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Einhundertdreißig Jahre … Eine unvorstellbar lange Zeit.

Mehr als einhundertdreißig Jahre lang war Nathaniel also schon dazu verdammt, zwischen der Welt der Lebenden und der der Toten festzusitzen, nach einem Leben, das nicht viel länger gedauert hatte als meines bis jetzt und gerade mal halb so lang wie das von Mam. So ungerecht kam es mir vor – und so unsagbar traurig. Etwas Schweres legte sich auf meine Brust und drohte sie zu zerquetschen; ich konnte nur noch stoßweise Atem holen.

»Wie … wie bist du … gestorben?«, brachte ich flüsternd hervor, während ich unaufhörlich über seine Wange streichelte.

»Ich weiß es nicht«, raunte er, und meine Haare flatterten unter seiner Hand, als er mir darüberstrich. »Es ist wie … wie wenn dicker Nebel über der Bay hängt. Du weißt, welche Straßen, welche Häuser sich darunter verbergen, ahnst ungefähr, wo du bist, aber du kannst einfach nichts mehr erkennen. Und so geht es mir mit der letzten Zeit, bevor … bevor …« Er verstummte.

»Was ist das Letzte, woran du dich erinnerst?« Mitten in seiner Bewegung hielt er inne. Dann nahm er seine Hand weg und bog den Kopf zurück; sogar meinem Blick wich er aus. »Nathaniel?« Er vergrub die Finger in seinen Locken; in seinem Gesicht zuckte es, und mir wurde flau im Bauch, als ich sah, wie er mit sich rang. »Nathaniel?« Meine Stimme war kaum noch zu hören.

»Ich …« Seine Schultern ruckten unruhig hin und her und in einer energischen, fast zornigen Bewegung wischte er über die Decke unter sich. »Da war ich mit einem Mädchen zusammen.« Trotzig klang er, beinahe störrisch.

Ich blinzelte. »Und warum fällt es dir so schwer, mir das zu … Oh.« Meine Wangen wurden heiß. »Du meinst, ihr wart zusammen … im Bett?« Die letzten Worte hatte ich nur noch gehaucht; mein Gesicht fühlte sich an, als würde es grellrot leuchten. Und als Nathaniel mit abgewandtem Kopf nickte, traf es mich mitten ins Herz.

Ich rollte mich auf den Rücken und starrte an die Rosenblüten und Ranken an der Decke der Eingangshalle. »Hast … hast du sie geliebt?« Meine Augen schlossen sich, und in mir verkrampfte sich alles, während ich auf seine Antwort wartete.

»Nein.« Schuldbewusst klang er, und wie um sich zu verteidigen, setzte er hinzu: »Aber ich hab sie ganz gern gemocht.«

Obwohl ich wusste, dass es völlig absurd war, wurde es mir eng in der Brust, weil Nathaniel vor weit über einhundert Jahren ein Mädchen auf eine Art in den Armen gehalten und geküsst hatte, wie er mich niemals in den Armen halten und küssen könnte, ein Mädchen, das schon längst nicht mehr lebte. Hastig rollte ich mich halb auf den Bauch, von ihm weg, ein Knie angezogen und mein glühendes Gesicht hinter den Unterarmen verborgen. Ich hatte nie eines der Mädchen sein wollen, die einen Jungen danach fragten, ob er sie mochte, aber ich musste es unbedingt wissen.

»Magst du mich auch ganz gern?«, würgte ich hervor und schämte mich dafür in Grund und Boden.

Ein sanfter Wind glitt über mich hinweg, als Nathaniel sich dicht an mich heranschob und den Arm um mich legte. »Ich weiß nicht mehr viel von früher«, raunte er mir ins Ohr und verwirbelte dabei meine Haare, »aber eines weiß ich ganz gewiss: Ich hab noch nie für ein Mädchen empfunden, was ich für dich empfinde. Denn das könnte ich nie vergessen. Bis in alle Ewigkeit nicht.«

