38
So finster und still wie früher war die Nacht schon lange nicht mehr. Aber es gab sie noch, die Stunde, in der die Nacht schwärzer und stiller war als sonst.
So wie jetzt, während ich am Fenster stand. Ringsum schliefen die Menschen tief und fest und ihre Seelen öffneten sich. Für Träume. Für Eingebungen, die erst nach dem Aufwachen irgendwann an die Oberfläche kommen. Für Geister.
Lange rang ich in dieser Nacht mit mir. Aber das Sehnen nach ihr war stärker.
Als ob ein Dutzend Musiker uneins waren, was sie auf der Saite in mir spielen sollten, so war es plötzlich gewesen. Der eine riss heftig daran, dass es laut und grell in mir widerhallte, der andere zupfte sanft eine schmeichlerische Melodie. Ein wilder Tumult war es, gleichzeitig schrecklich und schön, den ich mir nicht erklären konnte. Bis ich zum Fenster trat und Amber unten stehen sah in ihrer grauen Jacke, eine helle Bluse darunter. Der Wind fuhr durch ihr Haar. Ihre Stirn war grüblerisch zerfurcht und sie kaute auf ihrer Unterlippe herum, ein tosendes Chaos an widerstreitenden Gefühlen in sich. Während ich einfach nur glücklich war.
Bis sie den Kopf hob und zu mir hinaufschaute. Bis die blaue Stichflamme der Angst in ihr aufschoss und sie davonrannte und ich mich auf den Boden sinken ließ, den Kopf in den Händen vergraben.
Ich sprach mir Mut zu, schloss die Augen und ließ mich durch Holz und Stein gleiten. Die Nachtluft legte sich kühl um mich, und das Laub der Bäume und Sträucher strahlte etwas ab, das über mich hinwegkribbelte. Wie nackt fühlte ich mich, ohne die schützende Hülle des Hauses. Ich legte den Kopf zurück und sah zum Himmel hinauf, an dem Wolkenfetzen über die blassen Sterne zogen. Es war lange her, dass ich ihn ohne das Glas einer Fensterscheibe davor gesehen hatte.
Ich überquerte das Gras und tauchte durch die Eisenstreben des Zauns hindurch. Über mir zischte etwas und ich fuhr zusammen. Zwei Wirbel, schillernd wie Perlmutt und so durchscheinend, dass sie selbst für einen wie mich kaum zu sehen waren, tanzten über mir. Ich duckte mich. Verlorene Seelen waren es, von der Sorte, die mir immer unheimlich gewesen war. Formlose Nebel, von denen eine hässlich flammende Lust an der Vernichtung ausging. Ein Grund, weshalb ich das Haus ungern verließ, und ich verspürte Erleichterung, als sie davonstoben, in die Nacht hinaus.
Einige Zeit harrte ich so aus und lauschte in mich hinein. Bis ich das feine Vibrieren tief in mir spürte. Einen Moment lang versuchte ich noch stark zu bleiben, dann gab ich nach und ließ mich durch die Straßen der Stadt vorwärtsziehen. Das Schwingen in mir wurde rasch stärker, federte mal tiefer und ruhiger, zitterte dann unvermittelt wieder schnell und hoch, beinahe schrill, und tat mir fast weh. Als ob sie litt.
Ich war überrascht, wie kurz der Weg war, in welch geringer Entfernung zu mir sie lebte. Ich musterte den beleuchteten Eingang und sah zu den Fenstern hinauf, von denen einige wenige noch erhellt waren. Und ich musste über mich selbst lächeln, als mir einfiel, wie dumm ich mich anfangs angestellt hatte. Bevor ich begriffen hatte, wie einfach ich Mauern durchdringen konnte, hatte ich immer verzweifelt nach offenen Türen oder Fenstern gesucht. Damals, als ich noch nicht einmal gelernt hatte, meine Kraft so zu bündeln, dass ich Gegenstände wie einen Türknauf bewegen konnte.
Ich rührte mich nicht von der Stelle. Es war nicht recht, hier zu sein. Wenn sie mich hätte sehen wollen, wäre sie ins Haus gekommen und nicht davongelaufen. Ich schob die Hände in die Hosentaschen und drehte mich ein paarmal unschlüssig im Kreis. Ein Geräusch, eine Bewegung ließen mich aufblicken. Am Fenster über mir glühten zwei gelbe Augen: ein dicker weißer Kater, der auf das Fensterbrett gesprungen war und mich hasserfüllt anglotzte, dann wütend fauchte und sich dabei noch weiter aufplusterte.
