathaniels grüne Augen und mein Herz wurde weit. Unsere Finger fanden und verschränkten sich; fest und warm fühlten sich seine an, wie aus Fleisch und Blut, und ich lächelte.

Ich hörte das Wasser erst, als es schon gegen die Scheiben krachte und sie zersplitterte. Tosend fluteten die Sturzbäche in den Raum, schäumten hoch auf und schlugen über die Wände. Nathaniel packte mich mit der anderen Hand und wollte mich an sich ziehen, doch da begann er sich bereits aufzulösen. Zu einem kühlen Nebel zerfaserte er, den ich nicht mehr greifen, der mich nicht mehr halten konnte, und meine Finger glitten durch ihn hindurch. Ein gischtsprühender, fauchender Strudel packte mich und zerrte mich mit sich in die Tiefe. Und das Letzte, was ich sah, waren Nathaniels Augen und meine Spiegelung darin, wie ich mit angstvoll verzerrtem Gesicht davongerissen wurde.

Dann schrie ich, schrie aus Leibeskräften, bis Ted mich wachrüttelte.