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Nachdem Ted unter viel Lenkradgekurbel seinen Wagen, ein älteres Modell in einem bräunlichen Silberton, aus der engen Parklücke am oberen Ende der Straße befreit hatte und zweimal abgebogen war, fädelte er sich zwischen anderen Autos, Bussen und den bunten Taxis in den dichten Verkehr auf einer ewig langen, schnurgeraden Straße ein. Im Licht der Straßenlaternen und der Scheinwerfer tanzten unzählige feine Wassertröpfchen eines stetigen Nieselregens. Zwischen den Häuserzeilen, deren poppige Fassaden in Dunkelheit und künstlichem Licht unwirklich und ein bisschen trostlos wirkten, zählte ich unterwegs zwei Synagogen mit Davidstern und mindestens vier Kirchen, die allesamt seltsame Namen wie »Temple Emanu-El« oder »Swedenbergian Church« trugen. Auf der rechten Seite tauchte ein gigantisch großer Park auf, der Presidio, den Ted mir schon gezeigt hatte, als wir vor zwei Tagen zusammen mit dem Bus zu meiner neuen Schule und wieder zurück gefahren waren. Damit ich den Weg alleine fand, wie Ted mir erklärte, wenn er mich einmal morgens nicht fahren konnte oder er nachmittags länger an der Uni arbeiten musste. Was ja nun wirklich nicht schwierig war: Die Linie 1 fuhr praktisch von Tür zu Tür. So witzig ich es fand, dass die Ansagen im Bus nicht nur auf Englisch, sondern auch auf Spanisch und Chinesisch gemacht wurden, so enttäuscht war ich, dass es keiner dieser gelben Schulbusse war, die ich aus dem Fernsehen kannte, denn ausgerechnet die Jefferson High im Stadtteil von Richmond wurde davon nicht angefahren. Was mir irgendwie zu denken gab.

Von der Stadt hatte ich bisher noch nicht viel gesehen. Ted hatte mich zwar mehrfach gefragt, ob ich mit ihm morgens joggen gehen wollte, und Ausflüge in den Presidio oder den Golden Gate Park vorgeschlagen, einen Bummel durch Chinatown oder eine Fahrt mit einem Cable Car. Oder auf den Coit Tower zu steigen, von dem aus man wohl einen atemberaubenden Rundblick über die gesamte Stadt hatte. Aber ich hatte zu nichts Lust gehabt. Er schien darüber nicht wirklich unglücklich zu sein; während American Football im Fernseher lief, hatte er die CD-Regale in die Wand gedübelt, weitere Möbel zusammengeschraubt und Kisten ausgepackt, wenn er nicht gerade in seinem Arbeitszimmer endlose Telefonate führte. Und ein-, zweimal hatte ich bis spät in die Nacht hinein die Tastatur seines Computers klackern und den Drucker emsig Blätter ausspucken hören. Auch an Silvester hatte ich nicht rausgehen und das Feuerwerk vom Pier aus anschauen wollen. Stattdessen hatte ich mich nach der Pizza, die Ted für uns bestellt hatte, in mein Zimmer verzogen, ein bisschen im Netz gesurft, Mails an Gabi, Julia und Sandra geschrieben und mich lange vor zwölf in mein Bett gelegt. Die Böller und Raketen, die das neue Jahr begrüßten, hatte ich nur im Halbschlaf wahrgenommen. Einmal waren wir in einen riesigen Supermarkt am anderen Ende der Stadt gefahren, der mich mit seinen meterlangen Regalen völlig geplättet hatte. Mich hatte es irritiert, dass fast alle Packungsgrößen, ob bei Milch, Cornflakes oder Waschmittel, offenbar auf sechsköpfige Familien mit Mega-Verbrauch zugeschnitten waren. Außer Tempotaschentücher, die es nur in der kleinformatigen 6er-Version gab und die dünn waren wie bei uns Kosmetiktücher. Als Ted mich anschließend gefragt hatte, ob ich noch den Campus der State University gleich nebenan besichtigen wollte, hatte ich die modernen orangeroten, grauen und gelben Fassaden zwischen den weiten Grünflächen gemustert und den Kopf geschüttelt, und seufzend hatte Ted den Blinker gesetzt und war an der Kreuzung wieder stadteinwärts abgebogen.