»Na, na, na, Oscar!« Eine ältere Frau in einem Morgenrock tauchte hinter dem Kater auf. »Was hast du denn?« Sie spähte durch die Scheibe nach draußen und schüttelte den Kopf. »Da ist doch nichts! Siehst du wieder Gespenster?«
Ich grinste.
Mit beiden Händen packte sie den grell miauenden und zischenden Kater und trug ihn weg. Er verrenkte sich den Kopf nach mir und ich zog eine Hand aus der Tasche und winkte ihm spöttisch zu.
Nathaniel. Es war nur ein Hauchen. Unendlich viel leiser als ein Flüstern, hallte es doch laut in mir wider. Nathaniel.
Sie dachte an mich. Sie sprach meinen Namen aus.
Ein Lächeln zuckte um meinen Mund und ich ließ mich aufwärtstreiben, durch die Lücke zwischen den beiden Häusern hindurch. Wie eine Motte zum Licht zog es mich die Mauer entlang, hin zu dem blassen Leuchtfleck ihres Zimmers.
Ich presste die Hände gegen die Scheibe, die auf der anderen Seite von einem zarten Stoff verhängt war, und lehnte die Stirn dagegen. Immer tiefer glitt sie in den Schlaf hinab, und als sie auf den Grund ihres Seins gesunken war, schob ich mich durch Glas und Mauerwerk hindurch. Langsam und vorsichtig, immer auf der Hut, damit ich sie nicht weckte.
Im Schein der Lampe lag sie da, das Gesicht halb in ihr Kissen geschmiegt und ein flauschiges Gewebe in den Fäusten an sich gepresst. In fast demselben Blaugrün wie die Decke, die sie bei mir gelassen hatte; ich hatte sie nie gefragt, was ihre Lieblingsfarbe war.
Ihre Brauen zogen sich zusammen und sie erschauerte; ihre Lider flatterten, und ich wich zurück, bereit, jeden Augenblick wieder zu verschwinden. Dann entspannten sich ihre Züge erneut. Sie musste völlig erschöpft sein, so fest wie sie schlief.
Das Zimmer war durchdrungen von ihrem Wesen, aber nicht sonderlich stark; es war zu spüren, dass sie noch nicht lange hier lebte. Aus dem Raum daneben schwappte etwas Dunkles, Schweres zu mir, wie von machtvollen Objekten. Nicht so gewaltig, dass ich mich davor hätte fürchten müssen, zumindest solange ich hierblieb, und trotzdem beruhigte es mich ein wenig, dass ich sie nachts in ihrer Nähe wusste. Dahinter nahm ich den nur leichten Schlaf eines Mannes wahr, ihres Vaters vermutlich.
Ihr Schreibtisch war von aufgeschlagenen Büchern und bedruckten Seiten übersät; es gefiel mir, dass sie ein so kluges Mädchen war. Meine Brauen hoben sich, als ich die Rücken des Bücherstoßes in der Mitte des Tischs entzifferte. Bücher über Erscheinungen wie mich waren es und ein Lächeln zuckte über mein Gesicht. Sie dachte tatsächlich an mich, sie wollte mehr über meinesgleichen wissen!
Ich betrachtete sie, wie sie dalag, die Decke bis zur Brust hochgezogen und in einem Oberteil mit kurzen Ärmeln aus blau glänzendem Stoff. Mein Blick fiel auf das Bild neben ihrem Bett. Sie und eine sehr schöne Frau, die ihre Mutter sein musste; die Ähnlichkeit in den Zügen war unverkennbar. Ihre Mam, wie sie sie immer nannte. Ob sie den Weg auf die andere Seite gefunden hatte oder wie ich als ein Schatten umherirrte? Ich hoffte nicht.
Im Schlaf bewegten sich sacht ihre Lippen, in weniger als einem Murmeln. Nathaniel.