Ich kniff die Augen zu und krümmte mich fester zusammen, um nicht zu zerplatzen unter dem Glücksgefühl, das wie ein Sturm durch mich hindurchtoste. Unter den luftigen Küssen, die Nathaniel in meine Haare, auf mein Ohr und meine Schläfe tupfte, entwich mein angehaltener Atem nach und nach. Ich drehte mich auf den Rücken und schaute zu ihm auf, wie er halb auf mir lag, halb über mir schwebte, die Hände links und rechts von mir abgestützt. »Hat … hat dieses Mädchen vielleicht etwas damit zu tun, dass du … ums Leben gekommen bist?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Auch da bin ich mir sicher.«

Meine Augen wanderten über die Verzierungen aus Stuck und die holzverkleideten Wände, über den schillernden Lichtsee, den die Blumen im Glasfenster auf den Boden malten, die feinen Stäubchen, die darüber tanzten und glitzerten. »Und dieses Haus?«

Nathaniel hob den Kopf und sah sich ebenfalls um. »Das hier war nie mein Teil der Stadt. Ich kann mich nicht erinnern, früher jemals hierhergekommen zu sein.« Er stützte einen Ellenbogen auf, legte den Hinterkopf in die Handfläche und sah mich an. »Meine erste Erinnerung danach ist, wie ich ziellos durch die Straßen gewandert bin, überzeugt davon, ich hätte den Verstand verloren, weil ich meinen Körper nicht mehr richtig spüren konnte. Weil die Welt anders aussah und anders klang, weil ich nichts mehr roch und nichts mehr schmeckte. Weil ich plötzlich schwerelos war und mich niemand wahrnahm, auch nicht die Leute, die ich erst ansprach, dann anbrüllte. Die ich beim Arm zu packen versuchte und nur ihren Ärmel greifen konnte, nie sie selbst. Während ich mühelos Kisten umzustoßen vermochte und mit meinem Zorn sogar Fässer umkippen ließ, ohne sie zu berühren.« Sein Blick wanderte über mich weg durch den Raum. »Erst viel später hat es mich hierherverschlagen. Ich weiß nicht, warum, aber dieses Haus hat mich angezogen wie ein Magnet. Als ob ich hier in Sicherheit sein und andererseits auch keinen Schaden anrichten könnte. Als ob ich einfach hierhergehörte.«

»So geht es mir auch«, flüsterte ich. »Vom ersten Augenblick an.« Nathaniel richtete seinen Blick wieder auf mich, und ich legte meinen Kopf auf der Decke zurecht, um ihn besser ansehen zu können. »Glaubst du, wir kennen uns aus einem früheren Leben?«

»Ich bin noch nie einem Mädchen wie dir begegnet«, sagte Nathaniel leise. Ein kleines Lächeln tanzte über mein Gesicht, und die Haut auf meinem Arm kräuselte sich wohlig, als er mit seinen Fingern darauf entlangstrich. »Verrätst du mir auch was über dich?«

»Was denn?«

»Was ist deine Lieblingsfarbe?«

Das Lächeln blieb auf meinem Gesicht und ich sah ihm in die Augen. »Grün. – Und was ist deine Lieblingsfarbe?«

Nathaniel erwiderte mein Lächeln. »Blau. Es muss einfach Blau sein. Genau wie deine Augen.«

Es war albern. Es war kitschig. Es war wunderschön. Hinter meinem Brustbein kitzelte es, ein Kichern sprudelte hervor, und schließlich lachte ich zu den Rosen, Blättern und Ranken hinauf, Nathaniels tiefes Lachen in meinem Ohr.

Selig schloss ich die Augen, als seine Hand sich unter den Saum meiner Bluse schob, der dabei aufflatterte, und ein kribbelnder Schauder meine Taille aufwärtsrann; scharf sog ich die Luft ein, als Nathaniels Gesicht sich gegen meine Brust drückte. Ich fuhr mit den Fingern durch seine Locken, wollte sie tief darin vergraben, sie ihm zärtlich zerraufen – und griff in einen umherwirbelnden Dunst. Meine Hände verkrampften sich zu Fäusten und jeder Muskel in mir spannte sich an. Ich wünschte mir so sehr, Nathaniel spüren zu können. Ich wollte so sehr einen warmen, atmenden Körper greifen, Haut und Haare unter meinen Fingern haben.

Mutlos ließ ich die Hände sinken.