Sonst kannte ich nur Chico’s Market, einen Tante-Emma-Laden in einem grauen Haus mit verschnörkelten Erkern an der Leavenworth, der nächsten Straßenecke bergauf. Hinter den mit Reklame vollgepflasterten Scheiben unter der grünen Markise gab es sehr viel mehr Auswahl an Obst und Gemüse als im Supermarkt, das meiste davon Bio, worauf Ted ebenso viel Wert zu legen schien wie Mam. Und im Waschsalon waren wir noch gewesen, am Leroy Place, der aber gar kein Platz war, sondern eine winzige Sackgasse ganz in der Nähe von Chico’s. In dem kleinen Eckgeschäft mit verglasten Fronten und einem schwarz-weiß gekachelten Boden wuselte ein gewisser Lewey (oder Dewey?) in einem makellos weißen Kittel zwischen den Waschmaschinen, den Trocknern und dem Dampfbügler herum und sprach dabei mit breitem Lächeln ein Amerikanisch, das fast völlig in seinem chinesischen Akzent unterging und von dem ich so gut wie kein Wort verstand. Mehr wollte ich von San Francisco auch gar nicht kennenlernen.

»Sieht schlecht aus mit Parkplätzen«, murmelte Ted hinter dem Lenkrad und blickte sich suchend um, als er in die mit Bäumchen bepflanzte und von einem dichten Geflecht an Kabeln und Leitungen überspannte Straße einbog. Den Bürgersteig entlang reihte sich Auto an Auto und auf der rechten Seite erstreckte sich ein klobiger grauer Klotz mit hell erleuchteten Fensterflächen.

»Lass mich doch einfach irgendwo aussteigen«, erwiderte ich leichthin und klang gelassener, als ich mich fühlte.

Ted warf mir einen überraschten Seitenblick zu. »Bist du sicher?«

»Klar.«

Er setzte den Blinker und hielt unmittelbar vor dem Eingang. »Wirklich sicher, dass ich nicht mitkommen soll?«

»Yapp.« Ich klickte den Gurt auf und griff nach meinem Rucksack.

»Zimmer 105!«

Ich verdrehte die Augen. »Weiß ich!«

»Und du simst mir oder rufst mich auf dem Handy an, wenn du aus hast, dann hol ich dich …«

»Ja-haaa«, fiel ich ihm genervt ins Wort und stieg aus. »Bis dann!«

Ich schlug die Autotür zu und überquerte den Bürgersteig, auf dem von allen Seiten Schüler heranströmten. Die Feuchtigkeit in der Luft legte sich als dünner Film auf mein Gesicht, und ohne mich noch einmal umzudrehen, stapfte ich die Stufen hinauf. Das dreistöckige Schulgebäude war ein monströses Ungetüm aus grauem Beton, das ein bisschen aussah wie eine Fabrikhalle, kantig, schmucklos und schwerfällig – einfach grässlich. Über den weißen Flügeltüren, von zwei knorrigen, dicht belaubten Baumriesen eingerahmt, starrten die Portraits von Thomas Edison, Thomas Jefferson und William Shakespeare aus toten Augen über mich hinweg.

Noch 699 Tage. Wenigstens war die Sieben vorne schon mal weg.

Im Foyer mit dem bunten Wandgemälde summte es wie in einem Bienenstock; überall hingen Girlanden aus bunter Metallfolie, aus denen Happy New Year ausgestanzt war, und hoch oben über der großen Treppe breitete sich ein Banner aus, auf dem in roten Buchstaben Welcome to Spring Term! stand. Ich blieb einen Augenblick stehen und musterte die anderen Schüler, die auf den grau und rot bezogenen Sitzecken herumlungerten, schwatzend und lachend in Grüppchen zusammenstanden oder zielstrebig vorwärtsmarschierten. Immer wieder blieb jemand vor dem schwarzen Brett stehen, studierte die Aushänge und hastete dann weiter. Mit Erleichterung stellte ich fest, dass bis auf ein paar Mädchen in knapp knielangen Röcken mit Strumpfhosen und Stiefeln alle in ähnlichen Klamotten herumliefen wie ich in meinen Jeans, den Chucks und der Khaki-Jacke; ich ging damit völlig in der Menge unter. Abgesehen davon natürlich, dass die meisten Schüler, die ich sah, asiatische Gesichtszüge hatten; viele waren schwarz und mindestens genauso viele sahen lateinamerikanisch aus, und neben den wenigen weißen Gesichtern entdeckte ich ein paar, die indisch oder südostasiatisch wirkten. Die totale Multi-Kulti-Schule.