Eigentlich hatte ich nur hier sein wollen, hier bei ihr, sie ansehen. Und dann war es mir doch nicht genug. Ich kam näher, noch näher, und als sie still liegen blieb, setzte ich mich zu ihr, streckte mich schließlich behutsam neben ihr aus.
Nathaniel?
»Ich bin hier, Amber«, raunte ich so leise ich konnte. Vielleicht hatte ich es auch nur gedacht. »Hier bei dir.« Ihr Mund verzog sich zu der Andeutung eines Lächelns.
Ich hob eine Hand und strich über den Rücken ihrer Faust. Die Haut auf ihrem Unterarm kräuselte sich und legte sich dann wieder glatt. Ich hielt inne und strich dann noch einmal über ihre Hand. Noch einmal rann Gänsehaut über ihren Arm, und ich musste mich beherrschen, nicht zu lachen.
Ihre Faust öffnete sich, ihre Finger reckten sich nach mir, und ich erstarrte. Schloss dann mit einem wohligen Schauder die Augen, als sich ihr Arm quer auf meinen Bauch legte und darin eintauchte, als sie noch ein Stückchen näher zu mir rückte. Wie ein Hund, der sich in der Sonne aalt, so kam ich mir vor unter der Wärme, die sie durch mich hindurchschickte. Ich öffnete die Augen und rutschte tiefer hinab, dass ihr Gesicht an meinem war und ihr Arm in meiner Brust.
Lange ließ ich einfach nur meine Augen über ihr Gesicht wandern. So sanft sah sie aus und dabei konnten ihre Augen solche Funken sprühen. Vor allem wenn sie wütend war. Das machte sie so besonders. Diese Zähigkeit, fast schon Härte an ihr, hinter der etwas Zerbrechliches schlummerte, eine Zärtlichkeit und Leidenschaftlichkeit. Die sie wie ihre anderen heftigen Gefühle die meiste Zeit tief in sich vergrub und die nur dann aufschien, wenn sie nicht mehr anders konnte, als sie hervorbrechen zu lassen.
Wie von selbst senkten sich meine Finger auf ihr Haar, das unter meiner Berührung sacht aufflatterte; unglaublich seidig war es. Meine Fingerspitzen wanderten tiefer, auf ihre Wange hinab, und ihre Nase zuckte, als hätte ich sie gekitzelt. Ich hielt mein Gesicht näher an ihres, bis ich ihren tiefen, ruhigen Atem spüren konnte. Mich verlangte es so sehr danach, meinen Mund auf den ihren zu drücken, ihre Lippen zu fühlen. Aber noch mehr wollte ich, dass sie mich vorher ansah, mir in die Augen sah, vor unserem ersten Kuss. Ein dummer Gedanke, das wusste ich wohl. Wie sollte sie mich jemals küssen können – wie könnte sie das auch nur wollen! Und trotzdem kam mir dieser Gedanke, und das nicht zum ersten Mal.
Vorsichtig legte ich meinen Mund gegen ihre Stirn, dann auf ihre Wange, und als sie sich in mich hineinschmiegte, wollte ich so sehr diese viel zu dicke Decke beiseiteschieben und mich zu ihr legen, ihren ganzen Körper spüren. Eine Vorstellung, die mich unruhig machte, für die ich mich beinahe schämte. Und dennoch breitete sich ein tiefes Gefühl des Friedens in mir aus, weil sie mir so nahe war.
Ich ließ meine Hand auf ihrem Haar ruhen, das sich wie unter einer leisen Brise sacht bewegte, als lägen wir beide irgendwo am Ufer der Bay, und freute mich an dem seligen Lächeln, das sich auf ihre Züge malte.
Ich wünschte mir, diese Nacht würde nie enden. Ich wünschte mir, ich könnte bis in alle Ewigkeit so bei ihr liegen und über ihren Schlaf wachen. Bei ihr sein, wenn sie morgens die Augen aufschlug. Das Erste sein, was sie am Anfang eines neuen Tages sah, und genau wissen, dass sie das glücklich machte. Anstatt den Moment zu fürchten, in dem sie aufwachte und ihr Schrecken und Angst bis ins Mark fahren würden.
Anstatt zu wissen, dass bald schon die Stadt langsam aus ihrer Nachtruhe heraufdämmerte und es Zeit für mich war, zu gehen.
Bevor Amber aufwachte.