Ich schaute auf die Uhr, die zwischen an Nylonfäden schwebenden Kunstobjekten an der Decke hing. Fünf vor halb acht. Zögerlich machte ich einen Schritt vorwärts, da schoss von rechts ein Rollstuhl heran und fuhr mich beinahe über den Haufen; ich konnte im letzten Moment gerade noch zurückspringen.

»Sorry!«, brüllte mir der blonde Junge über die Schulter seiner schwarzen Bomberjacke hinweg zu und riss eine Hand in einem fingerlosen Lederhandschuh entschuldigend in die Höhe, während er mit der anderen den Rollstuhl weiter vorwärtstrieb, bis er mit quietschenden Reifen vor dem Aufzug auf der anderen Seite eine Vollbremsung machte. Ich verbiss mir ein wütendes Schimpfwort und setzte mich wieder in Bewegung.

Mit dem Schrillen der Schulglocke schaffte ich es Punkt halb acht vor die Tür zu Zimmer 105. Michelle Lim – School Counselor stand auf dem Plastikschild unter der Zimmernummer. Ich wartete, bis all die Stimmen, schnellen Schritte und zuklappenden Türen verklungen waren, dann klopfte ich an, ein flaues Gefühl im Bauch.

»Herein!«, zwitscherte es vergnügt hinter der Tür, die ich vorsichtig aufschob.

Von dem Bildschirm auf dem Schreibtisch blickte eine mandeläugige junge Frau in Jeans und rotem Strickpulli auf, die mit ihren schwarzen, zum Pferdeschwanz zusammengezurrten Haaren aussah, als ginge sie hier selbst noch zur Schule; daran änderte auch die schwere Hornbrille auf ihrer Stupsnase nichts. Sofort knipste sie ein 1000-Watt-Lächeln an.

»Hiiiii! Guten Moor-gen«, rief sie in extrem gut gelauntem Singsang, sprang auf und kam mit wippendem Pferdeschwanz auf mich zu. »Du musst Amber sein! Ich bin Michelle! Ganz, ganz herzlich willkommen an der Jefferson High«, rief sie und schüttelte mir kräftig die Hand. »Du wirst bei uns eine großartige Zeit verbringen!« Na sicher doch. »Nimm bitte Platz!«

Ich setzte mich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und sah mich verstohlen um, während Michelle zurück auf ihren Platz hüpfte, eine Akte vom Stapel nahm, aufschlug und gleichzeitig wild am Computer herumklickte. Die Regale an den Wänden waren mit Büchern vollgestopft; an den freien Flecken dazwischen hingen gerahmte Urkunden, Diagramme und Tabellen neben Kohlezeichnungen und Aquarellen.

»Sooo, da haben wir dich!«, verkündete Michelle freudig und löste ihren Blick vom Bildschirm. »Du weißt bestimmt, dass unsere Schule eine ganz besondere ist?«, fügte sie fragend und mit einem fast geheimnisvollen Unterton hinzu. Obwohl ich nickte, begann sie, das Mission Statement herunterzuspulen, das ich schon aus der Broschüre kannte, die Ted uns damals geschickt hatte. Für mich hatte es wie die offizielle Verlautbarung eines internationalen Großkonzerns geklungen, der mit blumigen Formulierungen und schillernden Zukunftsvisionen darüber hinwegtäuschen will, dass er seine Arbeiter ausbeutet und die Umwelt verschmutzt. Google hatte mir ausgespuckt, dass die Jefferson High ein Sonderprogramm für Autisten anbot und sowohl auf hochbegabte als auch auf lernschwache Schüler spezialisiert war, außerdem auf Jugendliche, die neu in Amerika waren und erst Englisch lernen mussten, sowie auf schwer gehandicapte und emotional belastete Schüler. Dreimal durfte ich raten, weshalb Ted ausgerechnet die Jefferson High als erste Wahl für mich vorgeschlagen und Mam sich dafür entschieden hatte.

»… jedenfalls legen wir allergrößten Wert auf die individuelle Förderung deiner Fähigkeiten und Talente«, schloss Michelle ihren Vortrag und lächelte dabei so strahlend, als hätte sie gerade den Oscar für die beste weibliche Hauptrolle gewonnen. »Und natürlich auch auf deine persönliche Entwicklung und Entfaltung – in einem Umfeld, das dir Sicherheit, kreative Anregungen und das nötige Maß an Herausforderung bieten soll!«

Weil ich nicht wusste, was ich darauf sagen sollte, nickte ich wieder.

Gründlich ging Michelle dann mit mir die Gutachten und Empfehlungen der Lehrer meiner alten Schule und die Zeugniskopien durch, die Mam per Mail oder telefonisch angefordert und nach San Francisco weitergeschickt hatte, stellte mir Fragen nach meinen Hobbys und Interessen und was wir in welchem Fach zuletzt behandelt hatten, während sie nebenbei eifrig mit der Maus hantierte und auf die Tastatur einhackte.

»Sooo, das hätten wir«, frohlockte sie, klickte noch einmal abschließend mit der Maus, und der Drucker sprang an. Während er jammernd Blatt um Blatt bedruckte und ausspie, lehnte sie sich zurück und sah mich mit einem begeisterten Ausdruck an. »Dein Englisch ist wirklich ausgezeichnet, mein Kompliment!«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich bin zweisprachig aufgewachsen. Meine Mutter …« Dass Mam und ich zu Hause sowohl Deutsch als auch Englisch miteinander redeten, war für mich immer ganz normal gewesen, und auch Julia hatte es nie anders gekannt. Erst Sandra hatte sich darüber gewundert, und als ich Mam danach fragte, hatte sie mir erklärt, sie habe immer gewollt, dass ich nicht nur eine Muttersprache, sondern auch eine Vatersprache hätte. Ich für meinen Teil hätte lieber einen Vater gehabt, der auch tatsächlich da war.

Augenblicklich knipste Michelle ihr Lächeln aus und verzog stattdessen kummervoll das Gesicht. »Mein Beileid zu deinem großen Verlust, Amber! Das muss furchtbar schwer für dich sein!«

Ich klemmte die Unterlippe zwischen die Zähne und starrte auf den Rucksack zwischen meinen Füßen. Mein Verlust. Die Mutter verloren. Merkwürdige Ausdrücke dafür, was mir passiert war, dachte ich. Man konnte doch einen Menschen nicht verlieren wie einen Schlüssel oder einen Geldbeutel! Und noch viel weniger konnte man ihn suchen gehen und vielleicht wiederfinden. Mam kam nicht wieder, auch wenn ich manchmal nachts davon träumte. Dass sie mich in den Arm nahm und mir zuflüsterte, das sei alles ein großer Irrtum der Ärzte gewesen, aber jetzt sei sie wieder da, sie sei wieder gesund und würde nie wieder weggehen.

»Wir hier an der Jefferson High werden alles tun, was in unserer Macht steht, um dir in dieser schweren Zeit beizustehen«, hörte ich Michelle sanft sagen. »Um dir ein Stück Normalität zurückzugeben. Und um dir vielleicht ein neues Zuhause zu bieten.«

Obwohl sie klang wie die Schulprospekte, wirkten ihre Worte ehrlich gemeint; irgendetwas in meinem Gesicht geriet ins Zittern und in meinem Bauch fühlte es sich komisch an. Erst als Michelle auf ihre überschäumend gute Laune zurückschaltete, den Stoß Papier aus dem Drucker holte und unter genauen Erklärungen Blatt um Blatt vor mir ausbreitete, konnte ich wieder leichter atmen.